Völker in Sturmzeiten Nr. 38

Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

Samstag, 6. Oktober 1934

asb C

So war es in Versailles ... von

Die deutschen Delegation versucht unermüdlich, durch Vorstellungen bei den Alliierten Verbesserungen der harten Bedingungen zu erreichen. Sie beziehen sich auf soziale Fragen, Kriegsgefangene, Kriegsschulden. Ein Zugeständnis wird erreicht: es bezieht sich auf die Saar­frage.

Ich entsinne mich noch. wie der relative Optimismus, den namentlich die zweite Antwortnote bei maßgeblichen diplo­matischen Mitgliedern der deutschen Delegation auslöste, mich wunderte und zugleich taurig stimmte. Die ganze Trost­losigkeit unserer Lage kam einem zu Bewußtsein, wenn man beobachtete, wie sonst sehr kluge und nüchterne Männer aus der Tatsache, daß man eine sechszeilige Antwort erhalten hatte, die keine Beleidigung, sondern nur ein Prozedurver­sprechen sowie einen sachlichen( dabei etwas ironisch for­mulierten) Hinweis enthielt, bereits neue Hoffnungen schöpften und sogar die Möglichkeit mündlicher Verhand­lungen für nähergerückt hielten.

Bereits drei Tage später, am 13. Mai, wurden drei weitere Noten überreicht, durch die schon wesentlich heiklere Fragen angeschnitten wurden. Eine Note über die Kriegsschuldfrage, in der gegenüber dem Artikel 231 darauf hingewiesen wurde, daß Deutschlands Anerkennung der Schadenersatz­pflicht auf Grund der Lansing- Note vom 15. November 1918 erfolgt sei, also unabhängig von der Kriegsschuldfrage. Bewußtsein des deutschen Volkes sei dieser Krieg stets ein Verteidigungskrieg gewesen. Da die deutschen Delegierten die frühere deutsche Regierung nicht für alleinige oder hauptsächliche Schuldige am Kriege hielten und im Ver­tragsentwurf die behauptete deutsche Schuld durch keine Beweise gestützt sei, bäten wir um Mitteilung des Berichtes der von den Alliierten eingesetzten besonderen Schuld­prüfungskommission.

Das ,, Todesurteil"

be­

Weiter wurde am gleichen Tage als vorläufige Aeußerung zu den wirtschaftlichen Folgen der Friedensbedingungen ein kurzes Gutachten der deutschen volkswirtschaftlichen Sach­verständigen überreicht, das in eindrucksvoller Weise die voraussichtliche Lage Deutschlands nach der Annahme eines solchen Vertrages schilderte: Ausfall von 21 Prozent der Gesamternte, an Getreide und Kartoffeln durch den Verlust der Ostprovinzen, von 33 Prozent der Kohlenproduktion, von 75 Prozent der Eisenerzproduktion, von mehr als 60 Pro­zent der Zinkproduktion; Verlust der Handelsflotte, der Kolonien, der auswärtigen Besitztümer; Deutschland wäre nicht mehr in der Lage, genügende Auslandsstoffe zu ziehen, seine Industrie müßte daher in gewaltigem Umfange erlöschen, viele Millionen würden Arbeit und Brot ver­lieren. Auswandern könnten sie nicht. Wer diesen Friedens­vertrag unterzeichnet. spricht damit das Todesurteil über viele Millionen deutscher Männer, Frauen und Kinder aus." Es unterliegt heute keinem Zweifel, daß dieses Gutachten sehr starke Uebertreibungen enthielt. Aber ebenso sicher ist es, daß es die subjektive Ueberzeugung seiner Verfasser rich­tig wiedergab. Denn es war nur der Extrakt der Gedanken, die am Abend des 8. Mai in der Plenarsigung der Delegation für den inneren Gebrauch der deutschen Delegation, also nicht um das Ausland zu bluffen, entwickelt worden waren. Ein starker Kern von Wahrheit steckte zweifellos in diesen finsteren Prophezeiungen. Aber es hat sich später gezeigt, daß das Leben stärker ist als die Statistik und daß ein Volk, das man auf Grund rein wissenschaftlicher und statistischer Deduktionen für wirtschaftlich verloren halten müßte, immer noch die erstaunlichsten Mittel und Answege findet, um nicht zugrunde zu gehen.

Eupen- Malmedy und das Saargebiet

Als drittes Schriftstück wurde am 13. Mai eine Note über­geben, die sich auf Eupen- Malmedy und vor allem auf das Saargebiet bezog und die sich insbesondere gegen den Ver­such wandte, deutsches Gebiet vom Reiche zu trennen, um es als Pfand für Reparationen zu verwenden:

,, Vor allen Dingen hält sie es für unzulässig, daß durch den Friedensvertrag zu dem Zwecke, finanzielle oder wirtschaftliche Forderungen der Gegner Deutschlands zu sichern, deutsche Bevölkerungen und Gebiete von der bis­herigen Souveränität zu einer anderen verschachert wer­den, als ob sie bloße Gegenstände oder Steine zu einem Spiel wären."

