Fretheil
Nr. 249 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Donnerstag, den 8. Nov. 1934 Chefredakteur: M. Braun
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Österreichische Reportage
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Hitlers Weisen von Zion" Ende des Burgiriedens
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Geschichtsquelle des„ Führers" als Schundliteratur entlarvt
Fast eine Woche lang hat man vor dem Gericht in Bern im Prozeß über die„ Weisen von 3ion" verhandelt. Las man die Berichte, so glaubte man sich in eine Gespenstersitzung versetzt. Um eine längst erwiesene Fälschung, die vor. Jahrzehnten im zaristischen Rußland von der Ochrana fabriziert wurde, gaufelte der Höllenspuck unserer Zeit. Man sah in die Produktionswerkstätte der Geschichtslüge und verfolgte die Wegspur des literarischen Schmutzes, beginnend beim fleinen Provokateur und mündend beim Diftator. Das Berner forensische Ereignis gehört zu den großen säkularen Prozessen, die ihre Epoche enthüllen.
Sein Ausgang steht fest, obwohl er bis Mitte Dezember vertagt wurde. Die„ Deutsche Freiheit" hat die Aussagen der Zeugen und Auszüge aus den Gutachten der Sachverstän= digen veröffentlicht. Das Gericht hat mit einer Gründlichkeit nachgeprüft und die Beweisaufnahme in einem Umfange zugelassen, die im Gegensatz zu der Belanglosigkeit der Angeflagten, einigen Schweizer Frontisten, standen. Das Gutachten von Professor Baumgarten umfaßte 120, das
Der Sachverständige kommt zu dem Schluß, daß die Protofolle" in literarischer Hinsicht unter den Begriff der Schundliteratur fallen, und zwar unter die schlimmste Sorte der Schundliteratur, die darin besteht, in verleumderischen, unterschiebenden Druckerzeugnissen, bewußt und gewollt, darauf auszugehen, ihre Leser zu verrohen, die Sittlichkeit und Rechtssicher heit zu erschüttern, gröbliches Aergernis zu er regen und das Schamgefühl, wie das Gewissen ihrer Lesers schaft dermaßen irre zu führen und zu betäuben, daß sie sich zur Begehung von eigentlichen rechtswidrigen Handlungen bereit finden läßt."
Mit diesen„ Weisen von Zion " haben die nationalsozialistischen Führer ein Volk in eine wilde Hetz- und Haßatmosphäre gedrängt. Mit der Behauptung, daß die Juden, den Baseler Protofollen" gemäß, gewalttätig nach einer absoluten Weltherrschaft strebten, wurden Rechte und Menschen vernichtet und dem kleinen Mörder die Waffe in die Hand und den Glauben an die„ Moral" seines Tuns ins Herz gepreßt.
von Dr. Loosli 200 Seiten. Jetzt soll noch ein Experte der An der Wiege des ,, dritten Reiches"
Angeklagten, ein Oberstleutnant a. D. namens Fleischhauer aus Mitteldeutschland , Einsicht in die Akten erhalten. Der zuerst vorgeschlagene berühmte Pfarrer a. D. Münchmeyer, nder Judentöter von Borfum, war von der Post unauffindbar. Er lebt also noch. Jüngst hat er das Jubiläum seiner sechstausendsten Hezversammlung begangen.
Fälschung und Schundliterator
Wie urteilten die Sachverständigen, Gelehrte mit untadelhaft rassereinen Stammbäumen? Die Protokolle seien eine ,, notorische Fälschung", um Judenpogrome in Rußland herauszufordern, sagt Professor Boumgarten. Sie bildeten in der vorliegenden Publikation von Fritsch einen„ Bei trag zur Schundliteratur". Aus den bisher nur in furzen Auszügen veröffentlichten Gutachten von Dr. Loosli geben wir folgende Stellen wieder,
Auf Grund von Urkunden steht fest, daß die Sammlung von Grundlagen für die Fälschung der Protokolle" be: reits im Jahre 1884 begann. Es besteht jedoch die Wahr:
scheinlichkeit, daß die Sammelarbeit der russischen poli: tischen Geheimpolizei, der Ochrana , schon früher be:
gonnen hat. Als erwiesen ist zu betrachten, daß die
" Protokolle" in ihrer annähernd endgültigen, französischen Fassung unter der Anleitung Ratschkowifys, Leiter der russischen politischen Geheimpolizei im Ausland, im Jahre 1905 in Paris angefertigt und später noch ergänzt wurden. Die Fälschung diente internen russischen Motiven und sollte dem Zaren beweisen, daß die Juden es seien, welche sich gegen die damalige ruffische Staatsverfassung ver: schworen und die jüdische Weltherrschaft anstrebten Der Fälscher Ratichtowity ist eine düffere Gestalt, die erwiefenermaßen auch in anderen Fällen von Fälschungen und Provokationen nicht zurückschreckte. Der Text der " Protokolle“ wurde dann später noch von S. A. Nitus erweiternd gefälscht.
Die Frage, ob Beweise vorliegen, daß die„ Protokolle" aus politischen Motiven gefälscht worden sind, muß be: dingungslos bejaht werden. Der Sachverständige stellt in Uebereinstimmung mit einer im Jahre 1921 von der großen englischen Zeitung„ Time 8" durchgeführten Untersuchung fest. daß die" Protokolle" judenfeindlichen und anderen politischen Zwecken dienten. Ohne die„ Protokolle" wäre dies nicht oder dann nur in viel geringerem Maße möglich gewesen. Sie boten den Anlaß zu Judenpogromen und schürten im Volke, namentlich im national: fozialistischen Deutschland , den Haß gegen das Judentum. Die Verbreitung dieser Schrift hat also überall, wo sie sich auswirkte, furchtbare Folgen gehabt.
