Völker in Sturmzelten Nr. 33
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung im Geiste des Sehers
Viktor Schiff schilderte zu Beginn des Kapitels über die Reise der deutschen Delegation nach Versailles die erschütternden Eindrücke im Kampfgebiet. Ein Film von unvergeßbarer Traurigkeit. Dann kam der Zug in die Nähe von Paris , in grünende Landschaft. Es war in den letzten Apriltagen des Jahres 1919.
Wir steigen aus. Kurze, steife Begrüßung durch den Präfekten von Versailles . Das Bliglicht der Pressefotografen flammt auf. Wir treten mit unserem Gepäck aus dem Bahnhof. Auf dem Platz stehen einige Kraftwagen und Pariser Autobusse mit militärischer Bedeckung. Ich steige mit einigen Herren in einen Autobus ein und bleibe auf der Plattform stehen.
Hier hatte ich ein kleines Erlebnis, zwar ganz bedeutungslos, aber immerhin amüsant genug, um registriert zu werden. Das Signal zur Abfahrt gab jedesmal ein Polizeikommissar, umgeben von einigen Untergebenen und Journalisten, nachdem er sich die Zahl der Insassen vom Schaffner hatte
laut melden lassen. Bei unserem Wagen ergab die Zählung zweiundzwanzig. Das Ergebnis:„ Vingt deux!" wurde laut bekanntgegeben und vom Kommissar wiederholt und notiert. Ich stand auf der Plattform neben dem Kollegen Frity Stein, damals bei der„ Frankfurter Zeitung ", den ich schon in Friedenszeiten auf der Tribüne der auswärtigen Journalisten im Palais- Bourbon kennen gelernt hatte und bei dem ich eine gewisse Kenntnis der Pariser Volksmund- Redensarten voraussetzte. Nun sollen die Pariser Verbrecher, wenn sie ,, Schmiere" stehen und Gefahr im Verzuge ist, mit dem Ausruf: ,, Vingt- deux, v( oi) la des flics!"*) ihre Kumpanen warnen. Als nun der Polizeikommissar die Zahl ,, Zweiundzwanzig" wiederholte, ergänzte ich halblaut, mich an meinen Kollegen wendend:„, V'la les flics!". Das hörte aber die Gruppe von Journalisten, die den Kommissar umgab, sie schauten zunächst sprachlos herauf und gleich danach ertönte ein schallendes Gelächter, während der Autobus abfuhr.
Am nächsten Tag war natürlich der Vorfall in einem halben Dutzend Pariser Zeitungen registiert und kommentiert, wobei sich die Berichterstatter den Kopf darüber zerbrachen, wie die Deutschen es fertiggebracht hätten, in ihrer Delegation jemanden zu zählen, der den Pariser Verbrecherund Gassenjungenjargon so vorzüglich beherrsche...
Am Ziel
Nach knapp einer Viertelstunde Fahrt mit dem Autobus waren wir am Ziel. Im dunklen Hof des Hotels des Réservoirs erwarteten uns die Quartiermacher der Delegation und wiesen uns unsere Zimmer zu.
Noch am selben Abend wurden wir von dem Verbindungsmann der deutschen Delegation mit den französischen ,, Gastgebern", Freiherrn von Lersner, instruiert: keine Bewegungsfreiheit! Wir durften uns nur in dem Raume zwischen dem Hotel des Réservoirs und den quer gegenüberliegenden Hotels Vatel und Suisse bewegen, die Stadt selbst aber nur in besonderen Ausnahmefällen auf formellen Antrag und unter Begleitung von Geheimpolizisten betreten; im übrigen stünde uns ein Teil des Parkes von Versailles , allerdings ein sehr geräumiger und sehr schöner, einschließlich der beiden Trianon- Schlösser und Gärten, für Spaziergänge zur Verfügung.
Diese Mitteilung wirkte auf uns recht deprimierend, weniger der Tatsache, als des Prinzips wegen. Noch nie in der. Geschichte hatte man den Friedensunterhändlern eines besiegten Landes derartige Einschränkungen auferlegt. Man hatte übrigens der deutschen Regierung diese Absicht sorgfältig verschwiegen. Die Begründung mit dem notwendigen Schutze der Deutschen in ihrem eigenen Interesse war natürfich fauler Zauber. Soviel Disziplin hätten wir alle schon selbst aufgebracht, daß wir uns nicht in größeren Gruppen in Versailles oder Paris gezeigt und durch lautes Reden in unserer Sprache Zwischenfälle hervorgerufen hätten.