Der Entwurf zu dieser Note soll von Dr. Simons verfaßt worden sein und macht seiner stilistischen und dialektischen Gewandtheit alle Ehre: denn die letzte Wendung war wört­lich einer Kundgebung Wilsons während des Krieges ent­nommen und war darauf berechnet, das Gewissen des ame­ rikanischen Präsidenten aufzurütteln. Fast noch eindrucks­voller war der folgende Absatz, der sich gegen die Be­stimmung wandte, wonach Deutschland auch nach einer zu seinen Gunsten ausgefallenen Abstimmung nach 15 Jahren das Saargebiet endgültig verlieren würde, wenn es nicht die Saarkohlenbergwerke der französischen Regierung gegen Gold abkaufen würde. Die deutsche Note sagt dazu:

Be­

,, Nach den finanziellen und wirtschaftlichen dingungen des Vertrages erscheint es ausgeschlossen. daß Deutschland in 15 Jahren über die entsprechende Menge Gold wird verfügen können. Ueberdies würde voraus­sichtlich, wenn das Gold in deutschem Besit vorhanden wäre, die Reparationskommission, die dann Deutschland noch beherrschen würde, eine solche Verwendung des Goldes schwerlich gestatten. Es dürfte in der Ge­schichte der neueren Zeit kein Beispiel dafür geben, daß eine zivilisierte Macht die andere veranlaßt hat, ihre Ange­hörigen als Gegenwert für eine Summe Goldes unter fiende Herrschaft bringen."

Endlich eine Wirkung

ZU

Um es gleich vor wegzunehmen: diese Vote hat gewirkt. Es war allerdings so ziemlich die einzige. In einer zwölf Tage

später übermittelten Antwort Clemenceaus wurde uns das erste Zugeständnis gemacht: anstatt des Rückkaufes in Gold sollte Deutschland eine erste Hypothek ausstellen. Würde die Zahlung nicht erfolgen, dann könnte die Reparations­kommission in Uebereinstimmung mit dem Völkerbund Rötigenfalls zur Zwangsliquidation der Saargruben schreiteu. Von einer Abtrennung des Saargebietes als solchen war also auch für diesen Fall keine Rede mehr.

Dieses erste und fast einzige Zugeständnis der Alliierten in diesem Abschnitt der Verhandlungen wurde übrigens von heftigen Protesten der Pariser Presse absichtlich begleitet, die natürlich die Bedeutung dieses Entgegenkommens ab­sichtlich übertrieb und den französischen Delegierten offenbar auf Bestellung Vorwürfe wegen ihrer Nach­giebigkeit machte. Es wurde hervorgehoben, wie groß­mütig Frankreich sei, viel zu großmütig eigentlich gegen­über diesen..Boches", die noch die Stirn hätten, sich über angebliche Ungerechtigkeiten des Vertrages zu beklagen. Aber das dürfe ja nicht einen Präzedenzfall bilden usw. Diese Kom­mentare der Pariser Presse entsprachen nicht nur einer nahe­liegenden Taktik, sie zeugten auch von dem Aerger der schwerindustriellen Kreise, die alles darangesetzt hatten, das Saargebiet als Kohlenbasis für die lothringischen Erzgruben. vom Deutschen Reiche später loszulösen und nach einer Uebergangszeit unter der Verwaltung des Völkerbundes definitiv an Frankreich anzugliedern.

Noch vor diesem Teilerfolg hinsichtlich des Saargebietes waren allerdings mehrere Antworten eingegangen, die in der deutschen Delegation den stärksten Pessimismus auslösen mußten. Das galt sowohl für unsere Note über die Kriegs­schuldfrage wie auch für unsere Vorstellungen wegen der Kriegsgefangenen.

Der Kampf um die Kriegsgefangenen

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Die Antwort auf die deutsche Note über die Kriegsge­fangenen mußte alle Hoffnungen auf mündliche Verhand­lungen zerstören. Dieses Dokument enthüllte den Tiger" in seiner ganzen Grausamkeit und Gefühllosigkeit. Auf das Verlangen, daß jene Kriegsgefangenen, die wegen Ver­brechen oder Vergehen von alliierten Kriegsgerichten ver­urteilt worden waren, genau so freigegeben werden sollten, wie dies mit den verurteilten Gefangnen aus den alliierten Heeren geschehen worden war, antwortete Clemenceau mit der ausführlichen Schilderung eines Doppelmordes, den ein deutscher Gefangener verübt hatte. Aus diesem Grunde" ( Sic!) wurde die Freilassung aller übrigen meistens nur wegen Widersetzlichkeit gegen ihre Wächter zu hohen Zwangsarbeitsstrafen verurteilten deutschen Gefangenen rundweg abgelehnt!

