Völker in Sturmzeiten
Völker in Sturmzeiten Nr. 44
Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers
Mittwoch, 10. Oktober 1934
Gerade in diesem Punkt ist Brockdorff- Rantau gegenüber Seeckt fest geblieben, weil er einmal allem Militaristischen abhold war und weil er zweitens die Notwendigkeit dieses Versuches klar erkannte, das Mißtrauen der Gegner durch eine weithin sichtbare Tat ad absurdum zu führen.
Richtig ist das sei schon jetzt bemerkt, daß dieser Versuch miẞlang. Die Antwort Clemenceaus vom 16. Juni begnügte sich mit der kaltschnäuzigen Registrierung der deutschen Bereitwilligkeit. Auf das Angebot bezüglich der Schlachtschiffe ging sie überhaupt nicht ein offenbar, weil
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es den Siegern die Sprache verschlagen hatte und weil jede Antwort darauf nur ihre Verlegenheit gegenüber diesem klaren Beweis der friedlichen Gesinnung des deutschen Volkes enthüllt haben würde.
Dieser Teil der deutschen Vorschläge ist übrigens damals in der deutschen Oeffentlichkeit kaum angegriffen worden. Für die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes war die Heeresfrage von sehr nebensächlicher Bedeutung im Vergleich zu den schnerzlichen Gebietsabtretungen und drückenden Finanzlasten, die es vor allem anderen abzuwenden galt.
Hundert Milliarden Goldmark
Um so mehr wurde das finanzielle Angebot kritisiert, das die deutschen Sachverständigen gemeint hatten, verantworten zu können: Die vorgeschlagene Entschädigungssumme von 100 Milliarden Goldmark wurde als wahnsinnig hoch und unerfüllbar bezeichnet. Da unter den deutschen Sachverständigen auch jüdische Bankiers wie Melchior, War burg und Wassermann waren, benutzten die rechtsradikalen Kreise dieses Angebot zu einer antisemitischen Hezze. Die Juden wollten das deutsche Volk an das Ententekapital verkaufen. An der Hamburger Börse , wo Melchior und War burg eine führende Rolle spielen, kam es zu antisemitischen Kundgebungen. Daß auch durchaus arische" und sogar rechtsgerichtete Finanziers wie Urbig und von Stauß diesen Vorschlag mitverantwortet hatten, störte diese Kreise natürlich nicht. Ueberhaupt konnte man in den Wochen von Ver sailles die ersten stärkeren Symptome einer Wiedergeburt der antisemitischen Bewegung in Deutschland beobachten. Die 100 Milliarden waren nur ein bequemer äußerer Anlaß dazu.
Wie verhielt es sich in Wirklichkeit mit diesem Angebot? Sein Grundgedanke war, deutsches Land dem Reiche zu erhalten durch ein ungeheures finanzielles Opfer, das den Siegern in die Augen springen würde: 100 Milliarden Gold,
mußte diese Summe nicht eine gewisse faszinierende Wirkung ausüben? Die hauptsächliche Voraussetzung war freilich klar betont: daß Deutschland keine weiteren Gebietsverluste erleide als Elsaß- Lothringen , den größten Teil der Provinz Posen und die nördliche Abstimmungszone von Schleswig . Dagegen sollten Westpreußen und Danzig sowie
Gegenseite bei der erwarteten Ablehnung moralisch ins Unrecht zu setzen. Die Kriegsschuldfrage beschäftigte in den ersten Jahren nach dem Kriege die Gemüter hüben und drüben weit mehr, als es heute der Fall ist. Das war psychologisch begründet. Vor allem aber war im Friedensvertrag die Wiedergutmachungspflicht Deutschlands aus dessen ausschließlicher Verantwortung am Kriegsausbruch hergeleitet. Nicht im Interesse einer Ehrenrettung des kaiserlichen Deutschland , sondern im Interesse der historischen Wahrheit und vor allem, um den finanziellen Lasten ihre scheinheilige Begründung zu nehmen, war Deutschland genötigt, dem Artikel 231 mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Natürlich wurde der Vorschlag der Einsetzung einer unparteiischen Studienkommission von der Gegenseite rundweg abgelehnt, oder vielmehr in ihrer Antwort nicht einmal erwähnt. Vielmehr wiederholte Clemenceau in seiner Mantelnote vom 16. Juni die Anklagen der Entente in verschärfter Tonart, allerdings auch nur in ganz allgemeinen Redensarten ohne jeden historisch- wissenschaftlichen Wert. Die Kolonien
Unmittelbar vor der Uebergabe der Gegenvorschläge waren die meisten Sachverständigen abgereist. Vor ihrer Abfahrt hatte Brockdorff- Rantzau an sie eine Ansprache gerichtet, um ihnen für ihre Mitarbeit zu danken und die Hoffnung auszusprechen, daß er nochmals an sie würde appellieren müssen, falls sich nämlich die Gegner doch noch entschließen sollten, den Weg der mündlichen Verhandlungen zu beschreiten.
