Freiheil

Nr. 241 2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Sonntag Montag, 28. 29. Oktober 1934 Chefredakteur: M. Braun

Land des Wucher s

und des Hamsteens

Laval und

Seite 2

Frankreichs Außenpolitik

Seite 3

Dec ,, Führer" und Frankreich  

Seite 8

Keine Lösung im Kirchenkampi! Veriache Hinrichtung!

Knaben von 18 und 19 Jahren

DNB. Dessau, 27 Oft. Im Hofe des Dessauer   Gerichtss gefängnisses   wurden Samstag früh hingerichtet: der 45jährige

Dr. Jäger geopfert- Müller bleibt- Alle Gegensätze bestehen fort autolle aus Gerleboat, der 28jährige Albert Lehmann

Die 2irrnis in ber Rirchenfrage beginnt gro= teste Formen anzunehmen. Am Donnerstag sollte, wie halb­amtlich gemeldet wurde, die feierliche Eidesleistung des Reichsbischofs und der ihm getreuen Landesbischöfe in die Hand Hitlers   erfolgen. Nichts davon! Es hieß, der Herr Reichs­bischof sei durch ein Zahngeschwür" am Empfang der zere moniellen Weihen beschränkt, obwohl er einen Tag vorher noch am Grabe des Generals v. Kluck eine Gedächtnisrede gehalten hatte.

Der Rücktritt Dr. Jägers

Jest entpuppt sich alles als Frreführung. Die Eidesleistung wurde allerdings verschoben, aber da die Herren Landesbischöfe und Bischöfe nun einmal in Berlin  waren, fagten sie unter Vorsitz des Zahnerkrankten Herrn Reichsbischofs, versammelt in völliger Einmütigfeit", wie es in der amtlichen Verlautbarung heißt. Bei diesem Anlaß gab Müller Kenntnis von einem Schreiben des Rechtswalters" der Deutschen Evangelischen Kirche  , etnisterialdirektor Dr. Jäger. Es ist vom 26. Oktober datiert und hat folgenden Wortlaut:

Herr Reichsbischof! Nach grundsätzlicher Er­ledigung der mir gestellten Aufgabe der organisatorischen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche   lege ich, wie ich Ihnen schon vor einiger Zeit an­gefündigt habe, meine firchenpolitische Funtiion in Ihre Hände zurid. Es ist meine Ueberzeugung, daß der innere firchliche Ausbau und Auf­bau, der nun mit Einiaß aller& räfte zu be ginnen ist, nur auf die tätige Mitarbeit des Landes ge= gründet werden kann. Ich schlage hnen deshalb vor, einen engeren Rat der Bischöfe zu berufen, der Ihnen für die Aufbauarbeit im Simme wahrhafter Befriedung zur Berfügung steht. Ich hoffe und wünsche, da das Werk zum Heil des deutschen   Volfes gelingt."

In diesem Schreiben entspricht nur eine einzige Tatsache der Wahrheit: die des Rücktritts von Dr. Jäger. Weder ist er freiwillig erfolgt, noch bedeutet er Befriedung und Klä rung. Gezwungen durch die Proteststürme aus Süddeutsch­ land  , aber noch stärker durch die wachsende Opposition gegen Dr. Jäger im offiziellen Lager der Deutschen Christen  ", ließ man den sich verzweifelt Wehrenden fallen. Lange Verhand­lungen mit Hitler   gingen voraus. Der Kultusminister Rust  und der Kulturdiktator Rosenberg bestürmten ihn, der Opposition nicht nachzugeben. Aber der verhaßte Rechts­walter", der die süddeutschen Bischöfe nach ihrer Absezung in Polizeigewahrsam genommen hatte, war nicht mehr zu halten.

