Völker In Sturmzeiten Nr. 17
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung im Geiste des Sehers Abobl
Dienstag, 11. September 1934
Es war im Herbst 1906. Da ging ein brausendes Gelächter durch ganz Deutschland und setzte sich fort in der ganzen Welt. Der Schuster und Zuchthäusler Wilhelm Voigt hatte in einer geliehenen Hauptmannsuniform einige Soldaten auf der Straße ,, requiriert" und war mit ihnen von das Rathaus in Köpenick gezogen, wo er den Bürgermeister Dr. Langerhans gefangennahm, unter militärischer Bedeckung nach Berlin bringen ließ und, durch nichts anderes legitimiert als durch seine schlechtsitzende und unvorschriftsmäßige Uniform, einen Teil der Rathauskasse an sich nahm. Einige Tage später wurde er verhaftet. In der späteren Gerichtsverhandlung, in der Wilhelm Voigt zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt wurde, entrollte sich das Schicksal eines gehetzten Strafentlassenen, der dem grotesken Geniestreich von Köpenick einigen Schimmer von menschlicher Tragik gab und alle Welt mit Wilhelm Voigt versöhnte. Die Kosten hatte der militärische Kadavergehorsam altpreußischen Geprägs zu tragen. Seitdem spricht man von ,, Köpenickiaden". Carl Zuchmayer schrieb sein Drama ,, Der Hauptmann von Köpenick, ein deutsches Märchen". Auch der Film nahm sich des unsterblich gewordenen Themas erfolgreich an.
Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus zog Wilhelm Voigt nach Luxemburg , wo er einen friedlichen Lebensabend verbrachte. Noch zu seinen Lebzeiten erschienen seine ,, Memoiren". Es war ein ungeheurer Bucherfolg. Wir drucken die entscheidenden Kapitel ab, die ein vortreffliches Bild des Menschen, seiner Motive und seiner Zeit ergeben. Ein deutsches Märchen, vor 28 Jahren... Aktuell vor allem durch die Entblößung des übersteigerten, der Auflösung entgegenreifenden Militarismus, der heute wieder die Sehnsucht von Millionen Deutscher geworden ist.
Ich hatte mir vorgenommen, gar nicht erst eine Anstellung in einem Betriebe innerhalb des Deutschen Reiches zu suchen, sondern vielmehr direkt entweder nach OesterreichUngarn oder Rußland zurückzukehren.
Um diesen Plan ausführen zu können, bedurfte ich eines Passes.
Nach den mir bekannt gewordenen Bestimmungen hätte mir das Landratsamt Rawitsch einen Paẞ verabfolgen
müssen.
Auf meine Eingabe dahin wurde ich ablehnend beschieden, ohne Angabe der Gründe.
Der Paß wurde mir verweigert!
Ich wandte mich nun weiter rückwärts an meinen letzten Aufenthaltsort in Posen. Auch das Polizeipräsidium in Posen verweigerte mir den Paß ohne Angabe
eines Grundes.
Hierauf wandte ich mich an meinen Geburtsort in Tilsit . Und hier, ebenfalls ohne einen Grund anzugeben,
verweigerte man mir den Paß zum dritten
Male!
Ich suchte bei der Strafanstaltsdirektion um Auskunft darüber nach, warum mir denn der Paß verweigert würde, und die Direktion erklärte mir, sie könne sich den Grund auch nicht erklären.
Kurz vor der Entlassung suchte ich nun um die Fürsorge für entlassene" Gedie Fürsorge für fangene" nach. Auch sie wurde mir abge
Tehnt! d nitroff
Schließlich wandte ich mich an den Geistlichen der Anstalt, und durch diesen erhielt ich eine Stellung als Maschinenmeister im Betriebe des Hofschuhmachers Hillbrecht in Wismar in Mecklenburg .
Hierzu muß ich bemerken, daß vor der Entlassung ein behördlicher Briefaustausch zwischen dem Orte, an welchem der Gefangene eintrifft, und der Abgangsanstalt stattfindet. Die Behörde in Wismar hatte also immer Zeit, wenn sie irgendwelchen Anstoß an meinem Zuzug in ihren Ort nahm, sich mit der Anstaltsdirektion in Verbindung zu setzen resp. den Zuzug abzulehnen. Nichts von alledem geschah.
Ich wurde mit den notwendigen Papieren für Wismar ver. sehen und aus der Anstalt entlassen.
