Völker in Sturmzeiten Nr. 40
Völker in Sturmzeiten
Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers siso ban s
Dienstag, 9. Oktober 1934
Und nun folgen Deutschlands positive Angebote:
,, 1. Deutschland bietet an, mit der eigenen Entwaffnung allen anderen Völkern voranzugehen, um zu zeigen, daß es helfen will, das neue Zeitalter des Rechtsfriedens herbeizuführen. Es gibt die allgemeine Wehrpflicht auf und verringert, von Uebergangsbestimmungen abgesehen, sein Heer auf 100 000 Mann. Es verzichtet sogar auf die Schlachtschiffe, die ihm seine Feinde noch lassen wollen. Aber es setzt voraus, daß es sofort als gleichberechtigter Staat in den Völkerbund aufgenommen wird. Es setzt voraus, daß ein echter Völkerbund entsteht, der alle Nationen einschließt, die guten Willens sind, auch die Feinde von heute. Der Bund muß von einem Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit getragen werden und über eine Zwangsgewalt verfügen, die stark und zuverlässig genug ist, um die Grenzen seiner Mitglieder zu schützen.
2. In territorialen Fragen stellt sich Deutschland rückhaltlos auf den Boden des Wilsonprogramms. Es verzichtet auf seine Staatshoheit in Elsaß- Lothringen , wünscht aber dort freie Volksabstimmung. Es tritt den größten Teil der Provinz Posen , die unbestreitbar polnisch besiedelten Gebiete nebst der Hauptsadt Posen , an Polen ab. Es ist bereit, den Polen durch Einräumung von Freihäfen in Danzig , Königsberg und Memel , durch eine WeichselSchiffahrtsakte und durch besondere Eisenbahnverträge freien und sicheren Zugang zum Meer unter internationaler Garantie zu gewähren. Deutschland ist bereit, die wirtschaftliche Versorgung Frankreichs mit Kohlen, besonders aus dem Saargebiet, bis zur Wiederherstellung der französischen Bergwerke zu sichern. Die vorwiegend dänischen Gebiete Schleswigs werden auf Grund einer Volksabstimmung Dänemark überlassen. Deutschland verlangt, daß das Selbstbestimmungsrecht auch zugunsten der Deutschen in Oesterreich und Böhmen geachtet wird. Es ist bereit, seine sämtlichen Kolonien der Gemeinschaftsverwaltung des Völkerbundes zu unterstellen, wenn es als dessen Mandatar anerkannt wird.
3. Deutschland ist bereit, die ihm nach dem vereinbarten Friedensprogramm obliegenden Zahlungen bis zur Höchstsumme von 100 Milliarden Mark Gold zu leisten, und zwar 20 Milliarden Mark Gold bis zum 1. Mai 1926, alsdann die restlichen 80 Milliarden Mark Gold in unverzinslichen Jahresraten. Diese Raten sollen grundsätzlich einen bestimmten Prozentsatz der deutschen Reichs- und Staatseinnahmen ausmachen. Die Rate wird dem früheren Friedensbudget nahekommen. In den ersten zehn Jahren soll die Rate je eine Milliarde Gold nicht übersteigen. Der deutsche Steuerzahler soll nicht weniger belastet sein als der des höchstbelasteten in der Wiedergutmachungskommission vertretenen Staates. Deutschland setzt hierbei voraus, daß es keine weiteren territorialen Opfer als die vorerwähnten zu bringen hat und wieder wirtschaftliche Bewegungsfreiheit nach innen und außen erhält.
4. Deutschland ist bereit, seine gesamte wirtschaftliche Kraft dem Dienst der Wiederherstellung zu widmen. Es wünscht bei der Wiederherstellung der zerstörten Gebiete in Belgien und Nordfrankreich werktätig mitzuarbeiten. Für den Produktionsausfall der zerstörten Gruben Nordfrankreichs sollen während der ersten fünf Jahre bis za 20 Millionen Tonnen Kohle jährlich geliefert werden. Deutschland wird weitere Kohlenlieferungen für Frank reich , Belgien , Italien und Luxemburg ermöglichen. Ferner ist Deutschland zu bedeutenden Lieferungen von Benzol, Steinkohlenteer, schwefelsaurem Ammoniak sowie Farbstoffen und Arzneimitteln bereit.
5. Schließlich bietet Deutschland an, seinen gesamten Handelsschiffraum in einen Weltpool einzubringen, einen Teil der Frachten dem Gegner zur Verrechnung auf den Schadenersatz zur Verfügung zu stellen und ihnen für eine Reihe von Jahren auf deutschen Werften Tonnage in einer ihre Forderungen übersteigenden Höhe zu bauen.
6. Zum Ersatz der in Belgien und Nordfrankreich vernichteten Flußschiffe bietet Deutschland Flußfahrzeuge aus eigenem Bestande an.
