Völker in Sturmzeiten Nr. 37
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers
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Victor Schiff schilderte in den ersten Teilen dieses Buchkapitels, wie niederschmetternd der Eindruck der ,, Bedingungen" auf die deutsche Delegation in Versailles war. In einer denkwürdigen Sitzung nahmen sie, unter Vorsitz des Grafen Brockdorff- Rantzau, dazu Stellung. Man nahm Gutachten der politischen, wirtschaftlichen, finanziellen Sachverständigen entgegen. Die Ergebnisse waren erschütternd.
Der
Der Hamburger Witthoeft bewies, bewies, als Sprachrohr des deutschen Großhandels und der Hansastädte, daß der Verlust der deutschen Kolonien diesen Zweig der deutschen Wirtschaft unrettbar ruinieren würde. Ballins Nachfolger an der Spitze der Hapag, Cuno, ebenso wie der Leiter des Norddeutschen Lloyd , Heineken, sahen als Folge des Verlustes der Handelsflotte die restlose Verödung der deutschen Hafenstädte binnen kürzester Zeit voraus. Landwirtschaftliche Spezialisten wie der inzwischen verstorbene Herr von Braun zeigten, wie der Verlust der Korn- und Kartoffelkammern Deutschlands , Posen und Westpreußen , Deutschland mit dauernder Hungersnot bedrohte. badische Kommerzienrat Bosch prophezeite den Zusammenbruch der chemischen Industrie allein infolge der Zwangslieferungen. Und was erst die Hütten- und Kohlenmagnaten, die Herren Röchling , Frits Thyssen, Hillger usw. voraussagten, hätte, wenn es sich später auch nur annähernd erfüllt hätte, genügt, um Deutschlands Industriegebiete vollständig zu veröden und in Schlachtfelder der bolschewistischen Anarchie zu verwandeln. Unerfüllbare Kohlenlieferungen würden den finanziellen Zusammenbruch des Bergbaues zu Folge haben, während der Verlust fast der ganzen deutschen Eisenerzproduktion, besonders in Lothringen , der deutschen Hüttenindustrie und damit der gesamten Metallindustrie einen tödlichen Schlag versetzen würde.
Bei weit geöffnetem Fenster
Auf diesen Ton waren alle Reden der Sachverständigen abgestimmt. Eine dumpfe Verzweiflung breitete sich über den Saal, die Stimmen der Redner zitterten zuweilen vor Erregung. Es war ein heißer Tag gewesen, der Abend war schwül, über dem finsteren Park von Versailles flammte das Wetterleuchten ferner Gewitter auf. Die rauchgeschwängerte Luft im großen Speisesaal wurde bald unerträglich. Man riß die breiten Fenster auf. Nach einer Weile erschien an der Tür ein deutscher Pressevertreter und rief in den Saal hinein: Meine Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß man draußen im Hof und auch auf der Parkseite jedes Wort verstehen kann!"
Fürwahr, wenn man bedenkt, welche bis ins Groteske gesteigerte Vorsicht bislang gegenüber mutmaßlichen Spionen und Mikrofonen angeordnet worden war, so mußte es um so seltsamer erscheinen, daß man bei jener Sitzung die elementarsten Maßregeln außer acht ließ und sogar bei weit geöffneten Fenstern laute Reden hielt.
Doch Brockdorff- Rantau antwortete der gut gemeinten Warnung schlagfertig und unter lebhafter Zustimmung:„ Das schadet nichts: Diese Reden können die Herren Alliierten ruhig erfahren! Sie mögen wissen, wie wir ihre Bedingungen beurteilen und wie einmütig die Delegation sie verwirft!"
Die Debatte wurde fortgesetzt. Sie sollte gegen Schluß insofern lebhafter werden, als die ersten weltanschaulichen Gegensätze zutage traten. Anlaß dazu bot eine schneidende Erklärung des Generals von Seeckt . Für ihn war der Versailler Vertrag natürlich schon wegen der Abrüstungsbedingungen gänzlich unannehmbar. Im Gegensatz zu Schücking, der es als eine besonders wichtige Aufgabe der
Der Notenkampf
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Delegation bezeichnet hatte, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu erwirken, weil dann manche Erleichterung auch bei den übrigen Bedingungen erhofft werden könne, erklärte Seeckt, daß er an den künftigen Frieden durch den Völkerbund nicht glaube und daß Deutschland einer starken Wehrmacht nach wie vor bedürfe. Ein Volk, das der allgemeinen Wehrpflicht beraubt sei, sei dem Niedergang verfallen. Ein Friede, der Deutschlands Wehrhaftigkeit untergrabe, sei unannehmbar.
