Völker in Sturmzeiten Nr. 10
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers
Sonnfag- Montag, 2. u. 3. Sept.
Maurice stirbt für die Kommune
Maurice beteiligt sich lebhaft an den Arbeiten der Kommune. Der Gegensatz zwischen ,, Pa ris " und ,, Versailles " verschärft sich immer mehr. Aber auch in der Kommune selbst machen sich Gegensätze und Eifersüchteleien bemerkbar. Aber vor allem ist es die gewaltsam betriebene Aushebung zur Nationalgarde, die eine wahre Flucht aus ihren Reihen veranlaßt. Zola schildert im vorigen Kapitel den allmählichen inneren Zusammenbruch des großartig begonnenen Werks.
Das Volk lebte noch immer nur von seinem Nationalgardistensold, den dreißig Sous, die aus den von der Bank von Frankreich requirierten Millionen gezahlt wurden, den dreißg Sous, für die viele sich schlugen und die eigentlich eine der Hauptursachen und den Existenzgrund des Aufstandes bildeten. Ganze Stadtviertel hatten sich geleert, die Läden waren geschlossen, die Häuser wie ausgestorben. In der hellen Sonne des wunderbaren Lenzmonats begegnete man in den verödeten Straßen nur noch dem wilden Prunke der Beerdigungen von Föderierten, die von dem Feinde getötet worden waren, Trauerzüge ohne Priester, die Särge mit roten Fahnen bedeckt, und dahinter die Menge, die Immortellensträuße trug. Die Kirchen waren geschlossen und verwandelten sich jeden Abend in Vereinssäle. Nur die revolutionären Zeitungen erschienen, man hatte die anderen unterdrückt. Das bedeutete die Zerstörung von Paris , dieses großen und unglücklichen Paris , das gegen die Nationalversammlung seinen Widerwillen als republikanische Hauptstadt bewahrte und in dem jetzt der Schrecken vor der Kommune, die ungeduldige Begierde, von ihr befreit zu werden, immer größer wurde angesicht der furchtbaren Geschichten, die man erzählte, von täglichen Verhaftungen von Geiseln, von Pulverfässern, die man in die Kanäle geschafft habe, wo angeblich Männer mit Fackeln wachten und nur auf ein Signal warteten.
Maurice, der niemals getrunken hatte, war nun von dem allgemeinen Rausch erfaßt, und er ging förmlich in ihm unter. Es kam jetzt manchmal vor, daß er, wenn er Dienst auf irgend einem vorgeschobenen Posten hatte oder die Nacht im Wachthause verbrachte, ein Gläschen Kognak annahm. Wenn er ein zweites annahm, geriet er, umweht von dea Alkoholdünsten, die ihm über das Gesicht strichen, außer sich. Das war die um sich greifende Seuche, die chronische Trunkenheit, die die erste Belagerung hinterlassen und die die zweite verschlimmert hatte, unter dieser Bevölkerung ohne Brot, die Schnaps und Wein in vollen Gläsern hatte und die nun, übersättigt von ein paar Tropfen in Delirium geriet. Das erste Mal in seinem Leben, am 21. Mai, einem Sonntag, kehrte Maurice betrunken gegen Abend nach der Ortiesstraße zurück, wo er von Zeit zu Zeit zu schlafen pflegte. Er hatte den Tag über noch in Neuilly verbracht, wo er sein Pulver verknallt und mit den Kameraden getrunken hatte, in der Hoffnung, die ungeheure Müdigkeit, die ihn bedrückte, überwinden zu können; dann hatte er sich, seiner Sinne nicht mehr mächtig, mit seiner Kraft zu Ende, von seinem Instinkt geleitet denn er konnte sich nicht erinnern, wie er zurückgekehrt war auf das Bett in seinem kleinen- Zimmer geworfen. Und erst am anderen Morgen, als die Sonne bereits hoch stand, weckte ihn der Lärm der Sturmglocken, der Trommeln und Trompeten. Am Abend zuvor hatten die Versailler bei Point- du- Jour ein verlassenes Tor gefunden und waren unbehindert in Paris einmarschiert.