7. Deutschland glaubt, zur beschleunigten Erfüllung seiner Entschädigungsfrist in der Ueberlassung von industriellen Beteiligungen, insbesondere an Kohlengruben zur Sicherung der Kohlenbezüge, einen geeigneten Weg zu sehen.
8. Deutschland will, in Uebereinstimmung mit dem Willen der organisierten Arbeiter der ganzen Welt, die Arbeiter in allen Ländern frei und gleichberechtigt sehen. Es will ihnen im Friedensvertrage das Recht sichern, über die Sozialpolitik und Sozialversicherung selbst entscheidend
mitzustimmen.
9. Die deutsche Delegation stellt erneut ihre Forderung nach einer neutralen Untersuchung über die Verantwortlichkeit für den Krieg und die Schuld während des Krieges. Eine unparteiische Kommission sollte das Recht haben, die Archive aller kriegführenden Länder einzusehen und alle hauptbeteiligten Personen verantwortlich zu vernehmen. Nur die Zuversicht, daß die Schuldfrage unbefangen geprüft wird, kann den verfeindeten Völkern die Gesinnung geben, die notwendig ist, um den Völkerbund zu bauen. Das sind nur die wichtigsten Vorschläge, die wir zu machen haben. Wegen weiterer großer Opfer sowie wegen der Einzelheiten verweist die Delegation auf die Denkschrift und ihre Anlage.
Ein letzter Appell
Die für die Ausarbeitung dieser Denkschrift uns gesetzte Frist war so kurz, daß es unmöglich war, alle Fragen zu erschöpfen. Eine fruchtbare und aufklärende Verhandlung könnte nur in mündlichen Unterredungen stattfinden. Dieser Friede soll das größte Vertragswerk der Geschichte werden. Es gibt kein Beispiel, daß so umfassende Verhandlungen nur durch schriftlichen Notenaustausch geführt worden sind. Die Empfindungen der Völker, die so ungeheure Opfer gebracht haben, verlangt, daß die Bestimmung über ihr Geschick in offenem, rückhaltlosem Ge
dankenaustausch erfolgt nach dem Grundsatz:„ Offene Friedensverträge, die offen zustande gekommen sind; und danach sollen keine internationalen Vereinbarungen irgendwelcher Art mehr geheim getroffen werden, sondern die Diplomatie immer offen und vor aller Welt arbeiten." Deutschland soll den ihm vorgelegten Vertrag mit seiner Unterschrift versehen und ihn erfüllen. Auch in seiner Not ist ihm das Recht zu heilig, als daß es sich dazu hergeben könnte. Bedingungen anzunehmen, für deren Erfüllung es nicht einstehen kann. Wohl haben immer wieder in der Geschichte der letzten Jahrzehnte die Friedensverträge der Großmächte das Recht des Stärkeren verkündet. Aber jeder von diesen Friedensschlüssen gehört zu den Urhebern oder Verlängerern des Weltkrieges. Wo in diesem Kriege der Sieger zum Besiegten gesprochen, in Brest- Litowsk und Bukarest , waren seine Machtworte nur eine Aussaat künftigen Unfriedens. Die hohen Ziele, die zuerst unsere Gegner für ihre Kriegführung aufgestellt haben, das neue Zeitalter gesicherten Rechtsfriedens, erfordern einen Vertrag von anderer Gesinnung. Nur ein Zusammenarbeiten aller Völker, ein Zusammenarbeiten der Hände und der Geister kann einen Dauerfrieden schaffen. Wir täuschen uns nicht darüber, wie stark der Haß und die Erbitterung sind, die dieser Krieg erzeugte; und doch sind die Kräfte, die für eine Einigung der Menschheit am Werke sind. jetzt stärker als je zuvor. Es ist die geschichtliche Aufgabe der Friedenskonferenz von Versailles , diese Einigung herbeizuführen."
Berufung auf die 14 Punkte Wilsons
Diese Mantelnote war die knappe Zusammenfassung einer sehr ausführlichen Denkschrift, in der zu den einzelnen Bedingungen des uns übermittelten Entwurfs eingehend Stellung genommen wurde. Diese Stellungnahme wurde in jedem einzelnen Falle besonders begründet. So entstand ein umfangreiches Dokument, das als Ersatz für die verweigerten mündlichen Verhandlungen dienen sollte.