Andererseits glaube ich nicht einmal, daß man uns mit dieser unwürdigen Gefangenschaft, die in den Annalen der Friedenskonferenzen ihresgleichen nicht kennt, persönlich demütigen wollte.( Obwohl die Kommentare verschiedener Pariser Blätter zu dieser Isolierungsmaßnahme ausgesprochen beleidigend waren.) Der wahre Grund lag einfacher und tiefer: Man wollte uns isolieren. Man wollte verhindern, daß wir mit fremden Politikern und Journalisten in Berührung kamen, sie über unsere Gesinnung und unsere Lage aufklärten.
Der erste Tag unseres Aufenthaltes in Versailles war kalt und regnerisch. In dem großen Speisesaal des Hotels des Réservoirs( das für die eigentlichen Delegierten und ihre Mitarbeiten sowie für die Sachverständigen bestimmt war) saßen die am Abend zuvor Eingetroffenen in einer Ecke und tauschten Eindrücke aus. Einige Herren, darunter der Hamburger Bankier Max Warburg , waren direkt aus Compiègne eingetroffen, wo sie mit alliierten Finanzsachverständigen über einige Spezialfragen( z. B. die Rückgabe der in Belgien und im besetten Nordfrankreich beschlagnahmten Wertpapiere) in den letzten Wochen bereits verhandelt hatten. Aus ihren Mitteilungen konnte man bereits den abgrundtiefen Haß entnehmen, der uns auf dieser Konferenz entgegengebracht werden würde. Ebenso gewann man immer mehr den Eindruck, daß die Behauptungen der Pariser Presse über den Inhalt des Friedensvertrages, denen wir im Vertrauen auf Wilson und seine 14 Punkte keinen Glauben hatten schenken wollen und mehr für Stimmungsmache hielten, der Wahrheit doch entsprechen dürften.
Am Nachmittag ging ich über die Avenue des Réservoirs zu dem Hotel Vatel, um dort einige Kollegen von der deut schen Presse zu besuchen, als mir mit einer Kopfbewegung und einem sonderbaren Augenzwinkern ein Herr zu ver*) ,, Flic" ist die Pariser Dialektbezeichnung für Polizist.
stehen gab, daß er mich sprechen wolle. Ueber diesen merkwürdigen Annäherungsversuch nicht wenig erstaunt, wollte ich zunächst weitergehen, als mir der Herr, dem sich ein zweiter bald zugesellte, mit hastigen Sätzen erklärte:
Sonntag- Montag, 30. 9. u. 1. 10.
Von
bog in das Einfahrtstor des Hotels ein und hielt im Hof. Der Andrang der Reporter und Pressefotografen war sehr stark. Ein halbes Dugend Blitzlichter flammten auf, als BrockdorffRantau als erster dem Wagen entstieg. Bald war der kleine
Hof voll mit Menschen und Wagen. Immer neue Autos, zulett militärische Lastkraftwagen, rollten heran. Soldaten luden das schwere Gepäck aus, das sich bald zu wahren kleinen Bergen auftürmte. Das Wetter war umgeschlagen. Es war kalt und es rieselte. Im wenig beleuchteten Hof herrschte ein furchtbares Durcheinander. Das wenige Hotelpersonal war einem solchen Andrang natürlich nicht gewachsen. Und immer neue Koffer, neue Kisten wurden ausgeladen. Delegierte erschienen im Hofe und suchten ihr Gepäck. Aber ich bin hier gar nicht maß auch wenn sie es gefunden hatten, war niemand da, um es ihnen hinaufzutragen. Die jüngeren und kräftigeren Männer halfen sich selber, so gut es ging. Die älteren Männer und die Frauen standen dagegen hilflos da.
, Wir sind französische Journalisten und möchten Ihre Eindrücke hören."
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Warum gerade von mir gebend."
..Aber Sie sind es doch gewesen, der gestern abend gerufen hat:
,, Vingt- deux, v'la les flies!" Mit Ihnen können wir uns sicher am ehesten unterhalten. Es ist uns nämlich ausdrücklich verboten worden, mit Deutschen zu sprechen." ,, Dann will ich erst recht nicht Sie daza verleiten, diesen geistvollen Befehl Ihrer Regierung zu durchbrechen."
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Wir können ja auch nichts dafür. Es ist grotesk. Aber sagen Sie uns wenigstens einen Satz, ein Wort!"
,, Und wenn ich Ihnen schon einen Satz sage, Ihre Zeitung wird ja doch nicht den Mut haben, ihn abzudrucken." ,, Doch! Aber machen Sie bitte schnell, da kommt schon ein Geheimpolizist!"
,, Nun, meine Herren, ich habe den Eindruck, daß die Alliierten auf dem besten Wege sind, die deutsche Republik zu erwürgen."
