Völker in Sturmzeiten Nr. 57

Die

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Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

Gefangenen auf der Plassenburg

Diese Novelle ist eines der Hauptstücke in Wassermanns bedeutender Rahmenerzählung ,, Der goldene Spiegel".

2. Fortsetzung

Ich komme mir vor wie in die tiefste Tiefe des Menschengeschlechts entrückt, und wenn ich mir gegenwärtig halte, wie viel Herzen rings um uns mit aller Blut- und Pulseskraft nach Freiheit schmachten, dann will mich unser Unglück nicht mehr so groß dünken."- ,, Der Geschmack ist verschieden, sagte der Hund, als er die Katze ins Teer­faß springen sah. Das Zeugs, worauf ich liege, ist steinhart, trotzdem will ich schlafen, weil ich sonst verrückt werden müßte vor Wut."

Kurze Zeit nach dieser übellaunigen Replik schnarchte Peter Maritz schon. Alexander jedoch, mit dem Gefühl des Neides und mit dem andern Gefühl leiser, fast noch wohl­wollender Geringschätzung gegen den Freund, überließ sich seinen Gedanken. Er war eine jener geborenen Poeten­naturen, denen Welt und Menschen im Guten wie im Bösen eigentlich nie ganz nahe kommen können, als ob ein Ab­grund des Erstaunens dazwischen bliebe. Nur das Schauen gibt ihnen Leidenschaft, nur die Teilnahme über den Ab­grund hinüber gibt ihnen Schicksal; zu leben wie die andern, von Welle zu Welle gewirbelt, würde sie zerreißen und ent­seelen. Deshalb vermochte er mit neugieriger Ruhe auf das Kommende zu blicken, das sich seiner Ahnung mehr als seiner Vernunft vorverkündigte..

Welche Fantasie wäre auch imstande gewesen, eine Wirk­lichkeit wie die hinter diesen Mauern zu malen, ohne daß leibliche Augen gesehen hatten, ohne zu wissen und emp­funden zu haben, was das Schweigen hier bedeutete? Die fünfzig oder sechzig Sträflinge, die zur Stunde in der Feste waren, hatten beinahe vergessen, den Verlust der Freiheit zu beklagen, hatten die Uebeltaten vergessen, durch die sie die Gemeinschaft mit freien Menschen eingebüßt, und jeden erfüllte nur ein einziger Wunsch: reden zu dürfen. Nichts weiter als dies: reden zu dürfen. Darin unterschied sich der Jüngling nicht vom Greis, der Phlegmatische nicht vom Hitzigen, der Einfältige nicht vom Klugen, der wort­karg Veranlagte nicht vom Schwätzer, der Trotzige nicht vom Bereuenden. Der Neuling ertrug es noch; im Anfang schien es manchem leicht; um ihn war die Luft noch von ge­sprochenen Worten voll, Gehörtes und Gesagtes tönten noch in ihm. Drei Tage, zehn Tage, zwanzig Tage vergingen; was er zuerst kaum bedacht, dann nur als lästig empfunden, war noch immer nicht Qual; die Stille entwirrte seinen Geist, Er­innerungen stellten sich ein, ein Laut der Liebe, das mäch­tige Wort eines Richters, die Mahnung eines Priesters, die Bitte eines Opfers, all das gab dem Nachdenken Stoff, der Dunkelheit einiges Licht.

Aber da wurde er gewahr, im Arbeitssaal etwa, oder beim Gottesdienst in der Kapelle, was in den Zügen der Jährlinge wühlte. Das Zusammensein mit den Genossen regte eine Frage auf; er durfte nicht fragen. Ein Geräusch im Haus, Stimmen aus dem Wald, Tierschreie drangen an sein Ohr; er durfte nicht fragen. Der Unvorsichtige sühnte schwer, wenn er sich vergaß. Die nicht gesprochenen Worte belasteten das Gedächtnis; wenn einer den andern an­schaute, bewegten sie die Finger, hauchten in die Luft, scharrten mit den Füßen, strafften oder runzelten die Stirn, blinzelten oder schlossen die Augen, und diese Merkmale der Ungeduld bildeten eine Sprache für sich. Lief eine Maus über den Boden des Arbeitsraumes, so zitterten sie; die Lip­pen des einen rundeten sich zum Ruf, die des andern zum Lachen, Arme streckten sich aus, eine ungeheure Spannung war in ihnen, bis die Aufseher mit ihren Stäben auf die Tische schlugen und mit Blicken die Zungen bändigten, die sich regen wollten.