Aber der Reidsbischof b'elbt

In der Sigung der Landesbischöfe am Donnerstag berief der Reichsbischof Müller einen Bischofsrat", der in der Hauptsache die firchenpolitischen Fragen behandeln soll. Das bedeutet und es bestätigt unsere gestern vertretene Mei­nung daß der Reichsbischof in der vollen Gunst seines Herrn und Führers geblieben ist. Der Reichsbischof tit ein Stück von Hitler   selbst. Fiele er, so bräche ein Stück des totalen Staats, errichtet auf der Ebene der Kirche und der meltanschaulichen Beeinflussungsmöglichkeit der Gläubigen, jäh zusammen. Es wäre der Sturz einer Säule, die grade in diesem rauhen Winter zum Halt für das wankende Ge­wölbe nötiger ist als je. Dazu kommt der Wunsch des Reichswehrministers, der seinem lieben Müller ja besonders verpflichtet ist.

Es gibt keine Verständigung mehr In etwas sensationellem Fettdruck bemerkt die Saar­ brücker Zeitung  ", man dürfe annehmen, daß der Rücktritt Jägers nur der Anfang einer Entwicklung darstelle, die zu einer völligen Entspannuna" führen fönne. Die Leser dieses Blattes sind begreiflicherweise entzückt davon, zum ersten Male seit Monaten überhaupt etwas von einem protestan­tischen Kirchenkonflikt zu erfahren. Bisher wurde das Ver­bot des Herrn Goebbels   mit bewundernswürdiger Pflicht treue innegehalten. Aber die Prophetie einer nahen Entspannung ist durch nichts begrün­det. Woher sollte sie kommen? Der deutsche Protestantis­mus, wie er sich heute darstellt, ist ein chaotisches Gebilde ge­worden. Dieser Reichsbischof kann niemals eine Brücke schla­gen zur freien Bekenntniskirche, die ihn zum Widersacher Christi und zum Sendboten des Teufels proklamiert hat. Millionen von Protestanten erblicken in ihm den Zerstörer des Kirchenfriedens und der evangelischen Freiheit. Aber euch die Deutschen Christen  " werden durch die Avcankung Dr. Jägers nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie haben längst den Teufel im Leibe. Ihre Organisation wird immer wilder bestürmt von den Deutsch  - und Heidenchristen, deren Einfluß

unter ihren geistigen Betreuern Profeffor Hauer und Graf Reventlow grade in jüngster Zeit außerordentlich ge­wachsen ist. Hier sind Gottesglauben und Kirchentreue faum noch mit der Lupe zu sehen.

Konservative Orthodoxie, Kompromißlertum nach dem Bei­spiel Müllers und wachsende Verneinung jeder kirchlichen Bindung: hier strebt alles gegeneinander und auseinander.

Rosenberg, der Kirchenzerstörer

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Man mache sich doch endlich klar, daß sich der weltanschau liche Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus   mit der Beibehaltung irgend einer andern geistlichen, seelischen, reli­giösen Autorität nicht verträgt. Wer es noch immer nicht weiß, der lese Rosenbergs Mythus". Wir widersprechen ihm auf jeder Seite seines Buches. Aber es ist unbestreitbar, daß hier eine um stürzlerische Ideologie im of fenen Kampfe mit dem Christentum liegt. Daß Alfred Rosenberg   heute der unbestrittene geistige Pio­nier des Nationalsozialismus ist, hat seinen tiefen Grund. Er ist schon in seinen Ursprüngen von seinen Taten ganz

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abgesehen mit widerchristlichen Motiven verschwistert. Je­der neue Tag gibt neue Proben. Täglich erscheinen Bücher und Zeitschriften, die es bestätigen, täglich hören wir Reden wie diese:

Gauleiter&   ube auf einer Gebietstagung der Hitler­ Jugend  :

Wir werden dafür sorgen, daß Deutschlands   Jugend im stolzen Geist von Langemard und nicht in irgend welchem Konfessionsgeist erzogen wird. Der Glaube der deutschen Jugend ist allein der Glaube an Deutschland  . Denn Sitte, meine deutschen   Jun­gen, liegt im Blut und nicht in der Dressur, noch dazu wenn diese aus Vorderasien bezogen ist... Darum sollt ihr auch heute in der konfeffionellen Heße euch eines merken: Gott will, mein deutscher   Junge. daß du auf Erden an Deutschland   und sein uniterbliches Leben glaubst. Und dann wird ein Hitler- Deutschland sein ohne Reaktion, ohne Konfentonshader... Adolf Hitler  ,

gestern und heute und in alle Eminfeit. Siegbeil!" Aus der Zeitschrift Der Volkserzieher"( Artikel von Wollrate):