Am Morgen der Entlassung übergab mir der Hausvater der Anstalt die näheren auf meinen Prozeß bezüglichen Briefe und Entscheidungen, die mir so schweren jahrelangen Kummer und Sorgen bereitet hatten.
Ich stand vor der Entscheidung, ob ich den alten Streit begraben oder unversöhnt in die Freiheit zurückkehren wollte.
Das erstere zog ich vor!
Mit einem Schritt trat ich zum lodernden Ofen. Ein Wurf versenkte das Aktenbündel in die Flammen. Fünf Minuten später öffneten sich mir die Tore zur Freiheit.
Wohl kaum ist jemals ein Mensch mit festerem Entschluß, sich den Forderungen der Gesellschaft in allen Dingen anzubequemen, der Freiheit entgegengegangen!
Ich traf am 13. Februar 1906 in Wismar ein, betrat mit einem gewissen Zagen den Laden und die Geschäftsräume meines zukünftigen Brotherrn.
In anheimelnder Weise wurde ich aufgenommen, zunächst mit Speise und Trank erquickt, mir ein eigenes Zimmer angewiesen und gleich die Mitteilung gemacht, daß ich mich vollständig als zur Familie gehörend betrachten sollte.
Nach einer guten Stunde besorgte ich die notwendigen Anmeldungen auf dem Polizei- und Gewerbeamt. Dabei wurde mir noch besonders erklärt, daß ich von seiten Wis mars. keine Belästigung durch die Polizeiorgane erfahren sollte. So wurde mir wirklich leicht ums Herz.
Als ich nach Hause gekommen und mich umgekleidet, wurde ich durch meinen nunmehrigen Chef in die Geschäftsund Fabrikräume geführt und dem Personal als Maschinenmeister vorgestellt.
Meiner wartete viel Arbeit, denn der Maschinenbetrieb stand dort noch in den Anfängen, und der Herr Hillbrecht machte bald die Erfahrung, daß er in mir eine zuverlässige Kraft gefunden hatte.
Noch an demselben Abend besprachen wir im engen Familienkreise das weitere Geschäftliche, das zu beiderseitiger Zufriedenheit von uns in cinem gesunden Abkomme
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festgelegt wurde. Somit war ich in den Arbeits- und Familienkreis aufgenommen.
Besonders gut verstand ich mich schon nach kurzer Zeit mit dem ältesten Sohn meines Brotherrn, der seinen Vater in jeder Beziehung vertrat. Er hatte auch schon sein Brot in der Fremde gesucht, war, was Fabrikation und Betrieb anbetrifft, sehr gut ausgebildet und erfreute sich in seinem Heimatsorte eines vorzüglichen Rufes.
Seinem Vater gegenüber hatte er einen sehr schweren Stand. Dieseer war, was man einen Selfmademan nennt, und wenig geneigt, die modernen Umänderungen in seinem Betriebe vorzunehmen, wie sie ein flotter amerikanischer Betrieb notwendig macht. Er wollte meist am unrechten Orte sparen. Wenn durch seine Hartköpfigkeit etwas vorbeigelang, so schob er stets die Verantwortung dafür auf die Schultern seines Sohnes.
Ich konnte dem Vater nun aus Gründen der Wahrhaftig. keit und Nützlichkeit durchaus nicht immer recht geben, sondern mußte mich oft auf die Seite seines Sohnes stellen. Und es ist gewiß ein gutes Zeugnis für alle Beteiligten, daß diese sachlichen Auseinandersetzungen niemals zu persönlichen Mißhelligkeiten führten.
Wir legten gewissermaßen, wenn wir abends die Geschäftsräume verließen, alles, was zum Geschäft gehörte, ab, und es entspann sich dann ein schönes, heiteres Familienund Gesellschaftsleben, wie es in den besseren mecklenburgischen Familien so sehr geschätzt wird.
An mich trat bald auch, wie überall, die Kommunalbehörde mit ihren Steuerforderungen heran. Zunächst die Stadt mit ihrer Stadtkommunalabgabe, dann auch der Staat mit seiner Staatskontribution. Ich habe die Forderungen stets in ordnungsmäßiger Weise berichtigt, die Staatssteuer. sogar bis einschließlich 30. September 1906.
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Kein Erbarmen!