,, Danke! Aber Sie entschuldigen er wies auf den sich nähernden Polizisten hin jetzt gilt es für uns:„ Vingtdeux!".
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Es war das erste und das letzte Gespräch, das ich in Ver sailles mit einem französischen Journalisten führte. Der warnende Sats, den ich bei diesem seltsamen ,, Interview" gesprochen hatte, ist natürlich nie erschienen. Zwei Jahre später hat mich der eine dieser französischen Kollegen in der Vorwärts"-Redaktion in Berlin aufgesucht und mir erzählt, daß sein kurzes Gespräch mit mir von weitem beobachtet und der Regierung gemeldet worden war, so daß seine Redaktion ersucht wurde, ihn nicht wieder nach Versailles zu schicken, widrigenfalls man ihn wegen ,, Einverständnisses mit dem Feind" sofort verhaften würde!
Das war in der Tat jener kautschuk artige Paragraf, mit dem man in der Aera Clemenceau alle möglichen Tendenzprozesse, so auch gegen Malvy und gegen Caillaux, inszeniert hatte und mit dessen Hilfe man in Versailles die restlose Abschnürung der Deutschen von der Welt der Sieger durchführen konnte. Der Krieg war formell nicht beendet und solange der Friede nicht unterzeichnet sein würde, hing das Damokles- Schwert des Strafgesetzbuches über jedem, der unbefugt mit einem Deutschen sprechen würde: Einverständnis mit dem Feinde", Kriegsgericht, und wenn auch nicht gleich der Hinrichtungspfahl auf dem Truppenübungsplatz von Vincennes , so doch zumindest lange Untersuchungshaft und vielleicht mehrjährige Zwangsarbeit. So wurde unter Clemenceau für die Isolierung der Deutschen , namentlich der deutschen Sozialdemokraten, in Versailles gesorgt.
Am Abend dieses ersten Tages traf der Rest der deutschen Delegation, der in zwei weiteren Sonderzügen Berlin 24 Stunden nach uns verlassen hatte, in Versailles ein. Ein Auto nach dem anderen raste die Avenue des Réservoirs herauf,
Gepäck- Erlebnis
Die französischen Soldaten, die gemeinen" Soldaten, erkannten sofort mit instinktiver Höflichkeit und Bereitwillig. keit die für ihren empfangenden" Staat recht blamable Situation. Einer sagte kurz entschlossen:„ Kommt Kameraden, wir helfen herauftragen!"„ Ja," sagte ein zweiter, das ist eine Schande, man kann ja nicht die Sachen im Regen und Schmutz hier liegen lassen!" Ein dritter fügte aufrichtig und menschlich hinzu:„ Außerdem ist vielleicht ein Trinkgeld zu verdienen, und so dick haben wir es nicht."
Und schon hoben einige flinke Hände Koffer und Kisten und schickten sich an, sie in die Zimmer zu tragen, als plötzlich ein Offizier dazwischen stürzte und mit echtester Kasernenhofstimme brüllt: ,, Wollt Ihr das liegen lassen! Das verbiete ich Euch! Zurück!"
Die Soldaten sahen sich und ihn verdutyt an. Zögernd folgten sie dem Befehl und ließen ihre Last wieder zu Boden gleiten. Einer wagte eine schüchterne Bemerkung:„ Aber, Herr Hauptmann, kann man das so in einem Haufen im Regen liegen lassen?"
..Halten Sie den Mund und folgen Sie!" brüllte ihn der Offizier unwiderruflich an.
Ein Quartierbeamter der Delegation bat mich, der Sprache wegen, um Intervention. Inzwischen waren bei dem Lärm weitere Offiziere aus dem Bureau der Kommandantur", die im Hotel eingerichtet worden war, erschienen. Ich ging auf einen Major zu, Offizier der Ehrenlegion, und suchte ihm in höflicher Form die Lage klarzumachen. Die Soldaten standen im Umkreis mit verdugten aber offenkundig mißbilligenden Mienen herum. Der Major antwortete mir mit schneidender Stimme:
..Es bleibt dabei! Französische Soldaten sind nicht dazu da, deutschen Offizieren als Gepäckträger zu dienen."
,, Es handelt sich aber nicht um Offiziere, sondern um eine Friedensdelegation, und auch um Frauen."
., Mit Ihnen diskutiere ich darüber nicht! Es können auch deutsche Offiziere dabei sein, und ich werde niemals dulden, daß französische Soldaten deutschen Offizieren das Gepäck tragen helfen."
