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Dentfal

Nr. 219 2. Jahrgang

-

Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, den 21. Sept. 1934 Chefredakteur: M. Braun

Der Reichsbischof

will ,, comfreie Kirche

Seite 2

Deutsch - englische

Wirtschaftsspannung

Seite 4.

Hitlers Verrat an der Jugend

Die Deohungen Neuraths

Seite 7

Seite 8

1184 Tote am 30. Juni

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Noch unvollkommene Mordliste

Ein Brief

Aus Berlin erhielten wir folgenden Brief einer sehr bekannten, noch heute im öffentlichen Leben stehen­den Persönlichkeit. Der Verfasser ist uns seit vielen Jahren bekannt. Sein Charakter und seine weit­reichenden Beziehungen, die sich auch heute noch bis in die Spitzen der Ministerien und der Reichswehr er­strecken, bürgen für die Zuverlässigkeit seiner An­gaben:

... Es war mir eine aufrichtige Freude, nun endlich die Ausgaben der Deutschen Freiheit" aus den letzten Monaten im Zusammenhang lesen zu können. Bisher hatte ich nur ganz felten ein Exemplar erwischt und Auslandsreisen habe ich seit dem Umschwung schon aus Gründen persönlicher Vor­ficht nicht mehr unternommen.

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Zu meiner Ueberraschung fand ich, daß auch Sie die Zahl der Opfer des 30. Juni noch viel zu niedrig angeben, wenn Sie auch selbstverständlich sofort feststellten, daß die von Reichskanzler Hitler zugegebenen 77 Erichießungen weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Tatsache ist, daß im Reichspropagandaministerium eine Totenliste mit 1184 Ramen fursiert. Damit Sie nicht glauben, ich hätte mich verschrieben, füge ich in Worten hinzu: Eintausendeinhundertvierundachtzig mordet! Meine unterrichteten Freunde so gut wie ich sind aber absolut sicher, daß auch diese Zahl von der Wirklichkeit noch übertroffen wird, denn in zahlreichen kleinen Provinz­orten sind Leute ermordet worden, ohne daß eine Meldung hierüber an uns gelangte. Uebrigens hat vorübergehend die Absicht bestanden, die Totenliste der 1184 zu veröffentlichen, jedoch ist man davon abgekommen, weil sonst in jedem Orte hätte nachgeprüft werden können, ob seit dem 30. Juni ver= schwundene Lokalgrößen auf der Liste stehen und so die Liste

Warum sie nicht veröffentlicht wird

Die Ermordung Schleichers hat sich anders abgespielt,

als es in den vielen Auslandsberichten zu lesen ist. Zeugen der Tat waren neben den Mördern nur einige am Garten: gitter der Schleicherschen Villa spielende Kinder, die hinzu­traten, als zwei Autos mit SS. - Leuten heranraften. Schlei­cher trat in der Hansjacke vor seine Türe und wurde sofort totgeschossen. Gleich danach ereilte die Frau von Schleicher ihr Schicksal; sie wurde aber noch lebend ins Krankenhaus geschafft und ist dort nach zwei Stunden verschieden.

Herr von Papen ist entgegen auch von Ihnen über­nommenen Behauptungen nicht mißhandelt worden. Er be: fand sich, als die SS. in sein Ministerium eindrang, gerade zum Besuch bei dem erkrankten Reichswirtschaftsminister. Als er erfuhr, daß sein nächster Mitarbeiter von Bose im Vorzimmer erschossen worden war, forderte er Reichswehr­schug für seine Wohnung an, und dort ist er länger als eine Woche von Reichswehroffizieren bewacht worden.

Daß Hitler noch feinen Stellvertreter für das Reichs­Tanzleramt ernannt hat, wird Ihnen längst aufgefallen sein. Was Sie aber anscheinend nicht wissen, ist, daß auch Dr. Goebbels in seinem maßlosen Ehrgeiz darauf drängt, Stellvertreter Hitlers im Reichskanzleramt zu werden. Jüngst wurde diese Frage in einem Kreise von Akademikern er= örtert, an deren Tafelrunde sich auch der Reichsminister Heß, der Stellvertreter des Führers" in der Partei, einzufinden pflegt. Er äußerte sich über die Kandidatur von Goebbels furz und bündig: Wenn er den Kerlernennt, trete ich aus der Partei ans."

