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Nr. 209 2. Jahrgang

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Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Sonntag/ Montag, 9./10 Sept. 1934 Chefredakteur: M. Braun

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Die Deutsche Freiheit" vecöffentlicht heute neues wichtiges Tatsachenma­tecial, auf Dokumente gestützt, über die Zu­stände in den deutschen Konzentrationslageen

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Stalins Sieg über Hitler

Vor der großen Wendung in Genf - Die Welt voller Mißtrauen gegen Berlin Sorge um Deutschlands Kriegspotential

Genf, 8. September.( Eigner Bericht.) Die Gespräche der hier eingetroffenen Delegationen und Journalisten bewegen fich um drei hochpolitische Gebiete: den Eintritt Sowjetrußlands in den Völkerbund, die Zuspigung im Saargebiet und den Nürn= berger Parteitag der Nationalfozialisten. Man zweifelt faum noch, daß die Geheimsißung des Bölkerbundsrates den Eintritt Rußlands in den Völlerbund und auch die Gewährung eines Ratssizes an diese Groß­macht ebnen werde. Die lange Aussprache zwischen dem französischen Außenminister Barthon und dem polnischen Außenminister Bed hat Polens Bedenken zwar nicht be­hoben, aber zurückgedrängt. Es scheint, daß Polen feine grundsäglichen Einwendungen mehr erhebt und die Ein­ladung der Mächte an Rußland zum Eintritt in den Völker­bund bevorsteht. Man erörtert lebhaft die große außen­politische Niederlage, die sich dadurch Hitlerdeutschland von neuem vor aller Welt zugezogen hat. Es begründete sein Regime mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bolschewismus und glaubte damit, in der Welt moralische Eroberungen zu machen, und nun steht Hitlerdeutschland isoliert und geradezu verachtet vor den Portalen des Völker= bundspalastes, während die Sowjetunion feierlich Einzug hält. Daß dieses Ereignis die Außenpolitik des dritten Reichs" namentlich im Hinblick auf den Ostpakt noch mehr erschwert, ist flar.

Sehr starken Eindruck hat die Saardenkschrift des französischen Außenministers Barthon gemacht und allgemein dringt nun die Meinung vor, daß die Sicherung der freien Abstimmung im Saargebiet und der Schutz vor terroristischen Ueberraschungen ernste Maßnahmen des Völkerbundes und feiner Regierungskommission im Saargebiet erfordern. Diese Ueberzeugung wird sich noch feftigen, wenn das dritte Reich", wie nach seinem Presselärm anzunehmen ist, Verhand=

Inngen über die mit dem Saarproblem verbundenen wirt­Inngen über die mit dem Saarproblem verbundenen wirt schaftlichen und politischen Fragen, wie sie in der erwähnten Denkschrift fachlich und höflich umrissen werden, brüst und unsachlich ablehnt. Dann wird auch dem Harmlosesten klar, unsachlich ablehnt. Dann wird auch dem Harmlosesten flar, daß die Saar für das dritte Reich" nur ein Mittel zur Auf­peitschung der nationalsozialistischen Leidenschaften und zur Bertiefung der Gegenfäße zwischen Deutschland und Franks reich ist.

Die efftatischen Reden Hitlers in Nürnberg behandelt man mit Achselzucken, unterhält sich jedoch lebhaft über das euro­päische Problem, das durch die Militarisierung eines ganzen Volkes im Herzen Europas entstanden ift. In Wahrheit seien mindestens 5 Millionen junger Männer in Deutschland körperlich trainiert und militärisch geschult. Die Jugend beider Geschlechter werde organisatorisch unter einen einheitlichen Staatswillen erfaßt, der zugleich auf Koften seiner Auslandsverpflichtungen im schnellsten Tempo seine triegerische Rüftung vollende, Keine Macht Europas habe ein so starkes industrielles, geistiges und organisatorisches Kriegs: potentiell aufzuweisen wie das national: sozialistische Deutschland . Zu dieser materiellen Macht kommen die wachsende Verhegung der in schlechter Lebenslage fich befindlichen Massen gegen das Ausland, welches mehr und mehr dafür verantwortlich gemacht werde, daß die wirtschaftlichen Versprechungen des Systems nicht erfüllt werden könnten. Sowohl der Führer" wie sein Wirtschaftsdiktator Schacht schleuderten solche Anklagen immer wieder in das Volt, um ihre eigene Ratlosigkeit zu verbergen. Weder sei die deutsche Revolution zu Ende noch sei die Gefahr nationalsozialistischer Expansionsaktionen über die Grenzen des Reichs hinans gebannt, und so ist denn die Stimmung in Genf gegenüber Hitlerdeutschland sorgenvoller und mißtrauischer, als die jemals bei einer Völferbunds: tagung der letzten anderthalb Jahre war.