In der Zelle für sich ganz leise hinzusprechen, ins leere Nichts zu murmeln, machte das Verbotene nur fühlbarer und befriedigte so wenig wie den Durstigen die Feuchtig­keit des eigenen Gaumens labt. Mit dem Fingernagel oder mit einem Holzspan Worte, Hieroglyphen, Köpfe in den Kalk der Mauern zu ritzen, steigerte das Verlangen nach dem Schall. Es überwand oft jedes Bedenken, jede Furcht, und mancher meldete sich zu einer Mitteilung. Gefragt, was es sei, erwiderten sie, vom bloßen Klang der Sprache ent­zückt, sie hätten ein neues Geständnis zu machen und be­zichtigten sich einer Untat, die sie nie begangen hatten, nannten erfundene Namen, schilderten Umstände und Ver­wicklungen, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehrten. Man war darauf gefaßt; das Abenteuerliche wurde schnell durch­schaut, dem Ungereimten weiter nicht nachgeforscht und der Lügner ertrug die Strafe, froh, daß er hatte sprechen dür­fen, daß er Worte gehört, daß man ihn verstanden, ihm ge­antwortet hatte.

Aber in der Folge, im Verlauf der stummen Tage, Wochen und Monate erschien ihm seine Zunge wie ein verdorrtes Blatt, und alles rings um ihn wurde grauenhaft lebendig. Dies aufgezwungene Schweigen machte die Dinge laut; die Einsamkeit wäre den Zellenhäftlingen erträglich gewesen, wenn das mitteilende Wort sie an Raum und Zeit und Zeit­verlauf gebunden hätte; nun war sie ein Schrecken. Wer kann es aushalten, immer bei sich selbst zu weilen? Der Sinnvollste, der Gesegnetste nicht. Was im Menschen innen ist, strebt nach außen, und äußere Welt soll doch nur Gleichnis sein. Diesen Gefangenen aber, alt und jung, schul­dig oder minder schuldig, böse oder mißleitet, wurde alles Leben zu einem Draußen, einem Losgetrennten, Gespenster­haften und Geheimnisvollen, auch ihre Laster und ihre Wünsche, ihre Verbrechen und die Wege dazu.

So dachte sich der eine den Wald, durch den er täglich vom Dorf zur Ziegelbrennerei gegangen war, wie eine fin­stere Höhle, erinnerte sich, obwohl Jahre seitdem verflossen waren, an gewisse Bäume, glattrindige, mit ausgebreiteten Wipfeln, und Gräben und Löcher im Pfad waren wie Fur­chen in einem Antlitz. Andern war ein Pferd, auf dem sie

Von Jakob Wassermann eritten, ein Hund, den sie abgerichtet, ein Vogelbauer vorm Fenster, eine Tabakspfeife, die sie besessen, ein Becher, aus dem sie getrunken, der Winkel an einer Stadtmauer, ein Binsendickicht am Fluß, ein Kirchturm, ein schmutziges Kartenspiel zu beständig redendem Bild geworden, worin sie sich verspannen, das ihnen Brücken schlug zum unge­hörten Wort. Sie versetzten sich in Räume, sahen zum un­gehörten Wort. Sie versetzten sich in Räume, sahen mit verwunderlicher Genauigkeit alle Gegenstände in den Zim­mern der Bürger, in Häusern, an denen sie nur vorüber­gewandert: Ofen und Spind, Sofa und Pendeluhr, Tisch und Bücherbrett, und alles hatte Stimme, all das erzählte, all dem antworteten sie, jedes Dinges Form da draußen, in fern und naher Vergangenheit, war Wort und Sprache.