Ueberzeugung in politischen Kreisen fast allgemein, daß das Troß der scheinbaren Stabilisierung des Regimes ist die System nicht mehr lange zu halten ist und trop der Ein­schüchterung und Aengstlichkeit, die nach dem 30. Juni die so= genannte Reaktion" erfaßt hat, rechnet sie dennoch mit einer baldigen Ablösung der jeßigen Machthaber durch kon­servative und militärische Kräfte. Sich darüber in Spefus lationen einzulassen, ist jedoch einstweilen zwedlos. Sicher

fich wahrscheinlich ganz von selbst gewaltig vergrößert hätte. ist jedenfalls, daß ein Umschwung zu einem geordneten ton

Allein in der Kadettenanstalt in Lichterfelde sind rund 400 Leute erschossen worden, und zwar brauchte man dazu mehrere Tage. Tausende Bewohner von Lichterfelde haben drei Tage das Salvenfeuer der Standrechtskommandos

mitangehört.

Es scheint mir fast, daß Sie die nachhaltende und zer: setzende Bedeutung des 30. Juni unterschäßen, weil keine Massenflucht aus der NSDAP . eingesezt hat. Die Freunde und Anhänger der erschossenen SA. - Führer bleiben jedoch ab: sichtlich in der Partei tätig, um dort gegen Hitler und seine nächste Glique zu wirken, und der Haß, der Groll und die Rachegefühle figen sehr tief. Man muß in absehbarer Zeit mit einer Serie von Attentaten gegen nationalsozia: listische Führer rechnen, und diele Furcht ist auch in den oberen Schichten der NSDAP . sehr groß.

Uebrigens haben Sie keine Gründe über die Verabschiedung des Generalleutnants von Fled mitgeteilt. Er ist vom Führer entlassen worden, weil sich in den Aften von Schlei = chers Briefe Flecks gefunden haben.

servativen Regime hin von den meisten Gegnern der NSDAP . als ein Fortschritt begrüßt werden würde, und ich vermute fogar: auch von vielen sozialdemokratischen und nicht glauben, wobei ich gerne zugebe, daß dieses Sichabfin= kommunistischen Arbeitern, auch wenn Sie mir das vielleicht wahrscheinlich nur vorübergehend sein würde. Jeßt aber ist den mit einem fonservativen Regime für die Arbeitermassen bei breiten Arbeiterschichten die Stimmung: Nur fort mit den Kerlen, egal was kommt."

Die Rüstungen übersteigen jedes vorstellbare Maß und es gibt allmählich auch viele sehr nüchtern denkende Offiziere, ben und mit der Möglichkeit eines Offensivfrieges rechnen. die an die Ueberlegenheit der deutschen Luftstreitkräfte glan­Wenn ich auch bezweifle, daß die Generalität schon dieser ben und mit der Möglichkeit eines Offensivfrieges rechnen. Meinung ist. Die Macht der Reichswehr als politischer Fat tor ist unter feiner der früheren Regierungen so stark gewesen wie jetzt, und sie wird in absehbarer Zeit bei großen inner­und außenpolitischen Entscheidungen auf den Schauplatz treten. Mehr ist darüber bei vorsichtiger Abwägung zur Zeit nicht zu sagen...

Die Versöhnung" der Neinsager

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Wie sie in Wirklichkeit aussicht

Berlin , 20. Sept. Die gleichgeschaltete Presse will den Eindruck erwecken, als versuche man, die Millionen Neinsager durch eine Politik der Versöhnung zu ge­winnen. So schreibt das Berliner Tageblatt", eibt das Ber

daß die Partei und ihre maßgeblichen Persönlichkeiten nicht nur neue Anhänger zu gewinnen hätten, sondern in den ernsten Zeiten, die noch bevorstehen, auch unter der großen Masse der in den letzten anderthalb Jahren neu­gewonnenen Anhängern ständig gegen Kleinmut und Zweifel zu wirken hätten. Es wäre schlimm, so bemerkt das Blatt, wenn sich die Aufklärung und Er­ziehung allein auf die unbekannte Schar der noch zu ge­winnenden Opponenten erstrecken sollte, so wenig darauf verzichtet werden soll, wird doch mit aleichem Nachdruck an der Befestigung der im Herzen der Nation schon ge­wonnenen Stellung zu arbeiten sein

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Der Angriff" warnt in einem Aufsatz davor,

die Neinsager etwa durch Einschüchterungen oder Drohungen zu gewinnen. Der Unteroffiziers ton, der dem wilhelminischen System manchen Schaden zugefügt habe, dürfe im alltäglichen Parteidienst nicht wieder auferstehen. Die Mitglieder der Partei hätten das Volk persönlich und menschlich zu führen und alles, was die Partei an Büros und Geschäftsstellen unter­halte, sei nur dazu da, diese Arbeit zu erleichtern, nicht aber die Partei mit Dienstmiene dem Volke zu ent­fremden.

