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Nr. 235 2. Jahrgang

Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Mittwoch, den 10. Oktober 1934 Chefredakteur: M. Braun

Nazi entdeckt Palästina

Ecneuerung

der österreichischen Sozialdemokratie

Seite 4

Parteitage in England

O. G. London  , 7. Oktober. Englands Innenpolitik stand vergangene Woche im Zeichen der beiden Parteitage der Parteien, die um die Herrschaft in England ringen: der Konservativen und der Labour Party  . Die Konservativen debattierten zwei Tage

G'orifizierung des Judentums durch den Angriff' lang in Bristol  , die Labour Party   fünf Tage lang in South­

Ein Nazi wird in Palästina bekehrt

Berlin  , 9. Oktober. In Ermangelung zugkräftiger Ber­dummungsparolen ist Reichslügenminister Goebbels   vor einiger Zeit auf eine teufliche Idee gekommen. Er beauf­tragte den Chefredakteur seines Angriff" Schwarz van Berf, einen tüchtigen nationalsozialistischen Journalisten nach Palästina zu entsenden. Van Berk suchte sich einen zu­verlässigen Journalisten aus und gab ihm entsprechende Richtlinien für die Reise". Er machte dem jungen Mann klar, daß seine Reiseschilderung der nordischen Rasse zum Ruhme und dem Judentum zur ewigen Schande sein müsse. Der Journalist müßte schildern, wie die Juden in Palästina  schachern, stehlen, betrügen, kurzum dem deutschen   Volke zeigen, wie diese Ausgeburt der Hölle dort im gelobten Land sich austobt. Van Berf gab auch dem jungen Jour­nalisten einige Nummern des Stürmers" mit, in denen ein angeblicher Diplomat eine Schilderung über Palästina in der üblichen vornehmen Form des Streicherschen Schmier­blattes schildert.

Der Völkische Beobachter" und der Angriff" fündigten in ganzseitigen Inseraten die bevorstehende Sensation an. ,, Ein Nazi fährt nach Palästina." So wird die neueste auf fehenerregende Artifelserie im Angriff und Bölfischen Beobachter" lauten. Diese ganzseitigen Inserate waren voll von gemeinsten Anpöbeleien gegenüber den Juden, und man fonnte sich danach ungefähr schon ein Bild von der neuesten nationalsozialistischen Gemeinheit machen.

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Nun hat die Artikelserie im Angriff" begonnen. Neu­gierig stürzten sich die Leser auf die Artikel, die unter dem Pseudonym Lim" erscheinen und es muß offen zugegeben werden diese Artikel stellen eine ungeheure Sensation dar, denn sie bedeuten nicht eine Verurteilung, sondern eine Glorifizierung des Judentums und des jüdischen Menschen. Wie kam das? Ganz einfach. Der junge nationalsozialistische Journalist fam nach Palästina mit den üblichen Vorurteilen gegen die Juden. Er kannte den jüdischen Menschen nur nach dem Streicherschen Stürmer", nach dem Pamphlet des Herrn von Leers Juden sehen Dich an", nach den Artikeln des Angriff" und nach der nationalsozialistischen Bibel Mein Kampf  ". Er suchte die Gauner, Schieber und Aus­beuter.

Statt dessen fand er ein fleißiges und arbeitsames Volt, das mit einem beispiellosen Enthusiasmaß im Kampf gegen die Wüste, im Kampf gegen die Natur steht, ein Bolf, das im Schweiße seines Angesichts unter schwersten Umständen fich eine neue Existenz aufbaut.