-
Als er sich in Hast angekleidet, das Gewehr über die Schulter gehängt hatte und hinabgestiegen war, traf er eine Gruppe Kameraden auf dem Bürgermeisteramt des Bezirkes, die ihm die Ereignisse des Abends und der Nacht so verworren erzählten, daß es ihm anfangs schwer fiel, sie zu verstehen. Seit zehn Tagen, seit das Fort von Issy und die große Batterie von Montretout, unterstützt vom Mont Valérien, die Wallmauer beschlossen, war das Tor von Saint- Cloud unhaltbar geworden, und der Sturmangriff sollte am anderen Morgen stattfinden, als ein zufällig gegen fünf Uhr vorbei gehender Mann, der sah, daß niemand mehr das Tor bewachte, ganz einfach mit einem Wink die Wachtposten des Schützengrabens herbeirief, die sich kaum fünfzig Meter davon befanden. Ohne zu warten, waren zwei Kompanien des siebenundreißigsten Regiments einmarschiert. Hinter diesen kam das gesamte vierte Korps unter dem Befehle des Generals Douay nach. Während der ganzen Nacht waren die. Truppen in ununterbrochener Flut hereingeströmt. Um sieben Uhr stieg die Division Vergé gegen die Grenellebrücke hinab und rückte bis zum Trocadero vor. Um neun Uhr nahm General Clinchamp Passy und La Muette. Um 3 Uhr morgens lagerte das erste Korps im Boulogner Wäldchen, während zur selben Zeit die Division Bruat die Seine überschritt, um das Tor von Sévres wegzunehmen und dem zweiten Korps den Einmarsch zu erleichtern, das unter dem Befehl des Generals Cissey eine Viertelstunde später das Grenelleviertel besetzen sollte. Und so war am Morgen des 22. die Armee von Versailles Herrin vom Trocadero und von La Muette auf dem rechten Ufer und von Grenelle auf dem linken Ufer; und das alles inmitten der Verblüffung, des Zorns und der Verwirrung der Kommune, die bereits Verrat schrie und ganz bestürzt war bei dem Gedanken an die unvermeidliche Niederschmetterung.
Das erste Gefühl von Maurice, als er die Lage begriffen hatte, war, das Ende sei gekommen, es bliebe nur noch übrig, sich umbringen zu lassen. Die Sturmglocke läutete unaufhörlich, die Trommeln rasselten noch stärker, Weiber und selbst Kinder bauten an den Barrikaden, die Straßen füllten sich mit fieberhaft erregten Bataillonen, die in aller Eile vereinigt auf ihre Kampfposten liefen. Und von Mittag an entstand im Herzen der maßlos erregten Soldaten der Kommune die ewige Hoffnung wieder; sie waren entschlossen zu siegen, als sie sahen, daß die Versailler sich kaum gerührt hatten. Die Armee, die sie in zwei Stunden in den Tuilerien zu sehen gefürchtet hatten, ging, durch ihre Niederlagen klüger gemacht, mit außerordentlicher Vorsicht vor, und sie übertrieb noch die Kampfesweise, die die Preußen sie in so empfindlicher Weise gelehrt hatten. Im Stadthause organi sierten und leitete der Wohlfahrtsausschuß und Delescluze
die Verteidigung. Einem Gerücht zufolge hatten sie einen letzten Versöhnungsversuch verachtungsvoll zurückgewiesen. Das entflammte den Mut, der Triumph von Paris wurde neuerdings zur Gewißheit, der Widerstand sollte überall ein grimmiger werden, wie der Angriff ein unerbittlicher werden sollte, dank dem durch Lügen und Grausamkeiten gesteigerten Hasse, der im Herzen der beiden Armeen brannte.
Maurice verbrachte diesen Tag in der Gegend des Champ des Mars und des Invalidenhauses, um sich langsam unter beständigem Gewehrfeuer von Straße zu Straße zurückzuziehen; er hatte sein Bataillon nicht widerfinden können, er schlug sich mit unbekannten Kameraden, von denen er, ohne es zu merken, auf das linke Ufer geführt worden war. Gegen vier Uhr verteidigten sie eine Barrikade, die die Rue de l'Université bei deren Mündung auf die Invalidenesplanade absperrte. Und sie verließen sie erst in der Dämmerung, als sie erfuhren, daß die Division Bruat, die längs des Kais herangekommen war, sich des Parlamentsgebäudes bemächtigt hatte. Sie wären beinahe gefangen worden und erreichten nur mit großer Mühe die Lillestraße, indem sie einen großen Umweg durch die Saint- Dominique und die Bellechassestraße machten. Als die Nacht herniedersank, hielt die Armee von Versailles eine Linie besetzt, die von dem Tor von Vanves über das Parlamentsgebäude, den Elyséepalast, die Saint- Augustin- Kirche und den Bahnhof von Saint- Lazare bis zum Tor von Asniéres ging.