Unter dies m Mantel des Schweigens hatte die Reue keine Kraft mehr. Deshalb dachten sie in verbissenem Haß der Umstände, die sie einst überführt. Den einen hatte eine Fußspur verraten, den andern ein Knopf, den dritten ein Schlüssel, den vierten ein Blatt Papier , den fünften ein Geldstück, den sechsten ein Kind, den siebenten der Schnaps. Nun beschäftigte er sich tage- und nächtelang mit diesem einzelnen, zog es zur Rechenhaft, fluchte ihm, sah alle Ge­danken davon regiert, erblickte es in jedem Traum. Und die Träume waren angefüllt mit Gesagtem, ein Chor von Stimmen tobte darin, und sie tönten von nie vernommenen Worten. Die Träume waren für sie, was einem Kaufmann seine Unternehmungen, einem Seefahrer seine Reisen, einem Gärtner seine Blumen sind. Brach dann für einen, der seine Strafe abgesessen, die Stunde an, die ihn der menschlichen Gesellschaft wiedergeben sollte, so taumelte er schweigend hinaus zum geöffneten Tor, die Gewalt des Eigenlebens, das er plöglich zu verantworten hatte, erdrückte Hirn und Brust; die Luftsäule, die Sonne, die Wolken brausten in sei­nen Ohren, es wirbelte ihn nur so hin, er mußte in die nächste Kneipe flüchten und trinken, und es soll sich er­eignet haben, daß einige ihrem Leben freiwillig ein Ende bereiteten nur darum, weil sie nicht gleich einen Gefährten fanden, um zu reden.

In eine solche Welt also waren, durch Mißgeschick halb­komischer Art, die beiden jungen Männer verschlagen wor­den. Als Peter Marit am Morgen erwachte, schlief Alexan­der noch, denn er hatte erst spät den Schlummer finden können. Peter rüttelte ihn, äußerte sich spöttisch über die Langschläferei und behauptete, er habe kein Auge schließen können. Hierzu schwieg Alexander. Nach einigem Herum­schauen machte er den Freund lächelnd auf einen Spruch aufmerksam, der neben dem Fenster an die Mauer ge­schrieben war. Er lautete: Bis hierher tat der Herr mich hilfreich leiten, er wird mich auch einmal vom Galgen schneiden." Darunter hatte eine ungeübte Hand gekritzelt: ..Wenn ich den Galgen seh, tut mir gleich die Gurgel weh." An einer anderen Stelle war ein Beil gezeichnet, mit den Worten: Der Teufel hol die Hacke." Neben der eisernen Tür war folgender Reim zu lesen: ,, Herr Gott, in deinem Scheine, laß mich nicht so alleine, und gib mir Gnade zu fressen, doch nicht so schmal bemessen, wie du dem Sünder gibst, den du so innig liebst."

,, Das nenn ich ein erbauliches Gemüt," sagte Peter Marig, und es ist immerhin tröstlich, zu wissen, daß wir uns unter Kollegen befinden." Erst nach einer Stunde er­schien der Wärter, fragte, ob sie ihre Kost bezahlen wollten, und nachdem sie sich dazu verstanden, besorgte er Brot, Fleisch und Wein. Peter Maritz forderte ungestüm, vor den Richter geführt zu werden; er erhielt keine Antwort. Ein nener Wutanfall packte ihn, als die Tür wieder ver­sperrt wurde; es dauerte lange, bis Alexander ihn be­schwichtigt hatte, und dann zeigte er sich sehr niederge­schlagen. Alexander begab sich an das vergitterte Fenster, das einen Ausblick auf den Burghof verstattet, und er sah eine lautlose Kolonne von Sträflingen, die von einem halben Dutzend bewaffneter Aufseher geführt, paarweise mit langsamen Schritten über das Steinpflaster wandelten.