Der Hauch der tausendjährigen Kultur, der Kultur eines Volkes, das zu einer Zeit, als die Vorfahren dieses jungen nationalsozialistischen Journalisten im Teutoburger Wald  in Ochsenhäuten herumliefen, der Welt das Buch der Bücher, die Psalmen und die Propheten schenkte und jenen Naza­rener, dessen Persönlichkeit hente besudelt wird, indem man in Deutschland   seine jüdische Abstammung bezweifeln will. Je mehr dieser Nazi Einblick in das Leben Palästinas   ge­wann, desto, mehr verblaßte in seiner Vorstellung das ver­zerrte Bild über das Judentum, das er, der Verheyte bisher hatte. Und als dieser junge Nationalsozialist, dieser Send­ ling   Goebbels  , Palästina verließ, da wurde aus dem nativ­nalsozialistischen Saulus ein judenfreundlicher Paulus. Das große Wunder ist geschehen, und der Angriff ist wider seinen Willen gezwungen, ein Loblied über den jüdischen Aufbau und den jüdischen Menschen zu fingen. Man höre und staune, was der Lim" im Goebbelschen Organ schreibt:

Ein jüdischer Tankwart hatte ihn vor der Straße Tulkerem -Tel- Aviv gewarnt, da sie schlecht sei. Tatsächlich gerät Lim auch in Autofalle. In dieser ungemütlichen Situation sieht er einen Lastwagen herannahen. Er erlebt folgende Szene:

Also die Juden sind eines vorbildlichen Kamera18= finns fähig? Bisher haben wir im Angriff" darüber ganz andere Dinge gelesen. Tort schrieb Goebbels  , Kube und Kon sorten, daß die Juden eine Pest seien und die Menschheit ausbeuteten, und daß man sie deshalb ausmerzen muß.

Aber es kommt noch besser. Lim besucht eine Reihe von jüdischen Kolonien, er fommt in die berühmte Kinderfelonie Ben Schemen und zeigt überall, wie durch jüdische Ar­keit der Wüste der Boden entrissen wurde. Er macht eine Reise durch das Emet Jesreel   und erzählt, wie dort die Malaria die Siedler aus dem Sumpfgebiet vertrieb, bis die Juden kamen, die cs auf sich nahmen, den Sümpfen zu Leibe Malaria die Siedler aus dem Sumpfgebiet vertrieb, bis die zu gehen.

Und er erzählt dann weiter, wie das große Wunder ge= schah, wie es die Juden fertiggebracht haben, in 10 Jahren aus dieser Malaria: und Steppengegend einen Kulturboden zu machen, wie dort, wo einst nur Wüste war, blühende Kolonien entstanden sind.

Das Kameradschaftsleben in den Kolonien macht auf den daß diese Juden sich dort gegenseitig helfen, schwere Arbeit Sendling Goebbels einen großen Eindruck. Er stellt fest, leisten und die Grundlage für ein neues Gemeinschaftswesen daß dieje Juden sich dort gegenseitig helfen, schwere Arbeit schaffen. Er stellt ferner fest, daß diese Juden in den Kolonien den Gemeinschaftsgedanken in die Tat umsetzen. Dort herrscht nicht der betrügerische Hitler  - Sozialismus, dort herrscht wahrer Kollektivismus. In der Kolonie Giwath Brenner wird er liebenswürdig empfangen. Die Kolonisten begehen keinen Ritualmord an ihm, ja sie laden ihn zu ihrem be= scheidenen Mahl in ihrem Kollektivspeisehaus ein. Und hier muß dieser Germane sich seines Landes schämen. Was er weiter im Angriff" schreibt, ist eine versteckte Anklage gegen die Judenverfolgungen in seiner Heimat.

An der Rückseite des Saales, so schreibt Lim fißen zwei junge Juden. Ihre Gefichter zeigen noch die Blässe der nordischen Stadt. Unter den braungebrannten Gestalten fallen fie fofort anf. Ja sagt unser Führer- das sind zwei Deutsche  . Sie sind erst vor zwei Wochen zu uns ge= tommen. Es fällt Ihnen nicht leicht, sich einzugewöhnen, aber sie werden es schon schaffen."