Ihm antwortete sofort der Reichsstizminister Landsberg. Er wies darauf hin, daß, wenn es überhaupt einen Gedanken gebe, zu dem sich Deutschland nach seinem völligen militärischen Zusammenbruch bekennen müsse, wenn es jemals wieder hochkommen solle, so sei das gerade der Gedanke des Völkerbundes, zu dem er sich glühend bekenne. Die militärischen Bedingungen, mögen sie noch so hart und ungerecht sein, wären für ihn der letzte Grund, der ihn zu seiner ablehnenden Stellung gegen den überreichten Entwurf bestimmen würde. Deutschlands Zukunftshoffnungen lägen bestimmt nicht auf militärischem Gebiete, sondern es werde die Mission des deutschen Volkes sein, auf sozialem und geistigem Gebiet voranzugehen. Nur so werde ein Wiederaufstieg des Vaterlandes möglich sein. Und er stehe sogar nicht an zu erklären, daß er auf die uns überlassenen, militärisch unbrauchbaren Reste der deutschen Kriegsflotte gern freiwillig verzichten würde, wenn uns die Sieger dementsprechend mehr Handelstonnage zur baldigen Wieder. belebung unserer Wirtschaft überließen.
Laute Zustimmung von den verschiedensten Seiten unterstützten Landsbergs Ausführungen. Die Gruppe der kaiserlichen Militärs um Seeckt herum, die Kommodore Heinrich, der Kapitän zur See Kiep, der bayerische Oberstleutnant von Zylander machten uns aus ihrer Miẞstimmung kein Hehl. In dieser tragischen Stunde drohte die Kluft zwischen dem alten und dem neuen Deutschland sich gewaltsam aufzureißen. Mit feinem psychologischem Gefühl lenkte Brock dorff- Rantzau ab; in der Sache und im Endziel seien sich alle Redner bisher einig gewesen. Der Vertrag sei in dieser Form unannehmbar und es sei ganz natürlich, daß ein jeder das Gebiet, das ihm am nächsten liege, am stärksten unterstreiche.
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Die kleine, gedrungene Gestalt des alten Gewerkschaftsführers Carl Legien erhob sich. Mit seinen ruhigen, leicht sarkastischen Worten lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sein Votum: Es ist im Grunde genommen ganz gleichgültig. Wir könnten ablehnen, dann würden die Sieger versuchen, ihre unerfüllbaren Bedingungen mit Gewalt durchzusetzen, aber es werde ihnen doch nicht gelingen. Wir können annehmen und dabei hetonen, daß die Bedingungen Unsinn seien, aber wir würden dann doch nicht unerfüllbare Bedingungen ausführen können. Am deutlichsten komme dieser Widerspruch im sozialen Teil des Vertrages zum Ausdruck. Dieser Teil sei zwar stark verbesserungs
Freitag, 5. Oktober 1934
Von
bedürftig, enthalte aber sehr gesunde Grundsäge und Gedanken. Aber der Rest des Vertrages sei derart maßlos; daß diese gesunden Grundsätze und Gedanken sich nicht verwirklichen ließen.
Noch einige weitere Redner ergriffen das Wort. Alle kamen zu verzweifelten Schlußfolgerungen: Hungersnot, Zusammenbruch, Chaos, Anarchie seien als Folgen einer Unter zeichnung unabwendbar- dann doch lieber ablehnen! Der kleine unscheinbare Mann
Da erhob sich zum Schluß ein kleiner, unscheinbarer Mann, der neben Legien saß. Nur die wenigsten kannten ihn. Die durch seelische Niedergeschlagenheit und physische Anstrengung erschöpften Teilnehmer hörten schon seit einer Weile nur noch mit halber Aufmerksamkeit zu. Ihr Gesamturteil stand ja fest und alle Redner kamen ja ohnehin zu demselben Endergebnis. Aber schon nach einigen wenigen Sägen des unbekannten Redners horchte man auf. Seine Sätze ließen den geübten Volksredner erkennen, sein Aeußeres die proletarische Herkunft, seine Mundart die sächsische Abstammung. Es war der sozialdemokratische Arbeitsminister Sachsens , Albert Schwarz , der Vertreter der Dresdner Regierung.*) Und zum ersten Male an diesem Abend hörte man ganz ungewohnte Töne der entschlossenen Energie und unbeirrbaren Zuversicht: ,, Meine Herren, ich begreife Ihre Verzweiflung nicht. Nach Ihren Reden müßte man annehmen, daß die letzte Stunde des deutschen Volkes ge*) Albert Schwarz ist inzwischen, wenige Wochen nach Erscheinen der I. Auflage, am 22. Juli 1929, gestorben. schlagen habe. Aber das Volk will leben und wird leben! Mag sein, daß wir durch diesen Friedensvertrag 20, ja 25 Jahre lang daniederliegen werden. Aber einmal werden wir doch wieder hochkommen. Und was sind 25 Jahre im Leben eines Volkes? Für diese Generation sehr viel. Aber für Deutschland , für die deutsche Nation in der Geschichte fast gar nichts!"