Nic zuvor hatte er eine solche Schar wüster und trauriger Gestalten erblickt; bleiche, grauhäutige Männer, mit tiefen Kerben um die Mundwinkel, mit rauhen Haarstoppeln am Kinn, oder auch langbärtig, oder auch ganz glatt, wie es die geborenen Verbrecher oft sind. Die Köpfe waren geschoren, die Hälse meist auffallend hoch und dünn, Arme und Beine schlenkerten kurios. Ein Bursche ragte um Hauptes­höhe über die anderen; er schien kaum zu atmen, seine Augen waren zugekniffen, der Mund stand offen und hatte einen Zug von diabolischer Gemeinheit. Neben ihm ging ein Mensch mit einem Gesicht, das einen Schinkenkeule glich. roh, gedunsen, tierisch. Ein Schmalbrüstiger, Hinken­der fletschte die Zähne, ein Rothaariger lachte stumm, ein bäurisch Ungeschlachter hatte einen Ausdruck idiotischer Schwermut, ein schlanker Kerl lächelte süß und infam. Einer sah aus wie ein Matrose, stämmig, weitblickig, breit­gängerisch, ein anderer wie ein Soldat, ein dritter wie ein Geistlicher, ein vierter wie ein verkommener Roué, ein fünfter wie ein Schneider, doch alle nur wie Schattenbilder davon, trübsinnig und geisterhaft, ins Innere versunken wie in einen Schacht und nach außen hin nur lauschend gleich Hunden, die sich schlafend stellen und schon bei einem Windstoß die Ohren spitzen. Das Geräusch ihrer Schritte schien ihnen wohltuend; als eine Krähe schnarrend über ihren Häuptern hinzog, schreckten die einen zusammen, die anderen hefteten starr und finster die Blicke empor.

Alexander rief den Freund und deutete hinaus. Peter Marity runzelte die Brauen und meinte, das sei eine schöne Sammlung von Charakterköpfen. Das Fenster war offen, die zuletzt Vorbeiziehenden hörten sprechen, ihre Gesichter wandten sich den zweien zu, unermeßlich erstaunt, dann drohend, grinsend, begierig und wild. Die Aufseher ballten drohend die Faust hinauf und winkten. Alexander und Peter traten bestürzt zurück. Lebhaft bewegt schlug

Alexander die Hände

Dienstag, 30. Okober 1934

Was für Menschen,"

murmelte er, und doch Menschen!" Dich dauern sie wohl?" fragte Peter zynisch. Spar dein Mitleid, es macht dich dort zum Schuldner, wo du nicht handeln kannst. Handle, reiß ihnen die Herzen auf! Treib' sie gegen das Philisterpack! Freilich, da ziehst du den Schwanz ein, du Dichterjüngling, weil du träg bist und keine Rage in

dir hast."

Alexander bebte, er griff nach seinem Manuskript, seine Augenbrannten und mit einer Gebärde schönen Zorns warf er Peter Maritz die Blätter vor die Füße. Ruhig bückte sich der andere danach, ruhig fing er an zu lesen, schüttelte hie und da den Kopf, machte ein zweifelndes, ein gnädiges, ein überlegenes, ein prüfendes, ein unbestechliches Gesicht, und schließlich, dem Harrenden glühten schon die Sohlen, er schämte sich, bereute schon, schließlich sagte Peter Marity: ,, Ganz hübsch. Recht artig. Eine gewandte Metrik und nicht ohne Originalität in der Metapher. Aber was sollen Verse, mein Lieber? Das ist für die Frauenzimmer. Wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß du ein schlechtes Gewissen dabei hast." Alexander hätte weinen mögen; er verbiß seinen Schmerz, entgegnete aber nichts. Das Heft­chen steckte er wieder in die Tasche, reicher an Erfahrung und um ein Gefühl ärmer, als er vor einer Stunde gewesen. Mit hoffnungsloser Miene grübelte er vor sich hin, während Peters Ungeduld beständig wuchs.

Wenn man in der Stadt nicht der eintreffenden Revo­lutionsnachrichten aus dem Reich halber in Angst und Auf­regung geraten wäre, hätte sich wohl unter den Beamten und Gerichtspersonen ein besonnener Mann gefunden, den die Verhaftung der beiden Reisenden bedenklich gemacht hätte. Trotz der verbotenen Bücher, die man in ihren Koffern entdeckt hatte, ließ der Aktuar den Wunsch ver­lauten, sie in eine minder entwürdigende Umgebung zu bringen. Der Beschluß darüber wurde aber vertagt, und so kam es, daß die unrechtmäßig Eingekerkerten in die Ereignisse der folgenden Nacht verwickelt wurden.