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Lim kommt auch nach Tel- Aviv  , und er sagt, diese Stadt ist beispiellos". Am Badestrand trifft er, wie er schreibt, Berlin   wieder ,,, während das übrige Tel- Aviv   vom Arbeiter mit Bluse und Müze beherrscht wird."

" Man kann verstehen, fagt Lim, daß das jüdische Herz höher schlägt, wenn es in dieser Stadt schlagen darf, Kind­liche Freude daran, daß das alles Juden gebaut haben, Juden, beraten, Juden leiten."

Er sieht mit eigenen Augen den Aufbau Palästinas. Er ist erstaunt, daß dieses Volf, das ja angeblich nur schachern, handeln und zersetzen, nicht aber aufbauen fann, ein solches Aufbauwerk vollbringt. Und es wird ihm ängstlich dabei um die Zukunft des deutschen   Exports im Orient,

" Diese junge Industrie," gesteht Lim, birgt für Europa  in den Ländern des nahen Orients eine schwere Konfur­renz. Noch ist sie in den Kinderschuhen, aber sie wächst von Tag zu Tag."

So geht es weiter, spaltenlang. Aus der Anklage gegen das Judentum wird eine Glorifizierung des Judentums. das Judentum wird eine Glorifizierung des Judentums. Goebbels  , in einer Zeit, wo Hitler Reichsführer   ist und in All das erscheint im Angriff", im Organ des Judenhezers Nürnberg seinen Freund Julius Streicher   herzlichst be­grüßt. Es geschehen Wunder auf dieser Welt! Wahrlich, Jehova hat furchtbare Rache genommen. Er ließ durch die Feder eines Nationalsozialisten die nationalsozialistische Judenhezze als eine der niederträchtigsten Lügen des 20. Jahrhunderts entlarven.

Es ist das Lieferanto einer jüdischen Siedlung. Der Großer Hochverratsprozeß"

Chauffeur hält sofort, kommt heran. Hier gleich ein allge= meines Wort über die Kameradschaft auf der Landstraße in Viele Jahre Kerker Palästina. Ich fand sie stets vorbildlich, uneigennützig bis zum letzten, einerlei, ob bei Arabern oder Juden. Meine Retter machen weiter gar kein Aufhebens, holen ihren großen Wagenheber. Zwei Araber, die auf dem Wagen faßen, helfen und in fünf Minuten ist der Wagen heraus geholt. Ich fahre etwas zurück und umgehe die Stelle. Den Juden fann ich nicht bewegen, ein Ent= gelt für seine silfe anzunehmen. So fällt für

die Araber ein besonderes Batschisch ab."

Köln  , 8. Oktober.

Am Samstag ging der Prozeß wegen Vorbereitung zum Hochverrat gegen 67 Angeklagte vor dem Straf­ſenat des Oberlandesgerichts Hamm, der die Verhandlung im Kölner   Schwurgerichtssaal durstführte, zu Ende. Das Ge­richt verurteilte wegen kommunistischer" Umtriebe, be­gangen 1933, einen Angeklagten zu zwei Jahren drei Mo­naten Zuchthaus, die übrigen Angeklagten zu Gefängnis­strafen bis zu zwei Jahren zwei Monaten. 16 Angeklagte wurden freigesprochen.

port. Es scheint fast parador, daß die Konservativen, die nach wie vor die stärksten Wurzeln ihrer Kraft aus dem flachen Lande ziehen, als Tagungsort eine industrielle Großstadt wählten, während die Labour Party  , die sich aus Industrieproletariat rekrutiert, in einem stillen Seebade­ort der Westküste tagte Logik hat nun einmal in Eng­land nichts zu suchen.