Ich drehte dem Major achselzuckend den Rücken zu. Wir Jüngeren in der Delegation halfen dem bald erschöpften Hotelpersonal das Gepäck in die einzelnen Zimmer zu befördern. Nach einer Stunde war diese Arbeit erledigt. Das waren unsere ersten Eindrücke von der Friedenskonferenz".
Tage des Wartens
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Der Holzzaun Der schöne Park von Trianon .. Maifeier in Versaille Verzögerung der Ueberreichung Wachsende Ungeduld bei den Deutschen Die ersten Tage unseres Aufenthaltes waren nicht gerade Abgesperrt geeignet, den sehr schlechten Eindruck dieses Empfanges" zu verwischen. Vielmehr reihte sich eine neue Enttäuschung an die andere. Es hatte gewiß niemand von uns erwartet, daß man uns jubelnd und mit offenen Armen aufnehmen würde. Aber ein Mindestmaß von Höflichkeit und Ritterlichkeit wäre gegenüber der Friedensdelegation des besiegten Feindes wohl am Plate gewesen.
Was mußten wir statt dessen nicht alles erleben? Zunächst unsere Behandlung durch die Pariser Presse. Was gab es da nicht für peinliche Glossen, persönliche Anrempelungen! Wir wurden als eine Gesellschaft gefräßiger Menschen hingestellt, die in Versailles an nichts anderes dächten, als sich nach den Hungerjahren satt zu essen. Es wurde uns nachgerechnet, wieviel Apfelsinen die Delegation am ersten Tage verzehrt hätte. Es wurde erzählt, daß das Hotelpersonal sich geweigert hätte. von Deutschen Trinkgelder anzunehmen und daß infolgedessen ein zehnprozentiger Aufschlag auf die Rechnungen zur Entlohnung der Kellner usw. vereinbart worden wäre.( Selbstverständlich war dieses, damals in Deutschland auf gewerkschaftlichen Wunsch eingeführte System von der Delegationsleitung angeregt worden; die angebliche Weigerung des Hotelpersonals, Trinkgelder von Deutschen anzunehmen, war eine böswillige, beleidigende Erfindung der Pariser Zeitungen.) Man berichtete, daß die Deutschen eine Erhöhung des Zuckerquantums gefordert hätten:„ Es ist ihnen ein Zusatz von Sacharin bewilligt worden", berichtete der„ Temps" ironisch, aber wahrheitswidrig. Brockdorff- Rantau wurde geflissentlich als der ,, frühere Gesandte Wilhelms II." bezeichnet und die wenigen Delegationsangehörigen, über die man
sonst etwas
zu
., wissen" wähnte, wurden mit falschen Zitaten und verzerrten Anekdoten durch den Dreck gezogen. Das war um so leichter, als wir nicht die Möglichkeit hatten, zu berichtigen
Die Absperrungsmaßnahmen wurden bereits am zweiten Tage verschärft. Als Vorwand benutte man die Tatsache, daß zwei oder drei deutsche Pressevertreter am Morgen nach ihrer Ankunft, angeblich in Unkenntnis der erlassenen Vorschriften, das erlaubte Gebiet verlassen und auf eine Stunde in Versailles spazieren gegangen waren. Die Pariser Presse berichtete sofort, daß sie sogar heimlich nach Paris gefahren
wären.
..
Einige Tage später erschienen Arbeiter, die uns za umzäunen begannen. Man kann sich denken, mit welchen Gefühlen wir diese Maßnahme über uns ergehen ließen. Die offizielle französische Version lautete, daß das selbstverständlich nur in unserem Interesse geschehe. Es sollte dadurch insbesondere verhindert werden, daß abermals ein Aufruf am Eingang des Hotels voll Schmähungen gegen die„ Boches" plakatiert werde, wie das in der ersten Nacht geschehen war. Zur weiteren Begründung dieser Maßregel erinnerte der„ Temps" daran, daß, als im Jahre 1871 die Deutschen in Versailles lagen, der Bevollmächtigte der französischen Regierung, Jules Favre , ebenfalls streng isoliert worden war, als er sich nach Versailles zu Bismarck begab, um über die Friedenspräliminarien zu verhandeln. Das Blatt vergaß nur zu bemerken, daß es sich dabei um kurze Verhandlungen über den Vorfrieden gehandelt hatte, nicht aber um die eigentlichen Friedensverhandlungen, bei denen in Frankfurt a. M. die französischen Delegierten selbstverständlich volle Bewegungsfreiheit genossen haben. Es bleibe dahingestellt, was bei diesem Vorgehen der Hauptzweck war: wollte man uns nur demütigen, oder wollte man uns daran hindern, mit Amerikanern, Engländern und insbesondere Sozialisten zusammenzukommen?
Fortsegung, folgt.)