Völker in Sturmzeiten Nr. 14
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers
Der Evangelist Johannes
Von Carl Hauptmann
( Fortsetzung)
Er erfüllte mit einem wunderbaren, frommen, schwermütigen Tiefton die steinernen, langen Korridore, in denen Wärterinnen und Wärter hinhuschten. Und ein Irrer, den man vorbeiführte, begann aus seiner stolzen Gebärde in ein narrenhaftes Gelächter überzugehen. Und ließ sich nicht abhalten, dem Gesange des Strolches nachzuwiehern, bis der Evangelist Johannes um die Ecke verschwunden war. Der Strolch schritt mit den Rhythmen des Liedes in frommer Einigkeit verbunden.
Der Arzt hatte es sofort richtig erkannt.
Nur noch die Seele dieses verwahrlosten Menschen lebte und schwärmte. Sie wähnte sich offenbar eines heiligen Berufes voll.
Wie man den Strolch ins Bett brachte, redete er mit weiten Augen, daß er jetzt unschuldig wäre und ganz reingewaschen durch Jesu Blut. Aber er versicherte pfiffig blinzelnd, daß er früher einmal ein Sünder gewesen.„ Wer weiß?... vielleicht sogar ein Mörder... aber jedenfalls ein Dieb!"
Der Gendarm hatte zuerst an einen guten Fang gedacht. Es war in der Gegend ein Mord passiert. Ein junges Fabrikmädchen war einem verkommenen Lüstling zum Opfer gefallen. Und weil anfangs in dem Eichwalde die geflüsterten Worte des heiligen Vagabunden wie Geständnisse klangen, wie scheues Ausplaudern halber Wahrheiten, so hatte der Gendarm dem untersuchenden Arzte gleich eine solche Erwägung nahegebracht.
Aber der junge Arzt war ein Kenner, die Fantasien des Evangelisten waren zu feierlich. Seine Bekenntnisse zu geistig. Die Idee von der Reinwaschung schien ihn wie das wirkliche Handwaschen des Pilatus leibhaftig auszufüllen. Aber mit irdischen Wahrheiten hatte seine Fieberseele sonst nichts mehr zu schaffen.
Als der Strolch entkleidet im Bett lag, sah man, daß er ein ganz verhungerter Mann war. Er hatte offenbar schon tagelang keinen Biss n mehr zu sich genommen. Und der Enthaltsamkeits- und Sterbensrausch warf Kiefer und Gliedmaßen.
Aber Essen stieß er von sich.
Wie man ihm zu trinken reichte, trank er wie ein ausgetrockneter Schwamm. Sog er sich schweigend voll. Verstummten lange seine leidenschaftlichen Selbstgespräche. Und eine unbegreiflich lange Zeit sog er richtig, wie Pferde
Mensch aus Galiläa haben das Christuskreuz auf sich ge
nommen...
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An dieser Stelle riß der Brief ab. Die weiteren Seiten fehlten.
Der Arzt nahm den Brief an sich und betrachtete noch einmal den wunderlichen Heiligen, der jetzt eine Weile erschöpft und mit geschlossenen Augen dalag. Aber das Gesicht in Königswürde, als wenn ein Ueberwinder sich der Welt verschlösse. Während seine Pulse hoffnungslos hintrieben.
, Zu helfen ist nicht viel!" sagte der junge Arzt zum Pfleger, der in der weißen Leinwandkostümierung dabeistand.
..Fieber einundvierzig!" sagte der Pfleger. ,, Sehen Sie
er beginnt sein jähes Wortgeflüster mit dem trockenen, blutleeren Munde schon wieder!" Man kann nichts verstehen!" sagte der Pfleger.
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Man hätte gar nichts verstanden, wenn nicht der Strolch plöglich einen Frauennamen laut und mit erhobener Stimme ein paarmal herausgeschrien.
Der junge Arzt hatte den Brief noch einmal in die Hand genommen. Hatte auch das selbstgeschriebene Buch flüchtig aufgeklappt. Las auch eine Seite in dem Neuen Testamente. Und war dann wieder in das bleiche Christusgesicht vertieft, dessen Worte jetzt neu bei geschlossenen Augen hinrasten. ,, Beobachten Sie ihn gut...," sagte der Arzt sanft. Dann ging er, den Finger zwischen das Neue Testament gelegt, hinaus, setzte sich in sein Arbeitszimmer, sah Briefe auf seinem Schreibtisch liegen, legte das vergriffene Evangelienbuch des Strolches eine Weile aus den Händen. Griff es doch wieder und las.