Hinsichtlich der Milderungen, um die die deutsche Note gebeten hatte, wurde scheinheilig erklärt, die Sieger wüßten nicht, welche Milderung gewährt werden könnte, denn sie haben sich mit peinlicher Gewissenhaftigkeit bemüht, die Kriegsgesetze zu beachten und den Forderungen der Mensch­lichkeit Genüge zu leisten".

Die von den Deutschen geforderte uneingeschränkte Gegenseitigkeit wurde mit einem pharisäerhaften Selbstlob abgetan:

..Da keinerlei Vergleich zwischen der Behand­lung der Kriegsgefangenen durch die deutsche Regierung einerseits und durch die alliierten und assoziierten Mächte andererseits möglich ist, so kann in dieser Hinsicht keine Gegenseitigkeit gefordert werden."

Endlich wurde der Vorschlag der Einsetzung einer Kom­mission zur mündlichen Erörterung der technischen Seite der Heimbeförderung deutscher Kriegsgefangener mit blutigem Hohn beantwortet. Die Alliierten würden

mit höchster Bereitwilligkeit Kommissionen dieser Art einsetzen, sobald der Friede unter­zeichnet ist. Sie bedauern indessen, an ihre Einsetzung nicht denken zu können, solange sie nicht benachrichtigt worden sind, daß die Bevollmächtigten des Deutschen Reiches den Frieden zu unterzeichnen beabsichtigen." Deutlicher konnte man es nicht aussprechen: Die deutschen Kriegsgefangenen waren die lebendigen Pfänder, mit denen die Sieger die Unterwerfung unter ihr Diktat er­zwingen wollten.( Später hat derselbe Clemenceau sogar nach der Unterzeichnung dieses Pfand nicht herausgeben wollen, sondern es für die Eintreibung der Reparationen monate­lang weiter zu behalten versucht!)

Um die Verantwortlichkeit Deutschlands

Bezüglich der Kriegsschuldfrage erklärte Clemenceau in seiner gleichzeitig am 20. Mai übermittelten Antwort, daß durch die Lansing- Note vom 5. November 1918, auf die sich Brockdorff- Rantzau berufen hatte, diese Frage endgültig entschieden sei. Denn es heiße in dieser Note, daß Deutsch­ land allen Schaden wiedergutzumachen habe, den es seinen Feinden..durch seinen Angriff zu Lande, zu Wasser und aus der Luft" zugefügt habe.

,, Dadurch, daß die deutsche Regierung damals gegen diese Feststellung keinen Protest einlegte, hat sie sie als begründet anerkannt. Deutschland hat also im November 1918 implicite, aber unzweideutig, sowohl den Angriff als auch seine Verantwortlichkeit zuge­geben. Heute ist es zu spät für den Versuch, sie zu leugnen."

In der deutschen Delegation fiel man aus allen Himmeln, als man diese Antwort erhielt. Nie war man auf den Ge­danken gekommen, daß in der Lansing- Note ein Sat ent­halten sein konnte, der die Kriegsschuldfrage irgendwie be­rührte oder gar entschieden haben sollte. Indessen mußte

Victor Schiff

mau bald einsehen, daß der englische Text der Lansing- Note in der Tat diese Deutung zuließ. Es heißt nämlich dort: ... by the agression of Germany, by land, by sea, and from the air."

Die amtliche Uebersetzung, die von den amtlichen Stellen der damals noch kaiserlichen deutschen Regierung ver­breitet worden war, lautete:

-

... durch seine Angriffe zu Land, zu Wasser und in der Luft."

Diese Uebersetzung war unrichtig, um nicht zu sagen ten­denziös. Denn agression " heißt nicht Angriffe", sondern ..Angriff" oder vielmehr..Ueberfall". Insofern war es leider sehr schwer, Clemenceaus Behauptung zu widerlegen. Hätten wir gegen seine Feststellung, daß Deutschland damals gegen diesen Passus der Lansing- Note nicht protestiert hätte, mit der Entschuldigung geantwortet, daß die damalige Regierung einer falschen Uebersetzung zum Opfer gefallen sei, so hätte es uns niemand in der Welt geglaubt und wir hätten uns obendrein lächerlich gemacht. all

Uebrigens hätte es die Regierung des Prinzen Max, auch wenn sie eine richtige Uebersetzung der Lansing- Note in Händen gehabt hätte, es kaum darauf ankommen lassen können, den Abschluß des Waffenstillstandes, den wir da­mals dringend brauchten, durch eine Rückfrage oder sogar durch einen wenig aussichtsreichen Protest gegen diese For­mulierung um drei oder vier Tage hinauszuschieben.