Der nächste Tag, der 23., ein Dienstag mit einer hellen, warmen Frühlingssonne, war für Maurice schrecklich. Die paar hundert Föderierten, denen er angehörte und unter denen sich Leute von verschiedenen Bataillonen befanden, hielten noch den ganzen Stadtteil vom Kai bis zur SaintDominiquestraße. Aber die meisten hatten in der Lillestraße biwakiert, in den Gärten der dort befindlichen großen Privathäuser. Er selbst war auf einem Rasenplatz beim Palast der Ehrenlegion in tiefen Schlaf gesunken. Am Morgen glaubte er, daß die Truppen vom Parlamentsgebäude hervorbrechen würden, um sie hinter die starken Barrikaden der Bacstraße zurückzudrängen. Allein die Stunden vergingen, ohne daß der Angriff erfolgte. Man wechselte immer nur von einem Ende der Straße zum andern vereinzelte Kugeln. Der wohlüberlegte Plan der Versailler, den sie mit vorsichtiger Langsamkeit entwickelten, ging dahin, nicht mit der Front auf die furchtbare Festung zu stoßen, welche die Aufständischen aus der Tuilerienterrasse geschaffen hatten. Sie hatten einen doppelten Umgehungsmarsch gewählt, links und rechts längs der Wälle, um sich zuerst des Montmartre- und des Observatoireviertels zu bemächtigen und sich dann auf das gemeinsame Ziel zu werfen, um alle Teile der inneren Stadt wie mit einem ungeheuren Fangnet in ihre Gewalt zu bekommen. Gegen zwei Uhr hörte Maurice erzählen, daß die dreifarbige Fahne auf dem Montmartre flattere. Die große Batterie von Moulin de la Galette war von drei Armeekorps, die ihre Bataillone westlich durch die Lipic-, die Saules- und Mont- Cenisstraße auf den Hügel geschickt hatten, gleichzeitig angegriffen und weggenommen worden. Und die Sieger überfluteten jetzt Paris , bemächtigten sich des Saint- Georges- und des Notre Dame de Lorette- Platzes, des Bürgermeisteramtes in der Drouotstraße und des neuen Opernhauses, während auf dem linken Ufer die vom Friedhof von Montparnasse ausgehende Schwenkung den Enferplats und den Pferdemarkt eroberten. Mit Verblüffung, Wut und Schreck wurden die Nachrichten über die so schnellen Fortschritte der Armee aufgenommen. Wie, Montmartre war in zwei Stunden gefallen? Montmartre , die glorreiche, uneinnehmbare Feste des Aufstandes? Maurice nahm gut wahr, wie die Reihen sich lichteten, zitternde Kameraden sich geräuschlos davonschlichen, sich die Hände wuschen und aus Furcht vor Gewaltmaßnahmen eine Bluse anzogen. Das Gerücht lief um, daß bei Croix Rouge eine Drehung sich vollzogen hätte und der Angriff vorbereitet würde. Schon waren die Barrikaden der Martignac- und Bellechassestraße genommen worden, und man sah die ersten Rothosen am Ende der Lillestraße. Es blieben nur noch die Ueberzeugten und Erbitterten übrig, Maurice und etwas über fünfzig andere, die entschlossen waren, zu sterben, nachdem sie möglichst viele Versailler erschossen hätten, die die Föderierten als Banditen behandelten und die Gefangenen hinter der Schlachtlinie erschossen. Seit gestern war der abscheuliche Haß gewachsen, es war der Kampf bis zur Vernichtung zwischen den Empörern, die für ihren Traum starben, und der Armee, die von reaktionären Leidenschaften glühte und außer sich darüber war, sich nochmals schlagen zu müssen.