..Er hatte keine Gestalt noch Schöne, da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte... Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit... Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg... fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen."
saugen. Und warf sich dann zum ersten Male in die Kissen Frischauf
zurück und schloß die Augen.
Er war offenbar zum Tode reif.
Die Brüche waren entsetzlich. Schwarzblau, wie exotische Gewächse. Zum Operieren war keine Zeit mehr. Und das heiße Auge des Mannes verlangte auch nichts mehr von irdischer Hilfe.
Aber sein Gesicht sah in den reinlichen Kissen noch wunderbarer aus. Ein leidender Christus. Ein Mensch mit der harten Stachelkrone des Schicksals. Und vielleicht auch schon mit einer heimlichen Glorie. So daß der junge Arzt das Bett des Kranken noch immer nicht verlassen wollte.
Der Arzt sah es jetzt genau, daß der Strolch ein Jude war. Es war das apollinisch jüdische Gesicht aus Galiläa. Voll Inbrunst.
Ein Sektierer im Flüstergespräch mit Gott konnte nicht heißer in sich hineinbeten. In seinen Händen und dem ganzen Leibe des Fremdlings zitterte ein Gebet wie eine jähe Naturkraft. Der Strolch lag in den Kissen, die langen Haarwülste ums hohlwangige Fleisch, mit unterlaufener Röte in den süchtigen Augen. Neu aufgescheucht. Gleichsam, als wenn er jetzt damit ränge, den Weg zu finden, der aus dieser Welt hinausführte.
Als der junge Arzt unwillkürlich die Kleider des Mannes noch einmal genauer durchfühlt hatte, waren irgendwo aus dem Rockfutter zwei Bücher zum Vorschein gekommen. Ein ganz vergriffenes Neues Testament und ein ebenso ver schmutztes, aber selbstgeschriebenes Buch. Zwischen dessen Blättern der junge Arzt einen längeren Brief fand, der offenbar von einer feinen Frauenhand geschrieben war. Und der ihn sofort lebhaft interessierte.
Er las:
,, Lieber Johannes! Auch Saulus wurde ein Paulus. Auch Sie waren einmal auf schlechten Wegen. Denken Sie nicht, ich meinte, daß Sie sich eines besonderen Verbrechens schuldig gemacht. Wir alle ohne Unterschied tragen an der großen Schuld der Welt. Wir alle ohne Unterschied sind Mörder des Geschaffenen. Wir alle sind auch noch immer die Diebe der Ehre und Liebe und des Ansehens des Nächsten auf allen Wegen. Darum ist diese Ihre Schuld an sich nur die allgemeine Schuld dieser Welt. Auch daß Sie ehemals ein jähzorniger, politischer Mensch waren, und in Ihrem heiligen Rußland als Jüngling unheilige Verschwörungen mitmachten, haben Sie längst in der Peter- Pauls- Festung in Ketten und Demut büßen müssen. Auch das Teil wird Ihnen der Himmel gegen das Konto Ihrer Feinde aufrechnen. Oh... dieser rätselhafte, göttliche Widersinn, in den wir alle verstrickt sind! Für Ihre Gewalttat für die Menschlichkeit wurden Sie dort natürlich ans Kreuz geschlagen.
Aber Sie wollen jetzt mehr als ein gewöhnlicher, sündiger Mensch sein. Sie wollen jetzt ein Heiliger sein. Lieber Johannes, jetzt werden Sie Ihr Herz noch ganz anders mit Ueberfülle Demut speisen müssen. Mit der Demut, die jeder Gewalttat und jeder Schuld sich gewissermaßen kühn in die Räder wirft. Sie aufhält mit dem allerentsagungsvollsten Mannes- und Wahrheitsmut. Jetzt werden Sie sich hinwerfen müssen wie ein gemeiner Stein. Mit der großen Tapferkeit der Selbstverachtung und Selbstvernichtung im Blute. Jetzt werden Sie die gemeinen Uebel, die das Menschenblut von Grund aus vergiften, in Ihrem Fleische und Ihrer Seele ganz erdrosseln. Werden ein Wahrheitssklave und Selbstverwerfer sein, der in sich Lüge und Tod bezwang. Und in tiefster Demut das ewige Banner der Menschenliebe vor sich in den Menschenkampf und in die Menschen perre hineinträgt. Sie
Deutsch von Max Bamberger Ich lebte mehr, als daß ich sang. Mir galt es, keck auf jedem Gang, Zu wecken und zu treiben. Im Vordertreffen fest zu stehn, Das hab' ich höher angesehn Als alles Verseschreiben..
