netiesmute nimelov
Freiheit".
Sonntag- Montag, den 7. und 8. Oktober 1934
Politik oder Zivilisation
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Aus dem Buche: ,, Die Diktatur des Hausknechts
Alfred Kerr lebt heute als Emigrant in Paris . Er ist nun schon ein älterer Herr, den Jahren nach aus der Hauptmann- Generation, Erwecker des deutschen Theaters aus dem dumpfen Faulbett, Kritiker, Anreger und Genießer. Dem ,, Hausknecht der Diktatur"( so heißt sein soeben erschienenes Buch, bei Les Associés, Editeurs , Bruxelles) verdanken wir nun einen neuen Kerr auf seine alten Tage. Er hat die Beine unter fremden Tischen, aber den Kopf und das Herz bei allen deutschen Köpfen und Herzen, die Braun- Deutschland peinigt, vertrieb und ausbürgerte. Diese Sammlung von Aufsätzen und Gedichten, im Auslande geschrieben und publiziert, bestätigen die Unverwüstlichkeit des Geistes, den Optimismus des Kämpfers, die Würde des Emigranten. In diesem Buch wird nirgendwo lamentiert, sondern immer angegriffen. Es gibt nur eine Klageweise, diejenige um eine gewisse, eine gewisse, eine gewisse Republik ", deren Schwäche Kerr vor der braunen Machtergreifung immer wieder warnend und anstachelnd vermerkte. So vieles zu sagen, mit Anmut und mit Geist, mit der blizenden Fröhlichkeit des Unverzagten: dies ist die unge. brochene Gabe Alfred Kerrs im zweiten Jahre der tausend Jahre Adolf Hitlers , deren Abschluß er noch bei Gesundheit zu erleben hofft. Jeder, der sein Buch liest, wird auch für seinen Teil in dieser Hoffnung bestärkt.
I
Ist dieser Titel nicht sonderbar?... Gibt es wirklich heut einen Gegensatz zwischen Politik und Zivilisation? Leider. Das ist ja die tiefste Tragödie der Zeit. Wißt Ihr, was ,, Ethik" ist? Ungefähr dasselbe, was man auch„ Moral" nennen kann oder Gewissensreinheit" oder ,, Menschlich edles Handeln". Gibt es einen Gegensatz zwischen Ethik und Politik?... Dreimal ja. Scheußlich! Die Welt hat auf allen Gebieten des Wissens Fortschritte gemacht; nur durchaus nicht in der Politik. Betrachtet, bitte, die Weltlage von heut dann seht Ihr: die Politik ist aut dem Punkt stehengeblieben, auf dem sie vor Jahrhunderten stand; auf dem egoistischen.
II
Nein; nicht ganz. Die Idee des Völkerbunds ist( oder war) ein ethischer Fortschritt. Aber diese Idee blieb... eine Idee. Nicht eine technische Wirklichkeit, darauf kommt es an.
Soll ich ein Gleichnis geben? Mein toter Freund aus dem Berliner Grunewald, Walter Rathenau , war im Vorstand der größten deutschen Elektrizitätsgesellschaft, der AEG.; er gab ihr... Ideen; Anregungen. Aber seine kommerziellen Amtsbrüder haben mir oft vorgejammert; ,, Er sagt nicht, wie seine Ideen durchzuführen sind!" Sie rauften sich das Haar. In derselben Lage, genau, ist vorläufig der Völkerbund . Er strömt über von Ideen ethischen Inhalts, zivilisatorischen Inhalts-nur mangelt ihm die Möglichkeit des Verwirklichens.( Wir raufen uns das Haar).
III
So fährt die europäisch- amerikanisch- asiatische Welt fort, Politik in der alten Art zu machen. Nicht immer Politik gegen die Ethik, aber ohne die Ethik!..( Nicht immer antimoralische Politik, sondern amoralische Politik; also doch antimoralische Politik.)
Ich stimme mit dem Dichter Paul Valéry nicht überein, der gesagt hat: ,, La politique est une activité inférieure", ,, Politik. ist eine untergeordnete Beschäftigung". Sie war es zu oft bisher; sie muß es nicht sein. Die wahre Losung heißt: ,, Politik ist eine pädagogische Beschäftigung."
Zumal in dieser Weltkrise scheint pädagogische Politik die aktuellste Beschäftigung. Ich will gleich zeigen, weshalb.