Auf der anderen Seite war es nichts anderes als ein dip­Clemenceau aus lomatischer Taschenspielertrick. wenn

diesem einen Satz der Lansing- Note den Schluß herleitete. daß das gesamte Problem der Schuld am Kriege ein für alle­mal geklärt und entschieden sei. Wozu hatten denn sonst die Alliierten eine besondere Sachverständigenkommission ein­gesetzt, einen Bericht über die Schuldfrage auszu­arbeiten? Die deutsche Note vom 13. Mai hatte um Mit­teilung dieses Berichtes gebeten, um darauf antworten zu können. Clemenceau erwiderte trocken.

um

..daß die alliierten und assoziierten Mächte die Berichte der von der Friedenskonferenz eingesetzten Kommissionen als Urkunden innerer Natur betrachten, welche Ihnen nicht übermittelt werden können". Diese Ausrede sprach nicht gerade dafür, daß die Sieger ihrer Sache sicher waren.

Die Antwort Brockdorff - Rantzaus

Brockdorff- Rantzau ließ übrigens diese Note nicht unbe­antwortet. Vier Tage später, am 24. Mai, übersandte er eine Erwiderung, in der die Vorgeschichte der Lansing- Note ein­gehend dargelegt wurde. Die deutsche Regierung habe um so weniger Anlaß gehabt, gegen die Worte der Lansing- Note. über den Angriff Deutschlands " zu protestieren, als sich diese Worte offenkundig auf die Invasion Belgiens und infolgedessen auch Nordfrankreichs bezogen, die sogar schon die kaiserliche Regierung als Unrecht anerkannt hätte und die zweifellos einen Angriff Deutschlands darstellte:

..Dieser Angriff war es, für den die deutsche Re­gierung Deutschlands Verantwortlichkeit zugab, nicht aber eine angebliche Schuld am Ausbruch des Krieges oder die äußerliche Tatsache, daß die formelle Kriegserklärung von seiner Seite ausgegangen war."

Auf den Hinweis Brockdorff- Rantzaus am 13. Mai, daß die alliierten Staatsmänner wiederholt erklärt hätten, daß das deutsche Volk nicht für die Fehler seiner Regierung ver­antwortlich gemacht werden sollte, hatte Clemenceau am 20. Mai erwidert:

..Deutschland hat indessen niemals behauptet, und eine solche Versicherung wäre gegen alle Grundsätze des inter­nationalen Rechtes gewesen, daß eine Veränderung seiner politischen Regierungsform oder eine Umwandlung seiner leitenden Persönlichkeiten genügen könne, um eine von einer Nation bereits eingegangene Verpflichtung zum Er­löschen zu bringen. Es hat nach diesem Grundsatz, den es gegenwärtig verteidigt, weder im Jahre 1871 Frankreich gegenüber nach der Ausrufung der Republik gehandelt, noch auch im Jahre 1917 mit Bezug auf Rußland zur Zeit der Revolution, die die zaristische Regierung, beseitigte." Diese Antwort des Tigers" war zweifellos geschickt und eindrucksvoll. Aber war die Erwiderung Brockdorff­Rantzaus am 24. Mai nicht noch geschickter und noch ein­drucksvoller?

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,, Die deutsche Delegation möchte die Worte Eurer Exzellenz nicht dahin verstehen, daß die Zusage der alliierten und assoziirten Regierungen damals nur eine Kriegslist war, um den Widerstand des deutschen Volkes zu lähmen, und daß die Zusage heute zurück­genommen werden soll.

Schließlich machen Eure Exzellenz geltend, daß, die alliierten und assoziierten Mächte das Recht haben, Deutschland nach denselben Methoden zu behandeln, die es beim Frankfurter Frieden und beim Frieden von Brest­Litowsk seinerseits angewendet habe. Die deutsche Dele­gation unterläßt es vorläufig, zu prüfen, inwiefern sich jene beiden Friedensschlüsse von dem heute vorliegenden Friedensentwurf unterscheiden; denn für die alliierten und assoziierten Regierungen ist es heute zu spät, auf jene Präjudizien einen Rechtsanspruch zu gründen. Der Augenblick hierfür war gekommen, als sie vor der Wahl standen, die vierzehn Punkte des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika als Friedensbasis anzu. nehmen oder abzulehnen. In diesen vierzehn Punkten wurde ausdrücklich die Wiedergutmachung des Unrechts von 1870/71 verlangt und von dem Frieden von Brest­Litowsk als von einem abschreckenden Beispiel ge­sprochen. Die alliierten und assoziierten Regierungen haben es damals abgelehnt, sich einen Gewalt. frieden der Vergangenheit zum Muster zu nehmen." Hoz ( Fortsekung folgt