Das Wahre, Starke wächst, gedeiht, Und sicher wird ihm Ewigkeit Auch ohne Druckerschwärze, Wer gar nicht an den Schriftsatz denkt Wer voll ins Leben sich versenkt, Singt sich dem, Volk ins Herze..
War mal ein Fest; wie mir gelehrt: Im Spanierland. Ein Bauernpferd Hielt auf dem Zirkusplatze. Ein Käfig ward hinzugebracht, Draus schlich ein Tiger lauernd, sacht: Dann duckt er sich zum Sage.
Die Menge klatschte, schrie im Braus. Der Tiger sprang, das Pferd schlug aus. Doch Blut floß nicht hernieder. Den Tiger seit- und rückwärts trieb Der bäurisch- plumpe Pferdehieb, Scheu streckt' er seine Glieder.
Aufheulen da die Männer grell, Die Weiber mit. Sie drängen schnell Zur Brüstung, pfeifen, zischen Wild stacheln sie des Tigers Mut Blut wollen alle sehen, Blut! Das Spiel begann vom Frischen.
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Die Menge klatschte, schrie im Braus Der Tiger sprang, das Pferd schlug aus, Die Blutgier ward betrogen.
Das Glück nahm sich des Pferdes an, Die Katze hielt der Huf im Bann; Grimm spannt' sie sich zum Bogen...
Wer siegte schließlich? fragt Ihr mich. Merkt auf!... Das Bauernpferd bin ich, Der Kampf ist nicht beendet. Wohl ist der Wahlplats euch bekannt: Die Stadt, wo gern so Mund wie Hand Dem Schauspiel Beifall spendet.
Ich kämpfe ohne jeden Haß. Und was ich liebe, freut mich baẞ, Macht's heißen Zorn auch rege. Weil meine Seele, weil mein Blut, Bei allen Schritten gleich in Glut, Sind grade meine Wege.
Hier stehe ich! Zu keiner Zeit Sind Menschengroll und Bitterkeit Zur Waffe mir geworden. Versagt den Funken Liebe nicht Mir, der nur für die Sache ficht Um dich, mein Land, mein Norden!
Freitag, 7. September 1934
In dem jungen Arzt ging das Gefühl um, als wenn ein leidender Heiland im Irrenhause gebettet läge. Er war heimlich ganz in das feierliche Betrachten des Schicksals ver strickt, das der Tod eben im entfernten Krankenzimmer vollenden wollte.
Der Arzt begann dann auch in dem selbstgeschriebenen Buche zu blättern und zu lesen. Es waren Bekenntnisse. Hastig mit Bleistift geschrieben. Die Schrift ganz ungleichmäßig. Und einzelne Buchstaben oft sehr groß.
Da stand geschrieben; auf der ersten Seite allein: ,, Namen habe ich nicht mehr."
Auf der zweiten Seite:
..Ursprünglich war ich ein Revolutionär." Auf einer folgenden Seite:
,, Wiẞt Ihr, was ein Revolutionär ist?... eine ganz reine, unschuldige Seele, die plötzlich entdeckt, daß die Menschheit ein grün bewachsener Pfuhl aller Laster ist. Und daß auch sie in diesem Sumpfe versinken soll... Verflucht voraus die hohe Meinung, womit der Geist sich selbst umfängt... oh, Du ewige Lebenslüge!"
Auf einer folgenden Seite stand:
,, Wißt Ihr, was ein Revolutionär noch ist?... eine ganz selige Person, von der Wahrheit besessen, daß die Liebe die alles heilende Wahrheit ist... oh, Jammer... oh, Geißel ... und die einen Dolch nimmt, um hinzugehen und die Lüge zu töten... mit dem Dolche wolltest Du die Lüge töten? mit dem Dolche wolltest Du die Wahrheit bringen?... oh, Du dreimal Verfluchter!"
Auf einer ferneren Seite:
,, Die Henker schlugen mich... daß mir Blut vor Schmerz aus dem Munde und vor Scham aus den Augen sprang und sie wollten meinen Kopf abschlagen... da bin ich auf Verbrecherflügeln entflohen... oh, das war wirklich ein Balancierkunststück... aus der Peter- Pauls- Festung heraus und über die Grenze zu kommen... und der bettelarme Student balancierte bis Wien ... und saß dann in Wien und mußte leben... also seinen Kameraden Ueberzieher und goldene Uhren stehlen..."
