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Freiheit

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Nr. 248 2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Mittwoch, 7. November 1934 Chefredakteur: M. Braun

Seite 2

Hitlers Blutjustiz cast

Reichsterror gegen den freien

Abstimmungskampf

Kriegswirtschaft

und Preissteigerung

Seite 3

Seite 4

Der große Rundfunkprozeß

Seite 7

Rache für Horst Wessel  

Reichsgericht liefert zwei an der Tat Unschuldige dem Scharirichter Sühncopier für den zum Nationalheros erhobenen Zuhälter

aus

Am 14. Januar 1980 ist der Student" Horst Wessel  , ein Sturmführer der NSDAP., in seiner Wohnung über: fallen und erschossen worden. Wie der Verteidiger des Hauptangeflagten, Dr. Alfred Apfel  , in den Spalten der Deutschen Freiheit" eingehend und überzeugend nach: gewiesen hat, ließ sich Horst Wessel   von einer Prostituierten aushalten.

In dem ersten Horst- Wessel- Prozeß, der noch vor der Machtergreifung Sitlers und vor der Erhebung Horst Wessels zum Nationalheiligen stattfand, wurden die Ange: flagten nur zu Zuchthausstrafen verurteilt. Das Gericht war damals noch unbefangen genug, den Unterweltcharakter des Horst: Wessel  - Miliens zu erkennen und zuzugeben. Der als Haupttäter verurteilte Ali Höhler wurde später von Nationalsozialisten in der Strafanstalt abgeschlachtet.

Nachträglich wurde noch ermittelt, daß u. a. zwei Arbeiter Sally Epstein   und Hans Ziegler   an der Tat ,, beteiligt" waren. Zwar haben sie das Haus, in dem Horst Wessel   wohnte, überhaupt nicht betreten, aber es wurde dennoch eine Beteiligung an der Tat konstruiert, weil sie fich vor dem Hause herumgetrieben und Schmiere gestanden haben sollen. Das ist alles. Dafür wurden Epstein und Ziegler am 15. Juni 1934 vor dem Schwurgericht in Berlin  zum Tode verurteilt. Die beiden Angeklagten, die auch nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme vor Gericht in dem für fie ungünstigsten Falle höchstens in entfernter und loser Beziehung zu der Tat gestanden haben können, wurden dauernd in der ganzen nationalsozialistischen und gleichgeschalteten Presse des britten Reichs" als Mörder Sorst Weffels" bezeichnet, so daß kein Richter mehr wagte, ihnen auch nur einen Schatten von Recht angedeihen zu lassen. Es ist daher nicht überraschend, daß das Reichsgericht die eingelegte Revision verworfen hat. Die Todesurteile an Unschuldigen find rechtskräftig.

Es liegt uns nur ein gleichgeschalteter Bericht über die Berhandlungen in Leipzig   vor, aber auch er spricht dentlich genug gegen die Mordjustiz im dritten Reich", die wir nachstehend durch weitere Beweise ihres blutigen Tuns anklagen.

Vor dem Reichsgericht

Leipzig  , 6. Nov. Der 2. Strassenat des Reichsgerichts ver­handelte am Montag die Revision, die von den im zweiten Horst Wessel  - Prozeß am 15. Juni 1934 vom Schwurgericht Berlin   verurteilten Angeklagten Sally Ep­ stein  , Hans Ziegler   und Peter Stoll eingeleitet worden war. Gegen Epstein und Ziegler war damals wegen Teilnahme an der Ermordung Horst Wessels auf Todes= strafe und lebenslänglichem Ehrverlust erkannt worden, Stoll hatte wegen Beihilfe zum Mord Jahre Zucht­haus und 10 Jahre Ehrverlust erhalten.( Die Wirtin Horst Wessels, Frau Salm, der inzwischen verstorbene Haupt­täter Höhler, von dem der tödliche Schuß abgegeben worden war, und eine Anzahl der beteiligten Kommunisten maren bereits im Jahre 1930 zu Zuchthausstrafen verur­teilt worden.) Nachdem im vergangenen Jahr die Ermitt­lungen neu aufgenommen worden waren, ergaben sich schwere Verdachtsmomente gegen die früher nicht mitangeflagten Angehörigen der Bereitschaft 2 der PD.­Sturmabteilung Mitte, Epstein, Ziegler und Stoll.