Es war am Morgen ein neuer Sträfling angelangt, ein Friseur namens Wengiersky, der wegen Kuppelei zu zwei Jahren verurteilt war. Er hatte sich schon bei der Kopf­schur ungebärdig benommen, und als die Hausordnung ver­lesen wurde, insonderheit der Paragraf vom Schweigegebot, lachte er verächtlich. Im Arbeitssaal musterte er die Kame raden mit flackernden Blicken, stand eine Weile. mürrisch und untätig, rührte sich erst nach dem dreimaligen Befehl des Aufsehers, plötzlich aber schrie er in die Totenstille des Raumes mit einer gellenden Stimme: ,, Brüder! Wiẞt ihr auch, daß man im ganzen Land die Fürsten und Herren massakriert! Eine große Zeit bricht an. Es lebe die Frei­heit!" Weiter kam er nicht, drei Aufseher stürzten sich auf ihn, und obgleich er nur ein schwächliches Männchen war, hatten sie Mühe, ihn zu überwältigen. Er wurde so­fort in Eisen gelegt.

Die Sträflinge zitterten an allen Gliedern und sahen aus wie Verhungernde, an denen eine duftende Schüssel vor­übergetragen wird. Erst allmählich wirkte das gehörte Wort; es gab also diese Möglichkeit, die bisher nur wie Phantasmagorie und Wahnsinn in den verborgensten Win­keln ihres Geistes gewohnt hatte? Und wenn es die Mög lichkeit gab, dann konnte sie erfüllt werden. Sie konnte nicht nur, sie mußte. Es ging eine furchtbare Verständigung von Blick zu Blick vor sich. Es war fünf Uhr nachmittags; um halb sechs sollten sie in die Zellen zurückkehren. Die Wärter, den nahenden Aufruhr mehr spürend, als seiner gewiß, beschlossen, die Arbeitsstunde zu kürzen; auf das erste Kommando wurden die Werkstücke niedergelegt: Putzlappen, Nadel, Zwirn, Korbrohr, Hobel, Sackleinwand, auf das zweite zum Antreten, stieß auf einmal der Riese, Hennecke war sein Name, einen heiseren Ruf aus, warf sich über den ersten Aufseher, umschlang ihn und schleu­derte ihn zu Boden. Im Nu folgten die Gefährten seinem Beispiel; keuchend und dumpf jauchzend schlugen sie ihre Peiniger nieder, banden sie mit Baststricken, stopften ihnen Knebel zwischen die Zähne, dann setzte sich Hennecke an die Spitze des Haufens und drang in den Korridor. Sie waren dreiunddreißig; vierundzwanzig befanden sich in den Zellen, fünf in Dunkelhaft. Die Schar teilte sich; die größere Anzahl unter dem Befehl Woltrichs, eines blatter­narbigen Diebes, zog zur Kanzlei und zum Wachthaus, um die Schreiber, die Nachtaufseher, den Posten am Tor, die Wache selbst zu überrumpeln und unschädlich zu machen. Ein Unteroffizier, der verzweifelt Widerstand leistete, wurde getötet. Der Gewehre hatten sich die Meuterer mit umsichtiger Schnelligkeit versichert; das Haupttor wurde zugeschlagen und von innen versperrt, und die Gefesselten wurden in einen Keller hinuntergeschleift. Inzwischen hatte Hennecke sämtliche Zellen geöffnet und auch die Kettensträflinge befreit. Die ganze Horde wälzte sich aus dem dunklen Eingang in den Schloßhof. Hennecke fragte, ob einer von den Muffmaffs, wie sie die Obrigkeits- und Aufsichtsorgane nannten, entkommen sei, worauf der mit dem Schinkenkeulengesicht erwiderte, er habe einen Soldaten den Berg hinabrennen sehen. Es wurde beschlossen, eine Wache auszustellen, und Hennecke kommandierte einen Alten auf die Mauerbrüstung. Widerwillig gehorchte der, weil er sich ungern von den Brotlaiben, Würsten und Bier­fässern trennte, welche die Genossen aus der Kantine herzu­schleppten.

( Fortsetzung folgt.)

Es leiden alle Menschen. Sie ersehnten Das neue Glück. Nun ist es da und würgt. Kein Trost mehr ist auf Erden, da der Traum Der großen Wandlung also aufgeschreckt. Die ausgeweinten Augen sind erblindet, Verwest das Leben, unbegrabner Tod Dies stumpfe Brüten, Fürchten und Versinken, In das geheime Wut verlechzend schwelt.

Kurt Eisner .