Wir, die neue deutsche Jugend. Iehnen das Chri­stentum als undeutsch a b. Wir werden unsere Kraft nicht vergeuden für eine andere, deutiche" Aus­legung dieses asiatisch jüdischen Geistes pro­dufts. Wir wollen den üppig wuchernden Baum un­deutscher Wesensart nicht vernichten, indem wir ihn fäl­len, nein, wir wollen ihn mit der Wurzel aus­

reißen."

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Es sind nur ein paar Beispiele. Sie liegen hundertfach vor. Die deutsche Staatsjugend wird in diesem Geist erzogen, Es ist der Geist der Gralshüter der nationalsozialistischen Weltanschauung. Wie kann sich gegen diese Uebermacht ein Staats Protestantismus  , der seinen eigenen auto­ritären und religiösen Gesezen nachleben will, noch behaup= ten? Hier liegt der Herd ewiger Unruhe und dauernder Zweifels. Alle Hoffnungen auf Beseitigung der Spannung und der Schaffung einer auf Glaubensdinge bezogenen Rir­cheneinheit sind Illusionen.

Um des Bekenntnisses willen

Wir glauben nicht daran, daß die Männer um die neue Bekenntniskirche nachgiebig sein werden. Zum Glück hat sich die Nachricht von der Verhaftung des Superintendenten Roch nicht bestätigt. Hier ist bereits eine echte Massen bewegung mobil. Ihre Thesen sprechen die leidenschaftliche Sprache Martin Luthers  . Nichts deutet drauf hin, daß sie im faulen Stompromißlertum stecken bleibt. Denn es gibt charakteristische Anzeichen dafür, daß die Flucht zur oppofi­tionellen Kirche eines der politischen Widerstands= merfmale gegen die Beherrscher des drif ten Reich s" geworden ist.

Wir hören die revoltierenden Protestanten mit hoher Achtung vor ihrem Mute. Aber wir wollen nicht vergessen, daß diese Männer geschwiegen, als Hitlers   Macht­ergreifung mit Menschenerniedrigung und Menschenmord begonnen hatte. Ihre Fackeln leuchteten erst, als das Kirchengebäude bedroht wurde. Die kirchliche Opposition hat mächtige Freunde. Gegen die Münchener Kundgebung, die mächtige Freunde. Gegen die Münchener Rundgebung, die Ein' feste Burg ist unser Gott" sangen, schoß keine Polizei. Kein Pfarrer ist bisher gezüchtigt, auf der Flucht erschossen worden.

Die Kirchenrebellen in Ehren! Laßt uns aber bei dieser immer noch legalen Opposition an die illegale denken: an die kleinen sozialistischen   Funktionäre, die mit ihren Flugschriften tausendfältig jeden Tag Freiheit und Leben einießen. um des kämpferischen Glaubens- willen,

aus Dessau  , der 18jährige Frig Gehre aus Dess sau und der 19jährige Theodor Wolf   aus Dessau   Der Reichsstatthalter in Braunschweig   und An­ halt   hat von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch gemacht.

Paul Rolle war wegen Mordes an seiner Ehefrau durch Urteil des Dessauer Schwurgerichts vom 5. Mai 1934 zum Tode verurteilt worden. Das Reichsgericht hat das Urteil bestätigt. Rolle hatte seine Ehefrau einer anderen Liebschaft wegen im Bett erschossen und einen Selbstmord seiner Frau vorgetäuscht.