Der Berichterstatter des Senats erklärte an Hand der Begründung des zweiten Urteils, die drei Angeklagten hätten die von Frau Salm in dem Verkehrslokal der fommunistischen Sturmabteilung geführten Vorbe: sprechungen mit angehört.

Der SA  - Sturmführer Horst Wessel   sei Epstein und Ziegler als besonders erfolgreicher Verfechter der national­sozialistischen Ideale in dem start unter kommunistischem Einfluß stehenden proletarischen Wohnviertel am Alerander­platz sehr wohl bekannt und wegen seiner überaus wirf­samen Werbetätigkeit auch besonders verhaßt gewesen. Die gleiche Kenntnis der Verhältnisse hinsichtlich der Gegend und der Person des Getöteten habe das Schwurgericht bei dem erst im Oktober 1929 zu den kommunistischen   Terror gruppen gestoßenen Stoll nicht angenommen. Dieser habe die Tat deshalb nicht als eigene gewollt, bei dem Unter­nehmen aber in genauer Kenntnis des Zieles Beihilfe geleistet. Er habe sich zum Mitgehen entschlossen und an einer wichtigen Straßenfreuzung Posten gestanden, während Epstein und Ziegler für die Rüden dedung gesorgt hätten. Das sorgfältig vorbereitete und sehr vorsichtig durchgeführte Verbrechen fet eine gemeinschaftliche Tat mit Ausnahme des Stoll gewesen.

Die auf verfahrensrechtliche und fachlich- rechtliche Ge­

fichtspunkte gestützte Revision machte zunächst geltend,

daß die Verlesung der Aussagen Höhlers, auf denen das Urteil in erheblichem Maße fuße, nicht als ausreichendes Beweismaterial angesehen werden könne. Außerdem sei in der Verhandlung auch nicht ausdrücklich der Tod dieses früher verurteilten Kommunisten festgestellt worden. Ferner wurde die Verletzung der Vorschriften über die Bereidigung gerügt, die vor allem darin erblickt werden müsse, daß ein erneut vorgerufener Zeuge seine weiteren Angaben nicht unter Bezugnahme auf den bereits ge= leisteten Eid getan habe.

Die Verteidiger der Angeklagten beschränkten sich lichen auf materielle Einwendungen. bei der mündlichen Begründung der Revision im wesent­

Während der erste Sorft- Wessel- Prozeß nur Zuchthaus strafen gebracht habe, seien zwei Beschuldigte des neuer lichen Verfahrens trog ihres wesentlich geringeren Tat: beitrags zum Tode verurteilt worden,

Die neue Verhandlung habe nach der Ansicht des Schwur­gerichts ein neues Bild der Tat gezeigt, das durch die Auf nahme des zur Verurteilung wegen Mordes unerläßlichen Tatbestandsmerkmals der Ueberlegung bestimmt werde. Der Senat müsse prüfen, ob die Feststellungen bezüglich eines Vorhandenseins von Ueberlegung bei den bereits 1930 abgeurteilten Angeklagten hinreichend seien. Wenn das nicht der Fall set, was von der Verteidigung behauptet wurde, dann müsse auch die Verurteilung Zieglers und Ep­steins wegen Mordes und Stolls wegen Beihilfe zum Mord fallen gelassen werden. Ein gemeinsamer Entschluß zwischen den früher und jetzt Verurteilten zur Ausführung der Tat sei niemals zustandegekommen. Stoll, der nur wegen Bei­hilfe zum Totschlag verurteilt werden könne, habe zwar an der Aktion teilgenommen, aber nichts von der geplanten Tötung gewußt. Die Verteidigung beantragte Auf­hebung des Urteils und Rüdverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung.

Der Senatsvorsitzende bemerfte unter Bezugnahme auf das Vorbringen der Verteidigung, die Frage der Ueber­legung fönne nur im Zusammenhang mit den Urteilsaus­führungen des ersten Prozesses erörtert werden.