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Hier beginnt eigentlich schon der Tag von Köpenick ! Der mecklenburgische Staat hat von mir die Staatssteuer für die Zeit bis zum 30. September 1906 erhoben. Ich glaubte deshalb den Schutz und die Nutznießung seiner Einrichtungen für diese Zeit auch für mich in Anspruch nehmen zu Deshalb fühlte ich mich durch die Ausweisung schwer
verletzt.
Vorläufig aber wollte ich noch einmal versuchen, ob nicht für mich an einem anderen Orte sich ein neuer Wirkungs
kreis erschließen würde.
Da machte ich denn zunächst eine Reise nach Prag . Von meinen alten Freunden fand ich niemand mehr vor, aber noch, und die Verhandlung, die ich wegen Wiedereinstellung der Betrieb, in dem ich seinerzeit gearbeitet hatte, existierte anknüpfte, führte anscheinend zu einem guten Resultate
wenn nur das eine nicht gewesen wäre, daß ich mich unmöglich in Prag anmelden konnte.
Ich fuhr zunächst nach Breslau , von dort nach Berlin , aber auch hier ohne Erfolg. Als ich wieder von Berlin nach Hause, d. h. nach Tilsit fahren wollte, fiel mir ein, mich doch einmal nach dem Verbleib meiner älteren Schwester zu erkundigen. Ich begab mich also auf das Einwohnermelde
amt. Dort wurde mir die erfreuliche Mitteilung, daß meine Schwester in Rixdorf wohne und an einen Buchbinder verheiratet sei.
Ich flog mehr als ich ging die Treppen hinunter und eilte, so schnell ich konnte, nach Rixdorf hinaus.
Hier fand ich nach fünfundzwanzig Jahren meine Schwester wieder! Natürlich hatten wir uns viel zu erzählen! Ich vermied es jedoch, sie über die wunden Punkte in meinem Leben aufzuklären. Wozu auch?! Sie hatte ihr bescheidenes Auskommen, konnte mir aber gewiß nicht helfend beispringen. Nachdem ich einige Tage bei ihr geweilt, besuchte ich meine Heimat. Mit Mühe erfragte ich den Aufenthalt meiner Stiefmutter, Es war ja jetzt 17 Jahre her, daß wir nichts mehr voneinander gesehen und gehört hatten. Hier fand ich Tränen. Mein Vater war vor 10 Jahren und mein Stiefbruder vor 17 Jahren, kurz nach meinem Besuche, gestorben. Notdürftig schleppte sich die Frau durchs Leben, von dem früheren Wohlstande unserer Familie war nichts geblieben als die Erinnerung. ba
Bei einem Besuche meiner Verwandten wurde mir mitgeteilt, daß auch die Polizeibehörde in Tilsit sich's hatte angelegen ein lassen. kurz vor meiner Entlassung aus der Anstalt Rawitsch mein Bestreben, mir einen Paß zu verschaffen, unter die Leute zu bringen.
Da so auch auf Arbeit in Tilsit nicht zu rechnen war, beschloß ich zunächst, noch einmal Potsdam aufzusuchenUnd weil ich mein Geld nicht ganz aufbrauchen wollte, entschloß ich mich zu der verhältnismäßig niedrigsten und schwersten Arbeit: ich habe damals in Potsdam Kohlen abgetragen.
Ich glaube, auch dadurch habe ich bewiesen, daß ich keineswegs zu den arbeitsscheuen Leuten gehöre. Leider waren meine körperlichen Kräfte den Anstrengungen nicht gewachsen. Mein Rücken war vollständig wund gedrückt, eine rohe, blutige Masse, so daß mir meine Kleidungsstücke darauf klebenblieben. Ich mußte die Beschäftigung einstellen. An einem Sonnabendabend fuhr ich wieder zurück
Die Polizeibehörde hat indessen ihr Ver in einer Schuhfabrik in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs nach Berlin , und es glückte mir gleich am Sonntagmorgen, als Maschinist Stellung zu finden.
sprechen, das sie mir gegeben, nicht gehalten, sondern ist durch ihre unnötigen Nachfragen bei meinem Chef sehr lästig geworden.