Der Labour Parteitag

Sensationelles hat sich in Southport   nicht ereignet. Dap eine starke Mehrheit die radikale Vorschläge der Socialist League, die von Sir Stafford Cripps   ge­führt wird, ablehnen würde, stand von vornherein fest, da die gemäßigten Gewerkschaften, die Kollektivmitglieder der Partei sind und en bloc abstimmen, allein über eine erhebliche Mehrheit im Parteitag verfügen. Freilich war die Mehrheit für gemäßigten Rurs noch stärker als man voraussehen konnte. Jm all­gemeinen vollzog sich der Parteitag in einer ruhigen und würdigen Atmosphäre. Nur am ersten Tage gab es eine erregte Debatte, die einmal sogar zu einer Sturmszene führte.

Diese Debatte drehte sich um den Beschluß des Partei­vorstandes, wonach Zugehörigkeit zum Hilfskomitee für die Opferdesdeutschen und österreichi­schen Faschismus unvereinbar mit der Mitgliedschaft zur Labour Party   sei, da dieses Romitee nur eine kommu nistische Nebenorganisation sei. Dieser Beschluß wurde heftig angegriffen von Lord Marley, dem Vorsitzen den des englischen Komitees, von Harold Laski   und vor allem von dem jungen leidenschaftlichen Bergarbeiter­funktionär Aneurun Bevan. Für den Vorstand ant­wortete Herbert Morrison  , der die sachliche Schärfe durch Humor milderte, für die Gewerkschaften der Transportarbeiterführer Bevin in einer ziemlich derben Rede; der Sturm aber wurde ausgelöst durch eine taktlose Bemerkung eines Redners des rechten Flügels, des früheren Bergbauministers Shin well, der persönliche Dinge hineinzog, und sich schließlich öffentlich entschuldigen mußte. Sachlich ging der Standpunkt des Parteivorstandes mit großer Mehrheit durch.

Wenn der Völkische Beobachter" und Blätter ähnlichen Kalibers in diesem Beschluß eine Absage der Labour Party   an die Emigranten und eine Annähe rung an das Hitlerregime erblicken, so ist das natürlich heller Unsinn. Hat doch der Präsident des Parteitages in seiner Eröffnungsrede in den schärfsten Worten gegen den Faschismus Stellung genommen, hat doch der Parteitag einstimmig eine Resolution ange­nommen, die von der englischen   Regierung mehr Ent gegenkommen gegen die deutschen Emis granten fordert. Bei dem Bann gegen das Hilfskomitee handelt es sich lediglich um ein Ergebnis des scharfen Gegensatzes der Labour Party   zu den Kommunisten, die hinter dem Komitee stehen. Es ist sicher richtig, daß die Labour Party   und die Gewerkschaften ohne viel Lärm durch den Matteottifonds mehr Hilfe geleistet haben als das genannte Komitee. Aber ein Vorwurf Bevans konnte nicht widerlegt werden: weshalb hat die Labour Barty nicht vor den Kommunisten eine Organisation ges schaffen, in der gleich dem Hilfskomitee freiheitliebende Männer und Frauen aus allen Parteien zusammen mit führenden Wissenschaftlern, Künstlern und Geistlichen den Kampf gegen die Nazibarbarei und für seine Opfer auf­nehmen? Materielle Hilfe ist ja nicht das einzige, worauf es ankommt. Hier waren die Kommunisten die besseren Psychologen.

Die Hauptdebatte in sachlicher Hinsicht ging um zwei Fragen: um die Außenpolitik und um die Frage der Ent­schädigung der Kapitalbefizer im Falle der Sozialisierung. Hier machte die Socialist League ihre Hauptvorstöße. In Der Außenpolitik gingen freilich verschiedene Störmungen durcheinander. Der Vorstand und die Ge­werkschaften wollten die Frage des Generalstreiks bei Kriegsausbruch in den Hintergrund schieben, da man sich jeweils nach den gegebenen Umständen richten müsse. Vorstand und Gewerkschaften( Sprecher waren Henderson und Bevin) wollten die Bewegung dem Völkerbund zur Verfügung stellen. Sie vertreten den Standpunkt, daß nur durch Kollektivaktionen der Friede zu sichern sei. Aber solche Kollektivaktionen könnten unter Umständen Sanktionen mili