Die gemeine Bluttat an dem Dipl.- Ing. Wiederhold der Grube Leopold- Edderiz aus Bitterfeld   wurde durch das Dessauer   Schwurgericht geahndet, das Albert Lehmann, Friz Gehre und Theodor Wolf   zum Tode und den Jugendlichen Hans Joachim Lehmann zur höchsten Strafe für Jugendliche, zu zehn Jahren Gefängnis, verurteilte. Das Urteil des Dessauer   Schwurgerichts wurde durch das Reichsgericht bes stätigt. Die vier jungen Burschen hatten im Mai den Dipl.­Ing. Wiederhold aus Bitterfeld   in seinem Kraftwagen über= fallen und ermordet.

So meldet das halbamtliche Deutsche   Nachrichtenbüro. Welche Vorbilder sich die noch knabenhaften Mörder genoms men hatten, ist klar: Viele SA.- und SS.- Mörder und Räns ber sind in hohe Aemter eingerückt und ihre Untaten werden für rechtens erklärt.

Frontenstellungen in Frankreich  Drei Lager im Verfassungskampf

Paris  , 25. Oktober.

A. Sch. Wie sich die Beschlüsse des radikalen Kongresses auch auswirken werden, das Ergebnis der Verfassungs­kämpfe in Frankreich   wird durch die Ausgangsstellung der drei entscheidenden politischen Kräfte des Landes am Anfang des Kampfes bestimmt: der bürgerlichen Rechten, der Radikalen, der proletarischen Linken. Diese Aus­gangsstellung ist im allgemeinen günstig für die Sache der französischen   Demokratie.

Die Rechte beginnt diesen Kampf nicht ohne Resignation tionär faschstische Welle, die Anfang 1934 - und ohne allzu große Reserven. Die großereak im Anschwellen war, ist abgeflaut. Die Heraus­kristallisierung des französischen   Faschismus, im Februar stürmisch begonnen, wurde abgebrochen. Es ist zu keiner Herausbildung einer elbständigen faschistischen Partei ce­kommen, mit eigener Organisation und eigenem Macht­willen. Die französische   Rechte ist reaktionär, nicht gegen­revolutionär, d. h. nicht umstürzlerisch. Wie weit sie jetzt auch gehen mag, sie wagt doch nicht an den Fundamenten des republikanischen Staates zu rütteln, und deshalb bleibt sie trotz allem notwendigerweise opportu nistisch. Sie ist ausgesprochen bürgerlich- konservativ, nicht angreiflerisch- demagogisch. Den Kampf um die Ver­fassungsreform führen auf ihrer Seite die alten Parla­mentarier, nicht die faschistischen Häuptlinge.

Die faschistischen Verbände kämpfen nicht in der vorderen Linie, sie laufen nach. Der Kampf wird rechts ohne echten Schwung geführt, die Straße macht nicht mit, wie sie vor und am 6. Februar mitmachte. Keine Welle der Massenstimmung trägt heute die Rechte hoch. Die Kantonalwahlen haben enttäuscht: sie haben gezeigt, daß die reaktionären Parteien keine irgendwie ins Gewicht fallenden Gewinne erobern konnten, troß aller Februar erschütterungen. Der feurige Demagoge der reaktionären Bublizistik Henri de Ririllis beklagt sich bitter darüber, daß man auf der Rechten keinen richtigen Elan sieht. Das wirkt lähmend und ist geeignet, aus der Verfassungsrevision Doumergues, die als Generaloffenfive auf die Stellungen der Linken gedacht war, einen parlamentari letztes Wort zu den Verfassungskämpfen noch nicht gesagt, schen Schachzug zu machen. Die Rechte hat ihr das kann am Ende äußerlich ein recht gewaltsames Wort sein, wie am 6. Februar, aber das Tempo des Kampfes hat sie nicht eingehalten.

In dieser Situation fiel es der bürgerlichen Mitte, den Radikalen, nicht schwer, sich als entscheidender Faktor einzuschalten und ihre Schlüsselstellung geltend zu machen. Schon der Anfang des Kongresses in Nantes   zeigt das wachsende Selbstbewußtsein der Partei. Die Radi kalen haben sich mit erstaunlicher Schnel. ligkeit von den schweren Erschütterungen des Parteigefüges und trauenskrise erholt. Und bei den Kantonal­wahlen haben die Radikalen ihre Positionen gehalten,

von der Ver­