Nur das gute Verhältnis, in dem ich zu der Familie und den übrigen Bewohnern Wismars stand, hatte es verhindert, daß nicht rein aus diesen Nachfragen eine Störung meines Aufenthaltes in Wismar stattfand.l
Während meines Aufenthaltes habe ich auch an meine Schwester nach Köln geschrieben. Ihr Geburtstag fiel gerade in diese Tage, und obwohl sie von Köln verzogen war, hat mein Brief sie doch erreicht.bab, anesota In ihrem Antwortschreiben bewegten Inhalts teilte sie mir in gedrängter Kürze mit, wie es ihr in der Zeit, wo wir uns nicht mehr gesehen und geschrieben hatten, ergangen war. Ein weicher, warmer Ton durchwehte ihren Brief. Die alte, doch dreißig Jahre schlummernde Geschwisterliebe war wieder zum Durchbruch gekommen, und der Brief hat mir damals sehr wohl getan.
Auch jetzt bin ich meiner Schwester nicht durch Darlegung meiner Leiden lästig gefallen. Ich wünschte durchaus nicht, sie in den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder durch den Inhalt meiner Briefe und durch die daraus sich ergebenden Schlüsse herabzusetzen...
Mir war genug, daß ich noch eine Schwester hatte und daß sie an mich dachte. manisa
Wohl hoffte ich im stillen auf eine Unterstützung durch meine Cousine, die unverheiratet. geblieben und, wie ich glaubte, in Besity eines beträchtlichen Vermögens war. Aber ich scheute mich, sie um etwas anzugehen.
Ich glaubte mich ja in Wismar geborgen. Und da meine Bedürfnisse verhältnismäßig gering sind, lag bei mir auch eigentlich keine Veranlassung vor, irgendwelche Hilfe zu
erbitten.
Da kam, allen unerwartet, plöglich mein Ausweisungsbefehl aus Wismar !
Meine Aufführung in Wismar war, wie ja auch später von behördlicher Seite bekundet wurde, durchaus einwandfrei. Dessenungeachtet erfolgte meine Ausweisung aus Wismar und den mecklenburgischen Staaten.
Verkündet wurde mir dieselbe nicht durch den Polizeisekretär, sondern durch einen uniformierten Beamten ohne Angabe des Grundes.
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Nun hatte ich zwar Arbeit, aber wie sollte es mit der Anmeldung werden? Ich wohnte zunächst in der Nähe meines Arbeitsplatzes in der Herberge zur Heimat. Aber das ließ sich auf die Dauer nicht durchführen. Erstens mußte ich früher aufstehen, um rechtzeitig auf meinen Arbeitsplat zu kommen, und dann würde es aufgefallen sein, wenn ich bei meinem Einkommen in der Herberge wohnengeblieben
wäre.
Da ich nun wußte, daß Berlin in der Aufnahme von ,, Entlassenen" sehr vorsichtig ist, so wollte ich sehen, ob ich nicht von Rixdorf aus, indem ich dort Wohnung nahm, rechtzeitig in Berlin zur Arbeitsstätte eintreffen konnte.
Ich fahr also zu meiner Schwester, um mit ihr Rücksprache darüber zu nehmen. Das Ergebnis war, daß sie mich aufforderte, zu ihr hinauszuziehen. Dieses Anerbieten war mir natürlich sehr angenehm, hatte ich doch in meinen Muẞestunden einen richtigen Anschluß, und Schwesterhände sorgen auch in anderer Beziehung besser als fremde. Zudem hatte sie auch keine Kinder bei sich, ihr Mann lebte als Privatier, so daß für alle Teile viel Annehmlichkeiten herauskamen. Ich hatte nur große Furcht, daß die Polizeibehörde in Rixdorf mir auch Schwierigkeiten machen würde. Doch darauf mußte ich es jetzt ankommen lassen. Meine Anmeldung fand in ordnungsmäßiger Weise statt, und zunächst wurde ich weiter nicht behelligt. Etwa nach vierzehn Tagen wurde ich auf das Revierbüro geladen, weil jeder Zuziehende über seine Familie und sonstigen Verhältnisse Auskunft zu geben hat.
Bei dieser Protokollierung meiner Angaben erfuhr ich nun, daß die Berliner Behörde über meine Ausweisung bereits unterrichtet war, und der protokollierende Beamte meinte bedauernd, daß wohl auch in Berlin der gleiche Fall eintreten würde. Ich wies darauf hin, daß ich in einem festen Arbeitsverhältnisse stände, daß ich bei meiner Schwester wohnte, deren Mann unbescholten wäre- alles blieb ohne Einfluß!
Vier Wochen später wurde ich aus Berlin ausgewiesen!
Aber Berlin gab mir für sich und die dreißig im Ausweisungsbefehl angeführten Ortschaften vierzehn Tage Zeit. besh( Fortsegung folgt.),