Hinter diesem schönen Versöhnungstheater wird aber die Verfolgung der politischen Gegner fortgesetzt. Es sind in den letzten Wochen Tausende Kommunisten Abitak stod Fortiebung siehe 2, Seite,

Vom Teufel geholt

Der Präsident des Blutgerichts

Nach kurzem Krankenlager starb an den Folgen einer Gallenentzündung Dr. Friz Rehn, der Präsident des Boltsgerichtshofes in Berlin , im Alter von 62 Jahren.

*

Das Volksgericht" ist erst seit dem 1. August an der Ar­beit. Nicht einmal zwei Monate Tätigkeit hat das Schicksal dem Dr. Frizz Rehn mit der kranken Galle zugemessen. In dieser kurzen Zeit hat der gallige Senatspräsident allerdings schon wild gewütet. Er hat den sozialistischen Kämpfer Alfred Hüttig zum Tode verurteilt, obwohl in der Urteilsbegrün­dung steht, daß nicht erwiesen ist, ob Hüttig überhaupt ge­schossen hat. Rehn hat also legal einen Mord verlangt. Sein Staatsanivalt ist übrigens der berüchtigte Jörns, der unter dem Verdacht steht, die Mörder von Liebknecht und Luxem burg begünstigt zu haben.

Unter den von der Terrorjustiz erfaßten Opfern befinden fich zahlreiche tapfere Kommunisten und Sozialdemokraten. So der frühere fommunistische Reichstagsabgeordnete Georg Schumann , ein Mann, dessen Idealismus in Jahrzehnten erprobt ist, einer der sachlichsten und lautersten Abgeord= neten, die der Deutsche Reichstag je gehabt hat. Eines der letzten Urteile wurde gegen illegale Sozialdemo= fraten gefällt: 33 Jahre Zuchthaus. Im Monat August hat das Volksgericht" gegen 50 deutsche Volks­einhalb Jahre Zuchthaus und zweiunddreißigeinhalb Jahre diktatur über unser Vaterland bekämpften, hundertfünfzehn­genossen, die das Verbrechen und die Schande der Hitler Gefängnis verhängt.

Mit den Flüchen seiner Opfer beladen geht Rehn in die Ewigkeit.

Für Deutschland - gegen Hitler ! Eine Antwort an die ,, Saarbrücker Zeitung " Von Victor Schiff

Woche mit Ausführungen beschäftigt, die ich im Rahmen Paris 19. September. Die Saarbrücker Zeitung " hat sich in der vergangenen einer Aussprache auf einem internationalen Pressefrüh­stück in Paris am 3. Juli über das Saar - Problem gemacht habe. Das gleichgeschaltete Blatt scheint sich darüber zu wundern, daß ich als Emigrant den rein deutschen her, ich käme halt innerlich von Deutschland nicht los". Charakter des Saargebietes betont habe. Es meint da­

Durchaus richtig! Aber dasselbe gilt für alle sozial­demokratischen deutschen Emigranten. Uns alle verbindet als jene, die Deutschlands Namen in den Augen der mit Deutschland das Bewußtsein, bessere Deutsche zu sein zivilisierten Welt geschändet haben. Von dem jetzigen Gangster- Reich haben wir uns nicht nur räumlich, sondern auch geistig völlig losgelöst. Aber unsere Liebe gehört stärker denn je dem hochentwickelten, aber geknechteten Volke, dessen beste Teile einen heldenmütigen Kampf für die Befreiung aus der jezigen Barbarei führen. Und manche, die uns heute auf Befehl schmähen, werden uns einst dankbar dafür sein, daß wir in dieser Zeit tiefster deutscher Schmach immer wieder der gesitteten Welt zum Bewußtsein brachten, daß es ein anderes Deutschland gibt als der regierenden Gangsters, ihrer Lands- und Folterknechte und ihrer gleichgeschalteten Skribenten.

Die Saarbrücker Zeitung " meint fast mitleidig, sie hätte volles Verständnis für die Situation eines Emi­granten". Diese Teilnahme wird hiermit dankend abge= lehnt. Denn mein Emigrantenschicksal möchte ich keines falls gegen das Los jener Gleichgeschalteten tauschen, die um des lieben Brotes willen täglich gezwungen werden, sich selbst zu beschmutzen. Ich habe es nicht nötig, über die Verfolgung, Folterung oder Ermordung meiner politischen Freunde zu schweigen, während z. B. mancher gleichge­schalteter ehemaliger Zentrumsjournalist an der Saar und anderswo den Mördern von Klausener, Adalbert Probst und anderen huldigen muß, um nicht auf die Straße zu fliegen.

Nun aber zur Sache. Ich habe in meiner Ansprache