IV
Blickt auf den gegenwärtigen Zustand. Denkt nicht an die unzivilisierten Völker: sondern an die sozusagen zivilisierten die aber das Gesetz der Zivilisation kaffrig und bewußt mit Füßen treten. Das gibt es in Deutschland . Merkmal der Zeit. Der Nazi verficht( in der Verwirrung des Nachkriegs) tückisch- offen das Ideal der Illegalität; der Willkür; der Rechtlosigkeit, des Atavismus, des Wildenzustands; er sucht ein solches Ideal" zu verbreiten; und was geschieht? solches,.Ideal"
Die Politik der gesamten Welt müßte dazu Stellung nehmen... jenseits von der reinpolitischen Routine. Tut sie Das? Nein. Sie blickt mit politischen Augen nicht auch mit ethischen Augen. Bei andrer Gelegenheit sieht sie nur mit kommerziellen Augen.....
V
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Die Politik hat aber künftig die Pflicht, nicht bloß wirtschaftliche Vorteile von Land zu Land einzutauschen. Sondern sie muß( haltet euch fest) die Moral der Welt auf eine neue Art stabilieren; hüten: stärken. Das ist ihr neues, und ob ihr alten Routiniers zehnmal
höheres Amt. Jawohl darüber faucht!
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Was der amerikanische Botschafter Hill( ich sprach öfter davon) vor zwanzig Jahren verkündet hat; was lange vor ihm Karl Marx verkündet hat, daß die Moral der Staaten so werden soll wie die Moral anständiger Privatleute: dies muß künftig das Ziel der neuen, der unroutinierten Politik sein. Der ethischen Politik.
Es ist wieder Zeit. in dieser Elends- Aera die Leute z"! erinnern, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt sondern auch von der Ethik.
VI
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Stellt euch vor, daß künftig an irgend einem Punkt der Erde, meinetwegen in Patagonien, ein volkreicher Menschenstamm sich bemerkbar macht, der nicht nur die Zivilisation seines Landes zerstampft, sondern die dazugehörige Wahnsinnslehre möglichst zu verbreiten sucht- soll die Politik des Erdballs dann untätig bleiben? Soll sie warten, bis auch ihre Besigtümer( die greifbaren wie die ideellen) zerstampft
Von Alfred Kecc
sind? Soll sie weiterhin bloẞ Politik" machen, also nur fragen: Wird unsre Einfuhr in dieses Land gefördert oder seine Ausfuhr in unser Land?" So ist es aber heut, praeter- propter.
Die künftige Politik hat nicht Länderpolitik zu sein, sondern Planetenpolitik. In summa: nicht diplomatische, sondern ethische Politik. Dies ist das höchste Ziel der Welt. Aber ich höre schon den Einwand...
VII
Ich höre schon den Einwand: ,, Was du da sagst, das ist so wie die Anregungen, die Walter Rathenau der AEG. gegeben hat." Nein! Haltet die Forderung nicht für idealistisch. Hier fällt ja der praktische Nutzen mit dem Ideal zu
sammen.
Auf die Dauer ist die ,, edlere" Politik auch die gewinnbringendere; die alte Schacherpolitik hat nur kurze Wir kungen; immer bloße Augenblickserfolge; sie muß jedesmal von vorn anfangen. Erst die streng ethische Politik wird auf die Länge die wahrhaft siegreiche, die beherrschende sein, so wie ein Warenhaus mit unreellen Tricks auf die Dauer schlechte Geschäfte macht.( Der deutsche Dramatiker Wedekind hat das gute Wort geprägt:„ Die Moral ist das beste Geschäft.")
VIII
Ein Beispiel? Bismarck gilt als politisches Genie. Mir erscheint er als das Gegenteil. Viele Zeitungen erwähnen mit Recht sein Verhalten gegen Louis Napoleon in den sechziger Jahren.( Er hat ihm Belgien zugesagt, verriet aber zugleich den Engländern das französische ,, Gulüst" auf Belgien ). Dies ist das Musterbeispiel einer dummen Politik; einer unmöglichen Diplomatie der ältesten Schule: denn durch das Mißtrauen, das hieraus erwuchs, hat er dem eignen Land, bis in die Gegenwart, weit mehr geschadet als genützt.
Er verstieß nicht nur gegen das Ideale: sondern gegen das Praktische. Bismarck war ein kurzsichtiger Politiker: weil er ein unethischer Politiker war.
IX
Zur Ethik in der Politik gehört aber nicht nur, wenn ich es so nennen soll, die Anständigkeit in der Defensive. Nein, es genügt nicht, ehrenhaft zu bleiben und zuzusehn. Sondern es gilt, aktiv ethische Kontrolle zu üben. Wir merken heut mit Entsetzen, daß sie nirgends besteht.