Leitender Gedanke dieser Gegenvorschläge war, daß wir versuchen müßten, die Gegner zu den 14. Punkten Wilsons zurückzuführen. Jeder unvoreingenommene Beurteiler wird heute zugeben müssen, daß, das deutsche Angebot dem Wilson- Programm unvergleichlich besser entsprach, als der Entwurf der Sieger. Und wer wird bestreiten wollen, daß Europa heute viel friedlicher sein würde, wenn man auf dieses Angebot eingegangen wäre? Damals freilich dachten die Sieger nur an eine Art des Friedens": nämlich an die größtmögliche Schwächung Deutschlands auf allen Gebieten und mit allen Mittelu: wirtschaftlichen, territorialen, strategischen, moralischen. So war das Wilson- Programm mißbraucht worden, um alles aus ihm herauszuholen, was sich gegen Deutschland anwenden ließ. Dort, wo es zugunsten des deutschen Standpunktes sprach hatte man sich einfach darüber hinweggesett.
Westen und Osten
Es war wohl ein Fehler, daß die Gegenvorschläge die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts in einem Atemzuge für die Deutschen in Oesterreich und in Böhmen forderten. Etwas mehr realpolitische Geschmeidigkeit wäre hier angebracht gewesen, um nicht das Durchführbare durch das Unerreichbare zu belasten In bezug auf Elsaß- Lothringen nicht gefor
-
wurde eine Volksabstimmung gewünschtmaligen Ver
dert. Auch diese Anregung war unter den hältnissen eine Illusion. Seit ihrem Einzug in Straßburg war für die Franzosen die Parole Poincarés Le plébiscite est fait! Die Abstimmung ist vollzogen!" feststehender Grundsatz. Heute allerdings bedauern manche kluge Frauzosen angesichts der autonomistischen Bestrebungen, daß sie damals jene Volksabstimmung so hochmütig ablehnten, die ihnen zweifellos einen überwältigenden Erfolg gebracht und allen späteren Rekriminationen einen Riegel vorgeschoben haben würde.
Im Osten war das deutsche Angebot gewiß sehr weit entfernt von den ursprünglichen Forderungen der Sieger. Indessen war es nicht möglich, so gleich unser letztes Wort auszusprechen. Gegenüber den Maximalforderungen der Entente war es notwendig, eine Art Mindestangebot zu unterbreiten, in der Hoffnung, daß man sich schließlich auf einer mittleren Linie einigen würde. Diese mittlere Linie wäre eine Volksabstimmung in den strittigen Gebieten gewesen. Bezüglich Oberschlesien war man relativ unbesorgt: hatten doch die Wahlen zur Nationalversammlung in dieser Provinz trotz polnischer Stimmenthaltungsparole eine Beteiligung von rund 60 Prozent für die verschiedenen deutschen Listen ergeben. Posen dagegen galt von vornherein als verloren. Am schwierigsten war das Problem Westpreußen - Danzig . Die Schaffung des Korridors zu vermeiden, war das Hauptziel der deutschen Abordnung. Demgegenüber stand das Versprechen Wilsons an Polen , ihm einen freien Zugang zum Meere zu verschaffen. Eine Volksabstimmung in West preußen einschließlich Danzigs hätte eine überwältigende Mehrheit für Deutschland ergeben, ohne Danzig war das Ergebnis zumindest zweifelhaft. Auch hier hoffte man durch das Angebot von poluischen Freihäfen an der Ostsee , vou
Eisenbahuverträgen und Flußschiffahrtsabkommen die Grundlage für eine Einigung auf der mittleren Linie zu schaffen. Tiefstes Mißtrauen!
zerstückeln.
Alles in allem waren die deutschen Gegenvorschläge in territorialer Hinsicht durchaus fair und es hätte sich auf dieser Grundlage zweifellos eine Einigung erzielen lassen können, wenn nicht vor allem Frankreich durch den Gedanken hypnotisiert gewesen wäre, Deutschland im Osten zu Dieser Gedanke entsprang vorwiegend militärisch- strategischen Erwägungen: Frankreichs traditionelle Politik vor dem Kriege beruhte auf dem Bündnis mit Deutschlands Nachbarn im Osten, Rußland . Damals kümmerte man sich herzlich wenig um die„ polnische FreundFreiheitskämpfe wurden der diplomatischen und militärischaft", die sentimentalen Erinnerungen an die polnischen
schen Solidarität mit dem zaristischen Rußland schlankweg geopfert. Nach dem Abfall Sowjet- Rußlands von der Entente wurde Polen die frühere militärische Aufgabe Rußlands gegen Deutschland zugedacht. Man verbrämte diese Politik mit den auf einmal wieder entdeckten althergebrachten Sympathien der westlichen Demokratien für das polnische Freiheitssehnen, aber das wahre Motiv war rein strategischer Natur. Darin hat sich seit zehn Jahren leider nicht viel geändert, aber einsichtige und wirklich demokratische Franzosen erkennen immer deutlicher, daß die deutsch - französische Verständigung mindestens so wichtig auch im franzö sischen Interesse ist, wie eine hundertprozentige Solidarität mit Polen . In den Zeiten von Versailles dachte Frankreich aber an alles andere als an die Möglichkeit einer späteren Versöhnung mit Deutschland . Deutschland mit allen Mitteln - das war der einauf möglichst lange Zeit niederzuhalten