Diktatoren gegeneinander

Sturz Hitlers nach 14 Tagen Preẞfreiheit"

Rom , 8. Sept.( Inpreß.) In der Polemit zwischen der deutschen und italienischen Presse, die von Kennern des Fa­schismus geführt wird, schreibt der Gorriere d'Italia": Wir sind der Ansicht, daß ein wenig Analphabetismus immer noch besser sei, als das unaussprechliche Laster, von dem bekanntlich die verantwortlichen Kreise des dritten

Reiches" verseucht sind. Vierzehn Tage Pressefreiheit würden genügen, um gräßliche Dinge, von denen das Ausland keine Ahnung hat, an den Tag zu bringen und die Regierung zu stürzen. Die Zahl der unbedingten Anhänger der gegen­wärtigen Regierung wird auf ungefähr 25 Prozent, die Zahl der unversöhnlichen Gegner ebenfalls auf 25 Prozent ge­schätzt. Die übrigen 50 Prozent sind Menschen, die hinter der Regierung stehen, weil sie keinen Ausweg sehen."

Lebenslage fich befindlichen Maſſen gegen das Ausland, Oit kopiert, nic erreicht

Ausdehnung der Hunger- Zwangswirtschaft

Allgemeine

Neue Ueberwachungsstellen für Einfuhr Einschränkung der Arbeitszeit in der Textilindustrie

Berlin , 8. Sept. Auf die Verordnung über den Waren­verfehr" stützt sich bereits eine im Reichsanzeiger" ver­öffentlichte, vom Reichswirtschaftsminister und Reichs­ernährungsminister gemeinsam unterzeichnete Verordnung über die Errichtung von Ueberwachungs= stellen". Es ergibt sich daraus, daß nunmehr zehn neue leberwachungsstellen errichtet werden. Außerdem werden vier Reichsstellen, denen seither die zentrale Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Erzeug­nisse oblag, in Zukunft gleichzeitig auch die Funktionen von Einfuhrüberwachungsstellen ausüben. Daneben Lleiben die elf seit dem Frühjahr bereits errichteten Ueber­nachungsstellen aufrechterhalten. Eine von ihnen, die bis­berige Ueberwachungsstelle für Felle und Häute, er­hält, wie aus der Aenderung ihrer Bezeichnung in Ueber­wachungsstelle für Lederwirtschaft" hervorgeht, einen erwei­terten Aufgabenfreis. Insgesamt sind also 25 Ueber= wachung 3 ft e II en vorgesehen. Sie dürften lückenlos alle für die Einfuhr in Betracht kommenden Waren erfassen, zu­mal eine der neuen Stellen nicht auf bestimmte Erzeugnisse spezialisiert, sondern für waren verschiedener Art zuständig sein soll. Die neuen Ueberwachungsstellen werden errichtet: für Holz( Sitz: Berlin ), für Gartenbauerzeugnisse, Getränke und sonstige Lebensmittel, für Kohle und Salz ( Berlin ), für Mineralöl( Berlin ), für Chemie( Ber­Im), für eide, Kunstseide, kleidung und ver wandte Gebiete( Berlin ), für Rauchwaren( Leip­sig), für Papier ( Berlin ), für technische Erzeug­nisse( Berlin ) und schließlich, wie schon erwähnt, für aren verschiedener Art( Siz: Berlin ). Als Ueberwachungsstellen für die ihnen zugewiesenen Waren werden ferner bestimmt: die Reichsstelle für Ge= treide, Futtermittel und sonstige landwirtschaftliche Er­zeugnisse, Geschäftsabteilung( Berlin ), die Reichsstelle für Tiere und tierische Erzeugnisse( Berlin ), die Reichsstelle für Dele, Fette( Berlin ), die Reichsstelle für Eier

( Berlin ).

Die in der Verordnung enthaltene Aufzählung der schon vorhandenen Stellen gibt einen Ueberblick über die

auf dem Weg der Einfuhrüberwachung bisher zurüd­gelegte Strecke. In der für die Verordnung gewählten

Reihenfolge handelt es sich um folgende Stellen: Ueber­wachungsstelle für Tabak( Sib: Bremen, errichtet durch Verordnung vom 27. August), für industrielle Fettver sorgung( Berlin , 6. Juli), für Wolle und andere Tierhaare( Berlin , 26. März), für Baumwolle ( Bremen , 26. März), für Baumwollgarne und Ge­webe( Berlin , 17. August), für Bastfasern ( Berlin , 26. März), für Fette und Häute( Berlin , 9. April), für Kautschuf und Asbest( Berlin , 9. Mai bzw. 27. August), für Ruß( Berlin , 17. August), für unedle Metalle ( Berlin , 26. März), schließlich für Eisen und Stahl ( Berlin , 13. August).