Wir merken heut, daß die Welt bereit ist, sich an alles zu gewöhnen. Auch an das vor ganz kurzer Frist für unerhört, für undenkbar Gehaltene. Flaubert sagt mal in einem Brief( es blieb mir im Kopf haften): A force d'embeter les gens, ils cèdent;" auf deutsch : ,, Wenn man die Menschen
Der Judenciecher an der Saar Nasenspitzengefühl
Die ,, Deutsche Front" hat eins ihrer Redaktionsmitglieder zum ,, Judenriecher" bestellt. Den muß es nach Anordnung der Reichspressekammer vom 6. 11. 1933, gez. Dr. Ildephons Richter, in jeder gutgesinnten deutschen Redaktion geben, der muß das Nichtariertum der Personen, der Dinge, der Geschehnisse unserer Zeit feststellen, wenn es da Zweifel gibt. Na, und angesichts des Dr. Goebbels wiß ist nichts auf Erden.
...
ganz ge
Der Mann von der ,, Deutschen Front" hat aber offenbar nicht das richtige Nasenspitzengefühl. Er hat immer da neben. Er irrt sich prompt. Nehmen wir einmal die Nummer vom 25. September. Da steht ein Artikel ,, Vom Warndt, zum Schaumberg", da werden Soldatenlieder fürs braune Fußvolk zitiert. Und da lesen wir: Man denke nur an den ..Argonnenwald" oder an das Lied der Lieder Im Feldquartier auf hartem Stein" sofort lebt die Front wieder auf, die sogenannte Ruhe im Alarmquartier, das vom dumpfen Rumpeln und Krachen begleitete Beieinanderhocken in der drangvoll fürchterlichen Enge des Stollens oder Unterstandes, wo die Mundharmonika oder der Zerrwanst die Begleitung schluchzten und wimmerten. Unvergeßlich tief ins Herz geprägte Minuten...
Unvergeßlich aber auch, daß dies Lied der Lieder jüdischen Ursprungs ist, daß der Autor Freund und dem Komponist Holländer heißen. Und selbst die Bezeichnung ,, Lied der Lieder " dürfte wohl aus der für die ,, Deutsche Front" doch wohl abgeschafften Bibel stammen.
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an.
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unseres
Gleich danach steht ein anderer Artikel: ,, Eine Bolsche. wikenkomödie um die Saar . Unverschämte Anmaßung ausländischen Gesindels". Da ist von Lord Marley die Rede, von dem es heißt, er gehöre derselben Glaubensgemeinschaft wie Georg Bernhard Georg Bernhard ist Wissens Jude Lord Marley führt seinen Stammbaum auf einen Ritter Wilhelms des Eroberers zurück. Unter den 8192 nächsten Ahnen, die sich bei ihm nach der ,, NationalBiography" lückenlos feststellen lassen, ist kein nichtarisches Wesen wie froh wären die Redakteure der ,, Deutschen Front", wenn sie noch die Namen ihrer Großväter kennten! Es gibt eine Reihe englischer Lords, die Juden sind, der Vizepräsident des englischen Oberhauses ist zufällig keiner. Wenn jemand Adolf Hitler nicht liebt, so ist das gewiß nicht aber wohl doch kein ausreichender Beweis für nichtarische Abstammung.
schön
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Versteht sich, daß die ,, Fränkische Tageszeitung", das Blatt des Julius Streicher , am Tag darauf unter der Ueberschrift ,, Eine jüdische Untersuchungskommission im Saargebiet" bereits feststellt, daß nicht nur der Lord, sondern auch Graf Karolyi, Herr Branting und Herr Tompson Rassejuden sind. Daß sie zum Frühstück jeweils ein Christenkind verspeisen, wird allerdings wohl erst in der nächsten Nummer des ,, Stürmer" berichtet werden.
genügend löchert, geben sie nach." Das ist der eine Grund Die neuen Griechen
für die heut so furchtbare Passivität vor allerhand schlimmster Unethik.
Der andre Grund liegt in einem, na, Prinzip. In dem blöden Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheit fremder Länder. Das ist ein rein- politisches, nicht ein ethisches Prinzip. Ein Dogma der alten Routine, das zuerst fallen muß, wenn die Welt besser werden soll. Ich sage euch: Die größte Gefahr liegt nicht in der Ausübung der Unethik, sondern in ihrer Duldung.
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Ihr braucht keine Angst zu haben vor der Unmenschlichkeit eines Landes: aber vor der Untätigkeit aller übrigen.
X
Ethisch handeln heißt in der Politik nicht immer: sanft handeln. Doch immer: klug handeln.( Seid nur manchmal sanft wie die Tauben wichtiger ist es, klug wie die Schlangen zu sein.) Hierzu gehören zwei Dinge:
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Erstens: Haltet den Gegner nicht für einen gentleman auch wenn ihr gentlemen seid( was ja vorkommen kann). Das wäre der schlimmste Fehler; es vermas euer Tod zu sein.