Hier waren plötzlich allerlei kleine Blattkonturen und Käfer gezeichnet. Und auf dem nächsten Blatte war eine Libelle mit großer Geschicklichkeit sehr naturgetreu abgebildet. Dann stand weiter:
,, Pah... ich stahl?... was?... ich wußte ja damals gar nicht, was Stehlen ist?... ich wußte ja damals gar nicht, daß Stehlen heißt, das eigene Blut mit der tiefsten Selbstver achtung sättigen, daß dann jeder Blutstropfen Gift ist... hahahaha... aber wie ich zu Dir, gütigste aller Mütter, kam ... da wußte ich es... mit diesem Geheimnis beladen kam ich ja zu Dir, gütigste aller Mütter... und spann fröhlich mein Schicksal weiter... oh, Du gütigste aller Mütter!"
An dieser Stelle hatte ein ausführlicher Name gestanden, der wie eine Adresse mehrfach untereinander geschrieben war. Aber alles war ausradiert. Auf dem nächsten Blatte hatte der Schreiber offenbar mit diesem Wiederholen der Adresse fortgefahren. Man erkannte zweimal die Worte: ,, An Frau Professor Aber auch hier war sonst alles weg. radiert. Und der Name und Ort war durch keine Lupe mehr in seinen Resten zu entziffern.
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Dann war im Schreiben wieder fortgefahren:
,, Deine Söhne waren Christen... wie ich ihnen vor Deiner Haustür in Jena meine Geschichte, sehr wunderbar demütig zurechtgemacht, erzählte... nämlich... bis nach Jena war ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis in Wien so fröhlich als Vagabund oder Handwerksbursche durchgedrun gen... da führten mich also Deine Söhne gleich als unschuldig Verfolgten, als russischen Märtyrer in Dein Haus... gaben mir ihr Bett. waren meine Brüder... und Deine Töchter meine Schwestern... und Du warst meine Mutter ... hahahaha... da hatte ich gleich Brot... da hatte ich Eure Liebe... da plauderte in mich Euer Denken... da streichelte mich Euer Glaube... hahahaha... daß ich je aufhören kann zu lachen, um diesen Satz hinzuschreiben hahahahahahahaha... meine Lüge behielt ich doch für mich ... hahahahahahahaha... ich hatte ja in Wien als ganz ge meiner Dieb Ueberzieher und goldene Uhren gestohlen und fünf Monate im Gefängnis gesessen... und meine Lüge behielt ich doch für mich..."
Und die Schrift wurde hier immer inniger und edler. Fast wie von einer Frauenhand schön.
,, Und liebte Euch, neue Brüder... und liebte Euch, neue Schwestern und liebte Deine feinen Hände, Mutter daß ich sie mir hätte können das Leben lang heilend auf mein gejagtes Herz pressen... und war selig in Eurer Gnade... und las mit Euch die höchsten Philosophien den göttlichen Platon... und las mit Euch sogar das Evan gelium... und zerbrannte heimlich mein Herz... und kroch heimlich wie ein Hund herum... hahahahaha. denn meine Lüge behielt ich doch für mich..."
Hier begann die Schrift hart und sinnlos groß zu werden. Gewissermaßen von einer ungebärdigen Hand geschrieben. ..Und wurde ganz in Eurer Liebe heimisch... manchmal richtig aufgescheucht in die Hoffnung, daß ich doch endlich die Kraft gewönne... daß ich doch endlich noch vor Euch hintreten würde, meine Sünde von Grund aus zu bekennen und zu sprechen: Ja, ja... ich war wirklich nur schon ein ganz gemeiner Dieb... ich habe wirklich mit niedrigster Selbstsucht meine Mitstudenten schamlos bestohlen... jetzt bekenne ich es auch wenn Ihr Eure Gnade von mir wendet... jetzt bekenne ich es... aber die Zeit kam nie... die Kraft kam nie... die Lüge saß eingefleischt in meinem Fleische... ich war ja ein Sträfling... ich war ja ein Dieb ... Ihr hattet ja nur einen verwahrlosten Strolch in Euer Haus aufgenommen... hahahaha... ich hatte Euch ja nur die Hauptsache verschwiegen... und Eure Liebe bedeutete mir jetzt schon die Seligkeit... ich wollte jetzt nicht mehr ein Verstoßener sein... einer, den vielleicht noch Christus am Kreuze angesehen... den die anderen einfach von ihrer Schwelle weisen... hahahaha hahahaha ich galt Euch ja schon als ein Philosoph..." ( Fortsetzung folgt.)
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