zige Gedanke Clemenceaus und seiner Mitarbeiter. Nicht allein der Haß hatte diese Politik diktiert, sondern vor allem die Angst. Eine nur allzu begreifliche Angst, wenn man bedenkt, welche furchtbaren Prüfungen Frankreich während des Krieges auf eigenem Boden erduldet hatte. Obwohl es fast die ganze Welt auf seiner Seite zählte, während Deutschland von Anfang an nur morsche Staaten als Bundesgenossen gewonnen hatte, war es den Franzosen fünfzig Monate lang nicht gelungen, die Deutschen aus Nordfrankreich und Belgien militärisch zu vertreiben. Den Grad des deutschen Zusammenbruchs erkannte man in Paris nicht, oder man hielt ihn für eine rein vorübergehende Erscheinung. An die geistige Wandlung in Deutschland seit der Revolution wollte man nicht glauben, oder jedenfalls sie nicht zugeben: denn von dem Augenblick an, wo man diese Wandlung anerkannte, wäre man zu einer loyalen Behandlung des besiegten deutschen Volkes, entsprechend den eigenen feierlichen Zusagen, verpflichtet gewesen. Miẞtrauen war, teils aus Ueberzeugung, teils aus Bareng, die Parole der französischen Unterhändler.
Zu höflich, um ehrlich zu sein"
Erst kürzlich hat der hauptsächliche militärische Berater Clemenceaus, General Mordacq, in seinem Erinnerungsbuch über den Waffenstillstand eine Episode erwähnt, die für dieses grundsägliche Mißtrauen charakteristisch ist. Er schildert, wie am 10. November vormittags der Marschall Foch vom Ort der Waffenstillstandsverhandlungen berichtete,
,, daß die deutschen Abgesandten sich besonders entgegen. kommend, ja zuvorkommend zeigten und daß sie, um wie sie sagten ein überflüssiges Blutvergießen zu vermeiden, Wert darauf legten, die Stellen anzugeben, an denen sich Erdminen in den von den französischen Truppen neueroberten Gebieten befanden."
,, Zu höflich, um ehrlich zu sein." so rief Clemenceau aus, als ich ihm diese ausgezeichneten, aber seltsamen Absichten meldete.... Wie dem auch sei, mit solchen Kerlen muß man vorsichtig sein."
Das war am vorletzten Tage des Krieges. Aber Clemenceau war sechs Monate später genau derselbe geblieben. Und sein grenzenloses Mißtrauen gegen Deutschland wurde zweifelos von den meisten Alliierten geteilt. Es galt nun in erster Linie, dieses Mißtrauen durch eine weithin sichtbare Tat zu zerstören, oder wenigstens zu erschüttern. Deshalb stellten die deutschen Gegenvorschläge vor allem ein fast restloses Eingehen auf die Abrüstungsbedingungen des Entwurfs dar. Ja, die deutsche Delegation ging sogar spontan noch weiter, indem sie auf die Schlachtschiffe freiwillig verzichten wollte, die uns der Vertrag beließ( allerdings, wie in der ausführlichen Denkschrift erläutert wurde, unter entsprechenden Gegenleistungen finanzieller Natur). Voraussetzung war lediglich die sofortige Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund und die Erfüllung des Versprechens einer darauf folgenden allgemeinen Abrüstung auch der Siegerstaaten. Innere Auseinandersetzungen in der deutschen Delegation
Diesem Teil der Antwort waren schwere Kämpfe innerhalb der deutschen Delegation vorausgegangen. Namentlich der General von Seeckt hatte sich gegen die Bereitschaft zum Verzicht auf die allgemeine Wehrpflicht auf das entschiedenste gesträubt. Als er mit seiner Ansicht nicht durchdrang, verließ er Versailles mit seinen militärischen Begleitern. Wenn aber heute von deutschnationaler Seite der Versuch gemacht wird, wie das kürzlich in der ,, Kreuz- Zeitung " geschehen ist, die Dinge so darzustellen, als wäre auch Brockdorff- Rantzau damals von sozialistischer und demokratischer Seite in diesem Punkte überstimmt worden, so ist das eine plumpe Geschichtsfälschung, die man sich nur leisten kann, weil der deutsche Delegationsführer inzwischen gestorben ist. Aber sein Bruder, der Graf zu Rantzau, hat inzwischen, obwohl selbst ein durchaus konservitav denkender Mann, mit Recht festgestellt, daß sein Bruder nicht gewohnt war, für Dinge verantwortlich zu zeichnen, die er selbst innerlich nicht billigte. ( Fortsetzung folgt) bes