Pan
Freiheit
Nr. 211 2. Jahrgang
Dec Führer über sich selbst
Ein illegaler Flugzettel
Seite 2
Seite 4
Faschismus und Nazismus
Seite 7
Wie ein Franzose uns sieht
Seite 8
Chefredakteur: M. Braun
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Mittwoch, 12. Sept. 1934
Eine geschichtliche Lehre
Genf, 11. September.
Nachdem in der geheimen Ratssitzung die Einigung über die Gewährung eines ständigen Ratssizes für Sowietrußland erzielt worden ist, erscheint dessen Eintritt in den Völkerbund gesichert. Ueber die Form der EinTabung gibt es noch Meinungsverschiedenheiten, die wohl im Laufe des heutigen Tages ausgeräumt werden dürften.
Wir freuen uns über die Eingliederung der großen soziaInstischen Macht in den Völkerbund, so begrenzt sich auch die Wirkung des Völkerbundes erwiesen haben mag. Die große Wendung Sowjetrußlands nach Genf ruft die Erinnerung an den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund wach. Die Beteiligung Deutschlands an den Einrichtungen in Genf war eines der Ziele sozialdemokratischer Außenpolitik, und nur mit Hilfe der Sozialdemokratie fonnte Stresemann den Erfolg erreichen, der seit Jahren von der großen deutschen Arbeiterpartei realpolitisch und feineswegs in pazifistischem Ueberschwang angestrebt worden war.
Es ist unmöglich, in dieser Stunde zu verschweigen, welche Stellung damals die bolschewistische 3. Internationale gegen die Völkerbundspolitik der Sozialdemokratie eingenommen bat. Nicht aus Rechthaberet, sondern lediglich um zu zeigen, wie unnötig tiefe Gegensäße zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten konstruiert worden sind, erinnern wir an den Aufruf der 3. Internationale vom April 1926. Er ri: f die Arbeiter und Werktätigen Europas und der Welt auf: Bereinigt euch zum Kampfe gegen den Völterbund!" Der Aufruf begann mit den Worten:
" Die pazifistische Legende, der Völkerbund könne und werde den Weltfrieden auf kapitalistischer Grundlage fichern, ist zerstört."
Die bolschewistische Internationale begnügte sich nicht mit einer Einzelkritik an der Politik des Völkerbundes, die vom Standpunkt des Sozialisten wirklich zu viel Kritik herausforderte, sondern sie verdammte den Völkerbund überhaupt. Dabei berief sie sich auf die höchste Autorität des Bolschewismus, auf Benin , wie folgt:
„ Die Warnungen der Kommunistischen Internationale werden durch die Wirklichkeit, durch das Leben bestätigt. Bereits im Frühjahr 1919 sah Lenin diesen Gang der Ereignisse voraus, er nannte den Völkerbund bereits im Moment seiner Gründung einen Bund von Räubern und Volkswürgern.
Arbeiter aller Länder, Werktätige Europas und der ganzen Welt.
Wehrt euch, vereinigt euch, rüftet zum Kampf gegen die sen Bund von Räubern und Volkswürgern." Tie in dem Aufruf in die internationale Arbeiterwelt damals geschleuderten Parolen lauten:„ Bruch mit dem Völkerbund!" Man wird zugeben, daß diese Formulierungen weitgehend preisgegeben worden sind.
Selbstverständlich fehlt in dem Aufruf dann die Pointe
nicht, die sich gegen die Sozialdemokratie richtete, der nach der bolschewistischen Theorie den revolutionären Grundsätzen abtrünnigen parlamentarischen Partei. Ihr wird vorgeworfen:
„ Ohne Rücksicht auf die Interessen der werktätigen Massen, unbekümmert um die Forderungen des revolutio= nären Proletariats, haben die sozialdemokrati: schen Führer nicht nur jeden Vorschlag zum gemein: samen Kampf gegen den Völkerbund abgelehnt, son= dern direkt aktiv an dem Völkerbund und in ähnlichen Organen des Imperialismus mitgewirft."