Der Reichsanwalt bezeichnete das Rechtsmittel als unbegründet und verlangte seine Berwerfung. Die for mellen Rügen   seien nicht durchgreifend. Bei der Verwer­tung der Angaben Höhlers stüße sich das Urteil auf die Aussagen der als Zengen gehörten Beamten, die die Vernehmung Höhlers durchgeführt hätten. Auch ein Mangel hinsichtlich der Verteidigung von Zeugen entfalle, weil einmal die Richtigkeit der Aussagen unter Hinweis auf den Eid versichert worden sei und weil es sich zum anderen nur um eine vorbereitende Befragung ge= handelt habe.

Was nun die fachliche Seite des Urteils anbelange, so stehe der Tatsache, daß gegen die früheren Angeklagten ( Söhler usw.) nur wegen Totschlages auf Strafe erfannt worden sei, nicht entgegen, daß das Gericht in einer an= deren Verhandlung auch zu anderen Ergebnissen gelange. Es sei ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz, daß ein. Verurteilter wegen der gleichen Tat nicht noch einmal zur Rechenschaft gezogen werden könne, aber dem stehe nicht entgegen, daß in einem anderen, zweiten Ver­fahren festgestellt werde, daß die Tat eigentlich hätte schwerer beurteilt werden müssen. Denn diese Feststellung könne gegenüber dem Angeklagten aus dem ersten Prozeß nicht mehr wirksam werden, wohl aber gegenüber einem neuen Angeflagten, der auf Grund einer neuen Beweis­erhebung als Mittäter zur Aburteilung gelange.

Der Reichsanwalt erflärte dann, daß die im zweiten Verfahren ermittelten Momente darauf schließen ließen, daß die Ueberlegung auch bei den schon 1930 verur: teilten Kommunisten vorhanden gewesen sei. Die Aktion sei ganz planmäßig eingeleitet und jedem der Beteiligten, auch Epstein, Ziegler und Stoll, seien besondere Aufgaben zugewiesen worden.

Der Reichsanwalt erklärte zum Schluß, daß die öffent: liche Meinung in der Verurteilung der Angeflagten zum Tode feine unbillige Härte erblicken werde, sie werde es vielmehr bedanern, daß es keine gefeßliche Sandhabe gebe, die zu gut davongekommeren Täter des ersten Pro: zesses noch zur Verantwortung zu ziehen.

Todesurteile rechtskräftig

Der zweite Straffenat verwarf die Revision der Ange: klagten. Er gab dem Antrag des Reichsanwalts statt und folgte auch in der seiner Entscheidung beigegebenen De: gründung den Ausführungen des Anklagevertreters in allen Einzelheiten.

Mit der Verwerfung der Revision find die im zweiten Sorst- Wessel- Prozeß ausgeworfenen Strafen, instefondere die Todesstrafen für Epstein und Ziegler, und die Zuchthausstrafe für Stoll rechtskräftig geworden.

Leon Blum   gegen Doumergue  

Die Kämpfe um die französische   Verfassungsreform treten nun in ihr entscheidendes Stadium. Wir geben deshalb dem wichtigsten Gegenspieler des Minister­präsidenten Doumergue  , dem Sozialistenführer Léon Blum   das Wort:

Das erste der Gesetze, aus denen sich die französische  Verfassung zusammensetzt, das Gesetz vom 25. Februar

1875 über die Organisation der Behörden, enthält einen

Artikel 5, dessen Geschichte kürzlich von Herrn Jsrael

geschrieben wurde. Der Text dieses Artikels 5 lautet:

Der Präsident der Republik kann, auf entsprechendes Gutachten des Senats hin, die Abgeordnetenkammer vor dem legalen Ablauf ihres Mandats auflösen."

In der heutigen Verfassung haben somit zur Auflösung der gewählten Kammer zwei Gewalten einzugreifen: der Präsident der Republik und der Senat. Der Präsident der Republik, dem die Auflösungsinitiative zusteht, und der Senat, dessen Zustimmung nachgesucht werden muß.