Diese Hoffnung war zwar nur noch sehr gering, aber das deutsche Angebot erschien uns so weitgehend und so fair, daß wir allgemein dachten, es würde wenigstens auf einen Teil der Alliierten einen starken Eindruck machen. Noch immer rechnete man vor allem auf Lloyd George , von dem man wußte, daß er selber mündliche Verhandlungen wünschte. Indessen hatte man, wie mir scheint, einen Fehler gemacht, durch den man sich die Hilfe des britischen Premierministers verscherzte: Man hatte sich nicht dazu entschließen können, die Kolonien preiszugeben und ledig. lich die Anrechnung ihres Wertes auf die deutsche Reparationssumme vorgeschlagen. Die Kolonialfrage war aber gerade der schwache Punkt der britischen Position gegenüber den übrigen alliierten. England hatte sich den Löwenanteil an der Kolonialbeute gesichert, allerdings erst nach einem heftigen Kampf mit den Franzosen , Italienern und Japanern. Kam es zu mündlichen Verhandlungen mit den Deut schen , dann, mußte Lloyd George befürchten, daß auch die Kolonialfrage abermals aufgeworfen werden könnte. Mit dieser Drohung hielten die Franzosen die Briten bei der Stange. Zugegeben, es war für die Deutschen psychologisch sehr schwer, sich in dieser Frage kampflos zu fügen und die
Von
maßlose Heuchelei der Abtretung an den Völkerbund" stillschweigend zu erdulden. Aber rein realpolitisch betrachtet, wäre es vielleicht doch zweckmäßiger gewesen, denn nur so konnte man einen festen Keil zwischen Lloyd George und Clemenceau treiben.
Was es sechs Jahre später gewesen wäre
Man mag heute nachträglich noch diese oder jene Einzelheit an den deutschen Gegenvorschlägen kritisieren. Solche Kritik ist leicht und billig. Damals war es jedenfalls sehr schwer, die richtige Grenze zu ziehen: Wie weit mußten wir gehen, damit unser Angebot ernst genommen und diskutiert werde, wie weit durften wir gehen, ohne uns Blößen zu geben und ohne dem Feind das Spiel allzu leicht zu machen? Im großen und ganzen scheint es aber, daß die Delegation das Richtige getroffen hat. Das deutsche Angebot war diskutabel und die ganze Welt, mit Ausnahme vielleicht von Polen , wäre heute weit besser daran, wenn der Friede auf der Grundlage der deutschen Gegenvorschläge geschlossen worden wäre. Man kann sogar ruhig sagen: würde der Friede, anstatt in einer Epoche der allgemeinen Kriegspsychose, sechs Jahre später, in der Zeit von Locarno und Thoiry, geschlossen worden sein, er würde ungefähr so ausgesehen haben, wie ihn die deutsche Delegation am 29. Mai 1919 vorgeschlagen hat.
Damals freilich war leider nicht daran zu denken. Das sollten wir bereits am Tage nach der Uebergabe unseres Angebots erkennen. Denn die Sache fing damit an, daß der Oberste Rat der Alliierten über die deutschen Gegenvorschläge die Zensur verhängte! Es durfte in den Ententeländern nur das offizielle Resümee veröffentlicht werden, das die Leitung der Pariser Friedenskonferenz herausgab. Die deutsche Denkschrift selbst, also die Einzelheiten des deutschen Vorschlages, seine überzeugende Begründung, all das wurde der öffentlichen Meinung der Siegerländer einfach unterschlagen. Dafür bezeichnete schon am ersten Tage die Pariser bürgerliche Presse übereinstimmend das deutsche Angebot als eine ,, Unverschämtheit". Als wir dieses Echo vernahmen, wußten wir, daß von einem mit solchen Mitteln arbeitenden Gegner kaum noch etwas Gutes zu erwarten
wäre.
Der volle Wortlaut der deutschen Gegenvorschläge ist dann bald danach zur Veröffentlichung freigegeben worden: nämlich am 17. Juni, nach der Uebergabe der endgültigen Bedingungen der Entente: also erst dann, als man nicht mehr zu befürchten brauchte, daß die öffentliche Meinung in England, in Amerika , in Italien und sogar in Frankreich auf den Inhalt des deutschen Angebotes und auf seine Begründung sympathisch reagieren könnte.m
So geschehen im Zeichen der 14 Punkte Wilsons, dessen erster gelautet hatte: Offene und öffentlich abgeschlossene Friedensverträge..... Die Diplomatie soll immer aufrichtig und vor aller Welt getrieben werden."
im Auftrage des Völkerbundes weiter verwalten dürfen.