Selbst die Heimarbeit

München , 8. Sept. Auf Grund eines Ersuchens, das der Sondertreuhänder der Heimarbeiter für die Textilarbeiten im Gebiet des Deutschen Reiches an den Treuhänder der Arbeit in Bayern gerichtet hat, gibt dieser bekannt, daß die Verordnung zur Ergänzung der Faserstoffverordnung vom 17. August 1934 sich nunmehr auch auf Betriebe beziehe, die nicht der Arbeitszeitverordnung unterliegen. Danach gilt in Zukunft auch für die hausgewerblichen Familiens betriebe sowie für die Heimarbeitter und Heimarbeiterinnen die Verpflichtung zur Einschränkung der Arbeitszeit, soweit Rohstoffe verarbeitet werden, die der öffentlichen Bewirt­schaftung unterliegen. Entsprechend dieser neuen gesetzlichen Reglung sollen die Betriebsführer an die Hausgewerbe­treibenden und Heimarbeiter die Arbeit im gleichen Ver­hältnis ausgeben wie an die Betriebsarbeiter. Die für die Betriebsarbeiter wegfallende Arbeit darf in keinem Fall durch zusätzliche Heimarbeit oder Hausgewerbetreibenden Arbeit ersetzt werden. Die Anordnung ailt für das ganze Reich

Der Schrankenwärter der Revolution

In diesen Tagen von Nürnberg hat Dr. Goebbels eine Propagandarede für sein Propagandaministerium ge­halten. Er pries seine Schöpfung mit dem Satze: Oft kopiert, nie erreicht." Wir erinnerten uns, dieses Wort schon einmal gehört zu haben. Vor mehr als zehn Jahren kamen aus Amerika die Tillergirls, die infolge der faszinierenden Linien ihrer Beine Europa bezauberten. Jhr Manager verbreitete fauftgroß auf allen Reklame­tafeln die These, die sich jetzt der Propagandaminister zum Ruhme seiner Tätigkeit angeeignet hat: Oft kopiert, nie erreicht." Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß sich Herr Goebbels in Nürnberg der Tillergirls erinnerte. Denn dieser Parteitag war eine nie dagewesene, nie zu kopie­rende, nie zu erreichende Ausschweifung des Rhythmus der Glieder, exekutiert nach hämmernder Musik.

Nun ist das große braune Fest bald vorüber. Noch wehen aber die Milizen marschieren ab und die Autoparks in dieser Stunde die Fahnen, noch baumeln die Girlanden, werden kleiner. Wer in diesen Tagen kraft der Selbst­dröhne und das Gedudel nicht aus den Ohren, die Tritte überwindung am Lautsprecher saß, bekommt das Ge­

der Bataillone, die Hymnen der Ansager, die wilddräuende Stimme des Führers. Der Effektenbestand an national sozialistischem Lärm ist so groß, daß die Bilanz einige Mühe macht.

Wir wollen uns nicht damit begnügen, über den riesen­haften politischen Lunapark in der fränkischen Hauptstadt zu spotten. Eine solche Nachlese wäre lustig, aber unfrucht­bar. In Nürnberg erlebte man den lautesten Ausdruck der Massenfuggeftion eines Volkes. Es ist durch seine gegen­wärtigen Machthaber in den Zustand einer bisher nie er­lebten Ueberhitze der seelischen Konstitution und des erfaß­baren Denkens emporgesteigert worden und braucht in solcher Lage immer wieder den Rausch. Auf diesen Fest. der Idee, bezaubert von den Kommandeuren. In diesen wiesen marschierten Millionen im Geiste mit, verschworen Menschen hat sich alles verschoben, die Betrachtungsweise öffentlicher und privater Dinge, ihre Reaktionsfähigkeit in bezug auf Glauben und Denken, ihr durch Generationen bewahrtes moralisches Maß. Es ist etwas Wahres an dem Worte, daß das deutsche Volk im Aufbruch" sei. Es sitzt, es steht nicht mehr, es läuft ohne genau zu wissen, wohin der Weg denn gehe, unter Marschmusik immer dem Führer" nach.

Nun aber ist eine große Gegenorder gekommen. Hitler hat in Nürnberg befohlen: das Ganze halt! Jetzt hat der Nationalsozialismus die Macht erobert. In den nächsten tausend Jahren darf in Deutschland keine Revolution mehr stattfinden! Hitler ordnete zugleich den Abschluß des nervösen Zeitalters des neunzehnten Jahrhunderts" an. Geborgen unter den Fittichen des dritten Reiches", glücklich in seinem Unterworfensein unter die unabsetzbare Führerelite, der Freiheitsrechte beraubt im totalen Staat