In der Reform" des Herrn Doumergue   kommt der Präsident der Republik nicht mehr in Frage und vom Senat ist nur noch in sehr vager Andeutung die Rede. Das Auflösungsrecht ist dem Ministerpräsidenten oder besser dem Ersten Minister" übertragen, da Herr Doumergue  diesen grandiosen Titel fordert und in die Verfassung ein­zeichnen will. Der Erste Minister" tritt an Stelle des Präsidenten der Republik und er pfeift auf die Ansicht des Senats. Der Hauptpunkt hierbei ist schließlich aber der: das Recht der Kammerauflösung ohne Zustimmung des Senats steht dem Ersten Minister" insbesondere zu, wenn dieser von der Kammer in die Minderheit versetzt wurde. In diesem Falle wird der Auflösungsmechanismus in voll berechtigter Weise und fast automatisch von dem Ersten Minister" in Gang gesezt. Herr Doumergue   hat dies in seiner fünften Rede an die französische Nation" in klarer und formeller Weise auseinandergesetzt.

Ich weiß wohl, daß sich Herr Doumergue   angesichts der aufgetauchten Widerstände bemüht hat, Zweifel über seine Absichten zu säen. Eifrige Kommentatoren wie der be­rühmte Josef Barthélemy eilten ihm zu Hilfe. Offizielle Vermittler geben in der Kammer Erklärungen und Ver­sprechungen ab. Es scheint, daß wir uns über die Absichten des zukünftigen Ersten Ministers" getäuscht haben; er gedenkt keineswegs die gegenwärtige Gewalt des Präsi­denten der Republik zu usurpieren; dem Präsidenten der Republik soll, ohne vorherige Befragung des Senats, die Brärogative der Auflösung zuerteilt bleiben. Es handelt sich in dieser Beziehung um eine falsche Auslösung, eine irrige Auffassung, einen Lapsus!

Das Recht zur Kammerauflösung

Sofort nach dem ersten Ueberfliegen der Rede des Herrn Doumergue   habe ich auf diese sonderbare Ausschaltung des Herrn Lebrun aufmerksam gemacht, und ich glaube fogar das Vorrecht auf diese Entdeckung oder wenigstens diese Feststellung zu haben. Und ob es nun Herrn Josef Barthé­lemy und den offiziösen Vermittlern gefallen mag oder nicht: ich habe mich keineswegs getäuscht. Hier ist der authentische Text, hier ist der Text, der, wie man wohl weiß, unwiderruflich ist, seit er dem französischen   Volk unterbreitet wurde.

,, Verleihen wir den Regierungen die Autorität, deren sie bedürfen, dadurch, daß wir zuerst ihrem Chef durch einige in die Verfassung einzuzeichnende Worte die Eigenschaft des Ersten Ministers verleihen, die er besitzen muß. Er­lauben wir diesem sodann für den Fall der Uneinigkeit zwischen Regierung und Kammermehrheit, sich sofort an das Land zu wenden, ohne zu den gegenwärtigen Formali täten und Prozeduren greifen zu müssen."

Der Text ist formell. Es ist keine Zweideutigkeit und es sind auch keine verschiedenen Interpretationen möglich. Das sofortige Auflösungsrecht, ohne Formalität und ohne Prozeduren, würde nicht mehr dem Präsidenten der Republik, sondern dem Regierungschef zustehen, der zum ,, Ersten Minister" avanciert ist, da ihm dieser Wechsel des Titels mit einem Streich irgendwelche geheimnisvolle Zauberkraft verleihen würde: die Autorität, deren er benötigt." Und dieses sofortige Auflösungsrecht ohne For­malität und Prozedur würde in automatischer Weise für den Fall der Uneinigkeit zwischen Regierung und Kammermehrheit" spielen, das heißt, wenn die Kammer­mehrheit der Regierung das Vertrauen verweigert hat. Es ist sehr wohl möglich, daß in Bersailles oder in Paris  vor der Reise nach Versailles  - dieser unabänderliche Text verändert wird. Herr Doumergue   hat von seiner Höhe herab erklärt, daß, nachdem seine Pläne nun dem Land bekannt seien, er an ihnen nicht die geringste Ab­änderung mehr vornehmen könne. Es wird ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als seinen Rückzug in einer siebenten Radiorede an die französische Nation zu erklären. Ich werde im übrigen zeigen, daß das Recht der so­fortigen und unumstößlichen Auflösung ohne Formalität