Zweitens: Denkt niemals: ,, Dahin kommt es nicht, wir leben schließlich im zwanzigsten Jahrhundert." Dies war die Sprache der deutschen Sozialdemokratie... bevor sie unterging.
XI
Monumental, kolossal, pyramidal!
In einer großen Kundgebung der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde im Berliner Sportpalast sprach Alfred Rosenberg über Kunstfragen. Er führte u. a. aus, daß in der vorhergehenden Periode die Kunstwerke wie Börsenpapiere gehandelt worden seien, was, schließlich dazu ge führt habe, daß die Kunst im Zeichen von Sensation, Reklame und Perversion stand, daß die Kunst des Auges dem Auge selbst den Krieg erklärte und daß auch die Baukunst im Zeichen des Nihilismus stand. Der Nationalsozialismus predige gegen die Traditionslosigkeit und für die Rückkehr zum gesunden Menschen. Die kommende Kunst werde monu mental, werkgerecht und artgemäß sein. Aus diesem Gesichtspunkt heraus vollziehe sich auch im neuen Deutschland eine neue griechische Wiedergeburt.„ Wir wollen nicht die gesamte Vergangenheit Deutschlands verherrlichen, sondern aus ihr erwählen, was lebenfördernd für uns geworden ist. Wir wollen auftreten gegen nationalen sowie gegen einen gewissen religiösen Kitsch in der Vergangenheit. Wir haben nicht nur den Mut zur politischen Umgestaltung. sondern auch den Mut, um die kulturelle Umgestaltung Deutschlands einzuleiten. Die Nationalsozialistische Kulturgemeinde wird im Herbst eine Kunstausstellung veranstalten, die den Titel ,, Auslese" führen wird."
Eine dritte, legte Forderung kommt hinzu. Beeilt euch Alter Schmöker" ( presto- presto!) mit der neuen, starken, ethischen Politik: sonst beginnt für Europa morgen eine Epoche, die der römischen Kaiserzeit verdammt ähnlich sieht.
Mit wechselnden Diktaturen, dunklen Bandenführern, unübersehbarem Chaos.
Oder( wenn ihr einen Vergleich aus der Gegenwart wollt): sonst ist morgen unsre Welt ein China ... auf Jahrhunderte.
Wie die Alten sungen
Wenn Kinder spielen...
In einem Artikel über das wissenschaftliche Buch" schreibt das„ Berliner Tageblatt":„ Es meldet sich an den Hochschulen das Bedürfnis nach fester Nahrung. Doch will man nichts von den alten Schmökern, man hat für ihre breitgelagerte Stoffschichtung, für ihre zitaten wütige Begriffsdiskussion keinen Sinn mehr, keine Zeit, schließlich für ihre Umfanglichkeit auch kein Geld... Das neue Lehrbuch muß knapp sein, weil es einem Geschlecht dienen soll, das konkret zu denken bestrebt ist, die Probleme wohl zu sehen, aber in ihrer Relativierung sich nicht verwirren und verirren will."
Jedes Reich hat seine Spiele. Im dritten Reiche" spielt Krieg den Namen
man ,, SA. und Marxisten". Und was tut die SA., wenn sie die Marxisten gefangen hat? Sie tötet sie! Im Dorfe Schmölau spielten eine Anzahl Kinder jenes liebliche braune Spiel. Selbstverständlich wurde der Marxist" zum Tode verurteilt und sollte aus lauter Menschenfreundlichkeit ,, nur" aufgehängt werden. Die kleine ,, SA." hatte das Buch über die Konzentrationslager noch nicht gelesen.
Einem 13jährigen Jungen wurde also der Strick um den Hals gelegt und den ,, Heil Hitler !" schreienden Göhren sollte gezeigt werden, wie man sich der Staatsfeinde entledigt. Leider wurde rus dem Spiel Ernst. Denn der Verurteilte rutschte von seinem erhöhten Platz aus und baumelte plög
lich in der Luft. Ehe die erschreckten Kinder Hilfe herangeholt hatten, war das Urteil des Spiels sehr ernsthaft vollstreckt. Herbeigelaufene Erwachsene nahmen eine Leiche vom Galgen
,, Es genügt nicht, daß die Ullstein Juden aus dem Ullstein- Verlag entfernt wurden, und daß er unter rein arische Kontrolle gebracht wurde, auch der Name Ullstein muß entfernt werden. Dieser Name ist mit der alten jüdischen Ordnung verbunden, mit der Nazi- Deutschland nichts gemein hat und der Name muß um Deutschlands Zukunft willen geändert werden."
Also, ran an die Leiche willen!
Chaplin als Weltbürger
( Deutsche Zukunft".)
- um der ,, deutschen Zukunft"