Man stelle fich die damaligen Wirkungen des Aufrufes vor: in allen Parlamenten Europas , in der Arbeiterpresse aller Sprachen, in Millionen Flugschriften, in ungezählten Versammlungen wurde die Völkerbundspolitik zwischen den beiden großen Richtungen des Sozialismus umstritten. Die großen Kaders der Arbeiterbewegung wurden gegenseitig verfeindet und verhetzt wegen einer rein taftischen Frage, die jeder Zweig der Internationale nach den besonderen Verhältnissen und Bedingungen seines Landes hätte beantworten müssen. So tut es jetzt auch Rußland , das sich aus be= rechtigten nationalen Sicherheitsgründen, die aus der Spannung im Fernen Osten erwachsen, westeuropäisch neu orien
tiert.
Wir meinen, daß sich aus diesem Stellungswechsel des Bolschewismus eine Lehre für alle Richtungen des Sozialismus ziehen ließe. Auch die stärksten Theoretiker können irren, auch ihre Analysen und Konstruktionen haben nicht Ewigkeitswert, sondern werden überholt oder modifiziert durch starke Realitäten auf den politischen Kampfplägen. Sind nun die russischen Staatsmänner charakterlose Opportunisten oder schwächliche reformistische Koalitionspolitifer geworden, weil sie mit der fapitalistischen Demokratie Frankreichs sich verbünden oder im Völkerbundsrat, in dem rur kapitalistische Staaten vertreten sind, Plazz nehmen? Wir sind weit davon entfernt, solche Vorwürfe zu erheben. Im Gegenteil. Wir bejahen die Außenpolitik Rußlands , gerade auch, weil wir diesen gewaltigen Faftor sozialistischer Politif erhalten wissen wollen.
An die Theoretiker und die politischen Führer beider groken Richtungen des internationalen Sozialismus scheint uns aber die große und erfreuliche Schwenkung Rußlands nach Genf die Mahnung zu richten: viel mehr Toleranz gegenüber dem taktisch anders gerichteten Sozialisten und viel weniger selbstsichere Rechthaberei. Es ist verhängnisvoll, schwankende politische Auffassungen als geoffenbarte Dogmen auszurufen und Sozialisten anderer Richtung als Verräter zu diffamieren.
Uns scheint, daß die beiden großen Arbeiterparteien aus den letzten zwei Jahrzehnten viel zu lernen haben, wenn sie den Weg und die Entschlüsse zu einer dauernden Kooperation finden sollen.
Die alte außenpolitische Walze
Das Deutsche Nachrichtenbüro teilt mit: Die deutsche Reichsregierung hat nach sorgfältiger Prüfung des bekannten Planes eines sogenannten Ostpaktes die beteiligten Regierungen nunmehr über ihre Stellungnahme unterrichtet. Wie man weiß, handelt es sich bei dem vorgeschlagenen neuen Sicherheitssystem in Osteuropa vor allem um die Verpflichtung der acht Paktteilnehmer, nämlich Deutschland , der Sowjetunion , Polen , Litauen , Lettland , Estland , Finnland und Tschechoslowakei , zur automatischen gegenseitigen militärischen Unterstüßung im Kriegsfalle. Außerdem soll die Sowjetunion eine Garantie für den Rheinpakt von Locarno und Frankreich eine Garantie für den Ostpakt übernehmen. Diese Garantien sollen sich evtl. auch zugunsten Deutschlands auswirken.
Das ganze System setzt die Zugehörigkeit der Teilnehmerstaaten zum Völkerbund voraus und will diese Staaten auch in gewissen grundlegenden Fragen der europäischen Politik Bu einer bestimmten Haltung im Völkerbund verpflichten.
In ihren Bemerkungen über dieses Projekt hat sich die deutsche Regierung zunächst grundsäßlich dahin ausgesprochen, daß sie keine Möglichkeit ſieht, einem derartigen intersolange ihre Gleichberechtigung auf dem Gebiete der Rüstungen noch von gewissen Mächten in Zweifel gezogen wird. Der gleiche Gesichtspunkt ist auch für die Frage des künftigen Verhältnisses Deutschlands zum Völkerbund maßgebend.
Was die Unterstüßungspflicht der Paktteilnehmer angeht, so hat die deutsche Regierung dargelegt, daß sich der Verwirtlichung dieses an die Sanktionsbestimmungen des Völkerbundsstatuts anschließenden Gedanken bisher bei allen internationalen Verhandlungen unüberwindliche Schwierigkeiten Fortfebung fehe 2. Seite, entgegengestellt haben,
Berlin , 11. Sept. Der„ Reichsanzeiger" veröffentlicht eine Verordnung des Reichsinnenministers, durch die das Vermögen von Otto Wels , dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands , für endgültig bes schlagnahmt erklärt wird. Wels wurde gleichzeitig die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.