Das Privateigentum
Auch wirtschaftliche, namentlich handelspolitische Voraussetzungen waren an das Angebot geknüpft: z. B. die Rückgabe des während des Krieges im Auslande beschlagnahmten Privateigentums, die sofortige Handelsgleichheit mit den Vertragsparteien, die Beibehaltung einer eigenen Handelsflotte usw. Was die erste Schuldverschreibung in Höhe von 20 Milliarden betrifft, so wäre sie durch die nach dem Waffenstillstand erfolgten Zwangslieferungen in Kriegsmaterial selbst wenn man nur dessen Schrottwert berücksichtigt, an Eisenbahnmaterial, an landwirtschaftlichen Maschinen usw., die gutgeschrieben werden sollten, nicht unerheblich reduziert werden. Ebenso hätte die Anrechnung eines prozentualen Anteils der abzutretenden Gebiete an den deutschen Staatsschulden sowie der Wert der dortigen Eisenbahnen und Staatsgüter, und schließlich die Anrechnung der noch zu erfolgenden Sachleistungen in Kohle, Benzol usw. die erste Rate weiter vermindert. Wieviel sie letzten Endes am Fälligkeitstermin vom 1. Mai 1926 betragen hätte, läßt sich schwer sagen, aber es wären jedenfalls noch viele, viele Milliarden gewesen, die Deutschland in diesen ersten fünf Jahren bezahlt haben würde. Dann würde Deutschland zehn Jahre lang je eine Milliarde aufgebracht haben und vom Jahre 1937 an weitere Annuitäten, die die deutsche Delegation selbst auf beinahe die Summe des letzten Friedensangebots- schätzte, das sind mehr als zwei Milliarden Gold.
Ablehnung der Studienkommission
Heute gibt es viele Franzosen und Engländer, die bedauern, daß man auf dieses Angebot damals nicht bereitwillig eingegangen sei. Als typisch für diese Stimmung mag der Kommentar angesehen werden, mit dem im September 1928 ein bekanntes Pariser Blatt das Bild des verstorbenen Grafen Brockdorff- Rangau versah: Der Mann, der uns in Versailles 100 Milliarden Goldmark anbot, die wir leider ablehnten." dat
Auch wenn man alle Voraussetzungen und Einschränkungen berücksichtigt, an die dieser deutsche Vorschlag geknüpft war, so bleibt in der Tat bestehen, daß Deutschland damals zu einer ungeheuren finanziellen und wirtschaftlichen Kráftanstrengung im Interesse der Wiedergutmachung des
angerichteten Schadens bereit war, falls man auf seine sonstigen territorialen Vorschläge eingegangen wäre.
Von den übrigen deutschen Gegenvorschlägen sei nur noch die Anregung einer unparteiischen Kommission zur Prüfung der Kriegsschuldfrage hervorgehoben. Bei der damaligen Stimmung in den Siegerstaaten war dieser Vorschlag natürlich aussichtslos. Dennoch mußte of gen verden, um die
Untätiges Warten- Die letzten Hoffnungen schwinden
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Schlechte Nachrichten aus DeutschBeratungen über die künf
land Die Deutschen in Versailles als Ausflugsziel für die Pariser - tige Taktik tige Taktik Der letzte Tag
Nachdem die deutschen Gegenvorschläge überreicht wurden, war die Delegation zur Untätigkeit verurteilt. Die meisten Sachverständigen, ein großer Teil der diplomatischen Beamten reisten zurück. Auch von den Hauptdelegierten blieb eigentlich nur Brockdorff- Rantzau dauernd in Ver sailles , die anderen, besonders die beiden Kabinettsmitglieder Landsberg und Giesberts begaben sich wieder nach Wei mar , um die Regierungsgeschäfte wahrzunehmen und mit der Absicht, erst am Tage der Ueberreichung der endgültigen Antwort wieder in Versailles einzutreffen.