Um fünf Uhr, als Maurice und seine Kameraden sich endgültig hinter die Barrikaden der Bacstraße zurückgezogen, indem sie feuernd von Tür zu Tür die Lillestraße hinabstiegen, sah er plöglich einen dicken schwarzen Rauch aus einem offenen Fenster des Palastes der Ehrenlegion herausdringen. Es war die erste in Paris gelegte Feuersbrunst, und in dem Sturm des grimmigen Wahnsinns, der ihn mit fortriẞ, hatte er eine wilde Freude darüber. Die Stunde hatte geschlagen, da die ganze Stadt wie ein riesiger Scheiterhaufen aufflammen, da das Feuer die Welt reinigen sollte. Aber ein plötzlicher Anblick versetzte ihn in Erstaunen: fünf oder sechs Männer stürzten eilig aus dem Palast heraus, an ihrer Spitze ein großer Bursche, in dem er Chouteau, seinen ehemaligen Zugskameraden vom hundertundsechsten Regiment erkannte. Er hatte ihn bereits nach dem 18. März mit einem Käppi mit Goldligen gesehen, und er fand ihn nun in noch höherem Range wieder, überall mit Goldligen geziert, dem Generalstah irgendeines Generals zugeteilt, der nicht kämpfte. Er
Einsiedlers Sehnsucht Von Friedrich Nietzsche
0 Lebens Mittag! Feierliche Zeit! O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten! Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit: Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt' s ist Zeit!' s ist Zeit! Im Höchsten ward für Euch mein Tisch gedeckt: Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Lichtes Abgrundsfernen? Mein Reich hier oben hab ichs mir entdeckt Und all dies mein. wards nicht für euch entdeckt? Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau Mit jungen Rosen,
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen Sich Wind und Wolke höher heut ins Blau, Naht euch zu spähn aus fernster Vogelschau
Da seid ihr, Freunde!" Weh, doch ich bins nicht, Zu dem ihr wolltet?
Ihr zögert, stauntach, daß ihr lieber grolltet! Ich bins nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht? Und was ich bin, euch Freunden bin ichs nicht? Ein anderer ward ich und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen. Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht, Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbärzonen, Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet, Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht. Ein schlimmer Jäger ward ich: seht, wie steil Gespannt mein Bogen!
Der Stärkste wars, der solchen Zug gezogen Doch wehe nun! Ein Kind kann jetzt den Pfeil Drauf legen: fort von hier! Zu eurem Heil!
Ihr alten Freunde! Seht, nun blickt ihr bleich, Voll Lieb und Grausen!
Nein, geht! Zürnt nicht! Hier könntet ihr nicht hausen! Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich Da muß man Jäger sein und gemsengleich. O Herz. du trugst genug!
Ihr wendet euch?
Stark blieb dein Hoffen! Halt neuen Freunden deine Türe offen, Die alten laß! Laß die Erinnerung!
Warst einst du jung. jest bist du besser jung! Nicht Freunde mehr, das sind, wie nenn ichs doch? Nur Freund- Gespenster!
Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster, Das sieht mich an und spricht wir warens doch?"
O welkes Wort, das einst wie Rosen roch! Und was uns knüpfte, junger Wünsche Band, Wer liest die Zeichen,
Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen? Dem Pergament vergleich ichs, das die Hand
Zu fassen scheut- ihm gleich verbräunt, verbrannt!-
0 Jugendsehnen, das sich miẞverstand! Die ich ersehnte,
Dich ich mir selbst verwand- verwandelt wähnte Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt: Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt!
O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten. Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit: Der neuen Freunde! Kommt!' s ist Zeit!' s ist Zeit!
( Gesammelte Briefe Bd. III, S. 243.) Aus Nietzsches Briefen an H. v. Stein.
erinnerte sich dessen, was man ihm erzählt hatte. Dieser Chouteau habe sich im Palast der Ehrenlegion niedergelassen und lebe da in Gesellschaft einer Geliebten in beständiger Schlemmerei; er strecke sich gestiefelt und gespornt auf den großen und kostbaren Betten aus und zertrümmere des Spasses halber die Spiegel mit Revolverschüssen; seine Geliebte fahre jeden Morgen unter dem Vorwande, ihre Ein käufe in den Hallen zu besorgen, in einem Galawagen aus und schaffe ganze Päcke gestohlener Wäsche, Stockuhren und selbst Möbel beiseite. Als Maurice ihn und seine Leute mit einer Petroleumkanne in der Hand laufen sah, empfand er ein Unbehagen, einen furchtbaren Zweifel, in dem er seinen ganzen Glauben schwankend werden fühlte. Das schreckliche Werk konnte also doch ein schlechtes sein, da solch ein Mensch daran mitarbeitete?
( Fortsetzung folgt.)