Das„ Vermögen" von Otto Wels besteht in einem hypotkefarisch belasteten Häuschen in Friedrichshagen bei Berlin . Raub und Ausbürgerung sind die Auszeichnungen, die Herr Hitler an seine gefährlichsten Gegner verleiht.
Avantgarde
Vorabdruck aus ,, Grenzen der Gewalt. Aussichten und Wirkungen bewaffneter Erhebungen des Proletariats", erschienen bei der Verlagsanstalt ,, Graphia", Karlsbad .
Die Verfechter der Diktatur gehen aus von der Jdee einer Avantgarde des Proletariats. Dieses sei viel zu dumm, um sich selbst befreien zu können, nur eine Elite an seiner Spizze vermöge das, die sich erhebe und das Proletariat nach sich ziehe. Das ist keine neue Idee, sie wurde schon vor vier Menschenaltern geboren. Bereits Babeuf prägte sie( 1796), nachdem die große französische Revolution in schlimmer Reaktion geendet hatte. Diese Jdee fand dann im Blanquismus ihre energischste Ver körperung. Sie führte zu nichts als zu einer ununterbrochenen Kette von Niederlagen. Jedesmal, so oft die „ Avantgarde" in Bewegung gesetzt wurde, erwies es sich, daß ihr nichts nachfolgte, daß sie nicht imftande sei, auch nur einen Bruchteil des Volkes mit sich zu reißen. Sie war die Vorhut einer Armee, die bloß in der Fantasie der Verschworenen, existierte. Diese freilich wähnten stets, das Volk dürfte nach Revolution und warte nur auf ein Signal, um loszuschlagen.
Auch wo solches der Fall, bedarf es eines gewaltigen Ereignisses, das die Massen weit tiefer erregt als der Butsch einiger hundert Verschworenen. Das gilt auch heute. Selbst der Aufstand des am meisten kampfbereiten Teils der Schutzbündler in den Februartagen in Wien , der sicher ein aufrüttelndes Ereignis war, vermochte die große Mehrheit der Wiener Arbeiter nicht zu einer Aktion fortzureißen. Einen Aufstand von gleicher Intensität im jetzigen Desterreich zu wiederholen, ist aber nicht mehr möglich. Ein neuer Aufstandsversuch würde weder über soviel Waffen noch auch über so viel Menschen verfügen als der des österreichischen Schutzbundes, der als legale Organisation gegründet worden. Eine neue Verschwörung würde von der Polizei entdeckt werden, lange ehe sie mehrere tausend Mitglieder gewonnen hätte. Avantgarden dieser Art könnten nur die Zahl der nutzlosen Opfer vermehren, die im Freiheitskcripfe fallen sicher wieder neue Helden. Aber Helden sind nicht dazu da, daß man sie in sinnlosen Experimenten veh.mentet.
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Die Avantgarde, die wir brauchen, ist ganz anderer Art. Ihre Aufgaben sind jene, die schon das„ kommunistische Manifest" als die des Bundes der Kommunisten bezeichnete, dem Marg und Engels 1847 beitraten. Sie sollen sein„ der praktisch entschiedenste, immer weiter treibende Teil" der Arbeiterschaft und sollen streben, „ theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats bie Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung vorauszuhaben".
Also diese Avantgarde soll aus den entschlossensten Sozialisten bestehen, aber auch den weitsichtigsten, am besten unterrichteten. Sie sollen dem Proletariat Zuvers sicht zu einer Sache einflößen, aber auch vermehrtes Wissen. Sie sollen durch hohe Entschlossenheit und Einsicht imstande sein, jede seiner Regungen zweckmäßig zu organisieren und zu gestalten.
Ohne geistige Ueberlegenheit über die Gegner ist für die Sozialisten kein Sieg möglich. Je mehr die„ Gleich Mitteilung der Wahrheit unterbindet, desto notwendiger schaltung" alle geistige Selbständigkeit unterdrückt, jede wird die Informierung der Massen über den wirklichen Stand der Welt und über die allgemeinen Resultate