Für die Zurückgebliebenen begann eine Zeit des Abwartens, die durch die erzwungene Untätigkeit und durch die drückende Ungewißheit besonders schwer zu ertragen war. Es war ein wunderbarer heißer Sommeranfang, der Park von Trianon, den wir nur noch an bestimmten Tagen und Stunden benutzen durften, entfaltete seine schöne Pracht, welche durch die im Kriege eingetretene Vernachlässigung der verborgenen Stellen an urwaldartiger Ueppigkeit und Stille nur gewann. Aber die stundenlangen Märsche durch die Alleen und Gebüsche vermochten nicht unsere trüben Gedanken zu verscheuchen, von denen uns nur wirkliche Arbeit hätte ablenken können. Am Vormittag studierte man eifrig die französische Presse, am Abend, wenn der Kurier eintraf, die heimatlichen Zeitungen. Man erspähte die leisesten Andeutungen der Pariser Blätter über die Aufnahme der deut schen Gegenvorschläge und versuchte, aus ihnen irgendwelche Fingerzeige über die kommende Antwort der Gegner zu gewinnen. Aber meist vergebens. Es waren immer die selben Leitartikel, haẞerfüllt, höhnisch, zynnisch und drohend. Jede Abänderung der noch viel zu hochherzigen" Bedingungen wurde als ein unerträglicher Gedanke zurückgewiesen, die französischen Unterhändler wurden aufgefordert, gegenüber etwaigen Einflüsterungen allzu weicher Bundesgenossen unbedingt fest zu bleiben. Die Protestkundgebungen in Deutschland seien nur Bluff, schließlich würden die Deutschen doch unterzeichnen. Und wenn nicht, dann würde man sie schon zu zwingen wissen.
Die Haltung der Sozialisten
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Eine Ausnahme in diesem Chor des Hasses und walt bildeten nur die sozialistischen Blätter. Aber ihr Protest gegen die Gewaltpolitik der Sieger trug den deutlichen Stempel der Ohnmacht. Sie wagten nicht, den Deutschen die Ablehnung anzuraten. Und das ist nur allzu begreiflich: denn konnten sie sich mit dem Odium belasten. dazu beigetragen zu haben, daß noch immer nicht Schluß mit dem
Kriegszustand gemacht werde? Hätten sich dann die Enttäuschung und der Zorn der eigenen Anhänger, insbesondere unter den noch immer nicht entlassenen Frontsoldaten, nicht gegen sie selbst gekehrt? Keine Partei in Frankreich konnte die Verantwortung übernehmen. So war es für die franzö sischen Sozialisten viel bequemer, bei allem scharfen Protest gegen die eigenen Machthaber auch die deutsche Regierung und insbesondere die deutschen Mehrheitssozialisten unter Berufung auf die damaligen Anklagen der deutschen Unabhängigen anzugreifen und im übrigen darauf hinzuweisen, daß die USP. für die Unterzeichnung eintrete.
Es hieße die historische Wahrheit verschweigen, wenn man nicht betonte, daß in diesem Stadium der Verhandlungen die demonstrative Propaganda der Unabhängigen für die Unterzeichnung des Vertrages die taktische Position der Deutschen nicht unerheblich erschwerte. In diesen entscheidenden Tagen, in denen die Alliierten über die endgültigen Bedingungen berieten, war die Sorge vor einem deutschen ,, Nein" der einzige Grund, der sie veranlassen konnte, wesentliche Abänderungen zuzugestehen. Diese Sorge beherrschte offenkundig einen großen Teil der englischen und amerikanischen Presse, deren Echo täglich nach Versailles drang. Aber die bürgerlichen französischen Blätter erklärten diese Sorge für unbegründet. Sie verschwiegen zwar, daß auch die Unabhängigen den Inhalt des Vertrages ebenso scharf verurteilten wie jede andere deutsche Partei, umso mehr unterstrichen sie aber die Tatsache, daß der radikale Flügel der deutschen Arbeiterschaft die Unterzeichnung fordere und daß die Weimarer Regierung es kaum wagen würde, sich dieser revolutionären Volksbewegung entgegenzustellen. Man brauche sich daher nicht besonders anzustrengen und den Deutschen weitere Konzessionen zu machen.
Erstes Aufauchen der Dolchstoẞlegende
Die Lektüre der deutschen Presse war zum Teil nicht viel erfreulicher. Es war deutlich zu beobachten, wie die Rechtsblätter die mächtige Protestbewegung im Volke für parteipolitische Zwecke auszunützen bestrebt waren. Die abgedroschensten Klischees aus der Zeit der Kriegspsychose wurden wieder herausgeholt und als Parolen aufgetischt: ..Lieber tot als Sklav'!" ,, Der Gott , der Eisen wachsen ließ... Der Protestbewegung auf dieser Seite fehlte jedes realpolitische Augenmaß, aber auch jeder sittliche Ernst. Sie trug sehr deutlich den Stempel der parteipolitischen Agitation und der Konjunkturausnutzung.
( Fortsegung folgt)