Die Stimme aus der Tiefe
Ein Ruck ging durch die langen Tischreihen. Die Menschen waren wie verwandelt. Vielleicht hat sich manch einer leise geschämt, daß er sich so willenlos dem Fatalismus und der Trübsal hingegeben hatte. Aber wohl alle waren dem kleinen Albert Schwarz , diesem Manne, den nur die wenigsten auch nur dem Namen nach kannten, dafür dankbar, daß er sie aufgerüttelt hatte. Es war, als wäre aus den Tiefen des ewig schuftenden und gemarteten deutschen Proletariats die mahnende und fordernde Stimme der Massen ertönt: Wir obwohl wir selber wollen arbeiten, wir wollen leben nichts davon gehabt haben und nach diesem Zusammenbruch erst recht nichts davon haben werden, aber damit unsere Kinder und Enkel eine bessere Zeit kennen lernen!
Es war inzwischen gegen Mitternacht geworden. Brockdorff- Rantau dankte den Rednern für ihre Stellungnahme und konstatierte als Ergebnis dieser Aussprache, daß der Vertrag in seiner jetzigen Form allgemein als unannehmbar empfunden werde, daß aber auch niemand für eine sofortige Abreise eingetreten wäre. Es sei vielmehr die Auffassung der Delegation, die sich übrigens mit dem inzwischen bekannt gewordenen Standpunkt des Reichskabinetts und der politischen Parteien in Weimar deckte, daß man versuchen müsse, zunächst durch schriftliche und sodann, wenn möglich, durch mündliche Verhandlungen mit den Gegnern, bessere Bedingungen zu erreichen,
Themata herausgegriffen werden, um auf die öffentliche Meinung der Ententeländer Eindruck zu machen und manche Vorurteile zu erschüttern, die die gegnerische Pressepropaganda in der ganzen Welt gegen Deutschland angehäuft
Die Taktik der Deutschen Noten über soziale Fragen, Völkerbund, Kriegsgefangene, Kriegsschuld usw. hatte. Einziges Zugeständnis in der Saarfrage erreicht Brutale Antworten Clemenceaus
Auf Grund der Plenarsigung vom 8. Mai und im Einverständnis mit dem Reichskabinett war die allgemeine Politik der Friedensdelegation festgelegt: In Ermanglung mündlicher Verhandlungen sollte von der uns zugestandenen Möglichkeit schriftlicher Bemerkungen ausgiebiger Gebrauch gemacht werden mit dem doppelten Ziel, einerseits Verbesserungen auf diese Weise zu erzielen und andererseits die Gegner durch die Wucht der schriftlichen Argumente schließlich doch zu mündlichen Verhandlungen herauszulocken. Man war nämlich überzeugt, daß, wenn erst die gegnerischen Delegierten und Sachverständigen im kontradiktorischen Verfahren gezwungen sein würden, auf die mündlichen Einwendungen und Beweisanträge unserer eigenen Unterhändler zu antworten, wenigstens ein Teil von ihnen die Ungerechtigkeit oder Unsinnigkeit der uns vorgelegten Bedingungen einsehen würde. Käme erst die gegnerische Front ins Wanken, dann ließe sich sicher noch vieles für Deutsch land herausholen.
Freilich gab man sich über die Aussichten eines solchen Versuches keinen Illusionen hin. Man begriff nur zu gut, warum uns Clemenceau in seiner Rede kategorisch erklärt hatte: Il n'y a pas de discussion verbale et les observations devront etre présentées par écrit."..Es gibt keine mündliche Diskussion und die Bemerkungen werden schriftlich eingereicht werden müssen."- Eben weil man befürchtete, daß die mühsam hergestellte Einheitsfront der Alliierten, dieses wacklige Kompromiß zwischen dem Rachebedürfnis Clemenceaus und dem Gerechtigkeitsprogramm Wilsons, einer ernsthaften mündlichen Diskussion mit Deutschland keine drei Tage standhalten würde. war dieses noch nie dagewesene rein schriftliche Verfahren beschlossen worden. Aus demselben Grunde hatte man ja die hermetische Absperrung der deutschen Delegation angeordnet. Die Chancen, diesen wohlbedachten Beschluß rückgängig zu machen, waren also von vornherein sehr gering. Dennoch mußte der Versuch unternommen werden.
Bereits am 9. Mai in der Mittagsstunde fand im Arbeitszimmer Rantzaus eine engere Sitzung der leitenden Herren der Delegation statt, in der die konkrete Ausführung dieses generellen taktischen Beschlusses beraten und beschlossen wurde. Zunächst kam man darin überein, zwei kurze Noten an Clemenceau zu richten, die eine allgemeiner Art, in der gewissermaßen eine prinzipielle Rechtsverwahrung gegen die bei der ersten Durchsicht des Entwurfs festgestellte Verletzung der vereinbarten Basis des Rechtsfriedens" gemeint waren die 14 Punkte Wilsons eingelegt werden würde; die andere, um eigene Ideen und Anregungen zum Aufbau des Völkerbundes zu entwickeln und dabei gleichzeitig anzufragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen eine solche Einladung( an Deutschland , dem Völkerbund beizutreten) beabsichtigt ist". Dieser zweiten Note war eine Denkschrift beigefügt, die im wesentlichen das Werk Professors Schückings und der Deutschen Liga für den Völkerbund war.
Darauf sollten unmittelbar zwei weitere Noten folgen, die eine über die Heimschaffung der deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen, die andere über den XIII. Teil des Vertrages( Arbeitsfragen).
Der Akionsplan
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Psychologisch war dieser Aktionsplan zweifellos fein durchdacht, aber auch stilistisch und inhaltlich waren die überreichten Noten kleine diplomatische Meisterwerke. Zunächst die Betonung des allgemeinen Rechtsstandpunktes, wonach der Friede nur auf der vor dem Waffenstillstand vereinbarten Grundlage des Wilsonschen Programms geschlossen werden könne; sodann das Bekenntnis zum Völkerbundsgedanken: weiter der Appell an die elementaren Gefühle der Menschlichkeit, um die Leiden der Gefangenen abzukürzen; endlich die Hervorhebung der Bedeutung der sozialen und gewerkschaftlichen Fragen für das neue Deutschland . Als Einleitung des Notenfeldzuges konnten kaum bessere
Gerade bei der Frage der Kriegsgefangenen erfolgte der erste Versuch, mündliche oder wie es hieß..kommissarische" Verhandlungen über die technischen Seiten des Problems der Heimbeförderung der Kriegs- und Zivilgefangenen aus überseeischen Ländern und aus Sibirien sowie über die Neubekleidung der Gefangenen auf Deutschlands Kosten usw. vorzunehmen. Man mußte annehmen, daß die Sieger sich solchen Verhandlungen würden nicht zu entziehen wagen. Wie man weiter unten sehen wird, wurde selbst diese bescheidene Hoffnung enttäuscht! Der Kampf beginnt
An demselben Tage, an dem die letzten von den vier ersten deutschen Noten abgingen, trafen bereits die Antworten Clemenceaus auf die zwei ersten Noten ein, also bereits nach 24 Stunden. Man war zunächst in der deutschen Delegation über die Schnelligkeit dieser Antworten angenehm überrascht. Selbst der Ton und der Inhalt dieser allerdings sehr kurzen Schriftstücke erweckte zunächst bei führenden Herren der Delegation sogar einige Hoffnung für die weitere Entwicklung. Man war jedenfalls auf Schlimmeres gefaßt. Auf die erste Note- Grundlage des Rechtsfriedens
wurde lediglich mit der Versicherung geantwortet, daß die Alliierten ,, sich ständig von den Grundsätzen haben leiten lassen, nach denen der Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen vorgeschlagen worden sind", daß sie aber keinerlei Erörterungen ihres Rechtes zulassen können, die grundsätzlichen Bedingungen des Friedens, so wie sie sie festgesetzt haben, aufrechtzuerhalten. Sie können nur Anregungen praktischer Art in Erwägung ziehen.
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Auf die zweite Note Völkerbundsfragen wurde, beinahe verbindlich, geantwortet, daß der deutsche Entwurf der zuständigen alliierten Kommission übermittelt worden sei, und daß im übrigen die Frage der Zulassung neuer Mitglieder ausdrücklich im 2. Absatz des Artikels 1 des Statutes vorgesehen sei,
( Fortsetzung folgt!