Nicht eine Behauptung der Befürworter der Echtheit der„ Protokolle" hält einer unbefangenen, ernsthaften Prüfung ftand. Ueberall, wo der Wahrheitsbeweis versucht wird, verwickeln sich die Beweisführer in. Wider: sprüche. So oft es gelingt, einen Gewährsmann festzn= halten, erweist er sich bei näherem Zusehen ausnahmslos als ein Mensch von recht zweifelhaftem fittlichem Wert, wenn nicht gar als Berufsfälscher oder Ver= brecher.
Außer der bereits erwähnten Hauptquelle der„ Protofolle", nämlich das 1864 erschienene Buch von Joly ..Dialogues aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu" ist als wesentliche Quelle u. a. der Roman„ Biarrig" des antisemitischen Schriftstellers Goediche, genannt Sir John Retcliffe , im Abschnitt„ Der Judenfriedhof zu Prag " zu bezeichnen. Dieser Roman erschien bereits im Jahre 1868.
Vergessen wir nicht: die„ Protokolle der Weisen von 3ion" waren, sind und bleiben ein literarisches Dokument des„ dritten Reiches". Es steht in jeder besseren braunen Bibliothek. Es ist Informationsquelle und Lehrmittel für die Instruktioren von SA., KJ. und BdM . Es fügt zu den Beweisen über die jüdische Verworfenheit noch das schöne, zur Aftion anspornende Gruseln hervor.
Die Weisen von Zion stehen sogar an der Wiege des ,, dritten Reiches". Der„ Führer" und Reichsfanzler hat sie selbst inthronisiert, die neuen Könige aus dem Morgenlande zu Füßen des Hakenkreuzes. Es gibt in Hitlers Mein Kamps" zahlreiche Stellen, in denen sich der Autor immer wiedeer auf die„ Protokolle" beruft. Er sieht( Seite 387, Ausgabe 1993) in den Behauptungen, daß sie gefälscht seien,„ gerade den Beweis für ihre Echtheit". Sie zeigten ,, mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes".
Der, Führer"-
von den Weisen inspiriert?
Aber das ist nicht alles. In der„ Deutschen Freiheit" hat zu Beginn dieses Jahres ein Naziführer- Emigrant überzeugend nachgewiesen, daß des deutschen Volkes„ Führer" die„ Weisen von Zion " nicht nur benutzt hat, um die Niedertracht der Juden zu belegen. Dieses Teufelswerk hat anscheinend eine noch viel tiefere Wirkung gehabt. Ganze Partien aus den„ Weisen von 3ion" lesen sich wie marfante Stellen aus Hitlers Reden. Die durch Fälschung den Juden unterschobene Staats- und Moralauffassung hat eine geradezu sensationelle Achnlichkeit mit den nationalsozialistischen Machtprinzipien im heutigen braunen Alltag.
Wir geben einige Beweise:
„ Weisen von Zion ", 22, II. und III. Wenn die Zügel der Verwaltung am Boden schleifen, dann erfaßt nach den Naturgefeßen eine neue Hand die Zügel und zieht sie an; denn die blinde Masse des Volkes kann nicht einen Tag lang ohne Führer sein. Die neue Macht tritt an die Stelle der alten, welche der Liberalismus zermürbt hatte... Der große Haufe, der sich ausschließlich von seichten Leidenschaften, Aberglauben, Gewohnheiten, Ueber: lieferungen und gefühlvollen Lehrsägen leiten läßt, ver: strickt sich in den Parteigeist, der jede Möglichkeit einer Verständigung ausschließt, wenn sie auch auf Grund ge= sunder Vorschläge angebahnt wird.... Unser Recht liegt in der Stärke. Das Wort„ Recht" ist ein tünstlich gebildeter und durch nichts bewiesener Begriff. Er bedeutet nicht mehr als:" Gebt mir, was ich wünsche, damit ich einen Beweis dafür habe, daß ich stärker bin als ihr." Wo fängt das Recht an, wo hört es auf? In einem Staate, in welchem die Macht schlecht geregelt ist, in welchem die Gefeße und der Herrscher durch zahlreiche Gefeße des Freisinns machtlos geworden sind, schöpfe ich eines Recht, mich nach dem Rechte des Stärkeren auf die Verwaltungen zu stürzen, meine Hand auf die Ge: setze zu legen alle Einrichtungen umzubilden und der Herr derer zu werden, die uns ihre Macht freiwillig aus„ Liberalismns" über: lassen haben.
( Fortsetzung von Seite 2.)
Der Riẞ im Kabinett Doumergue
Paris, 7. November, Das Ende des Kabinetts Doumergue ist da. Ueber den gestrigen Kabinettsrat ist ein amtliches Kommuniqué ausgegeben worden, dessen Inhalt nichts: fagend ist. Kein Wort steht darin von der einzigen aktuellen Frage:„ Sind die radikalsozialistischen Minister wetter bereit, Doumergue zu stüßen?" Dennoch war die Ents scheidung in dem kurzen Kabinettsrat, der unter dem Vor siz des Staatspräsidenten Lebrun stand, bereits gefallen: gegen Doumergue .
Die Sigung verlief dramatisch.
Ministerpräsident Doumergue hatte sein Exposé vorgetragen und seinen Mitarbeitern ausführlich begründet, warum er von der Kammer die Stimmen zu 3/12 des Haushaltsplanes für 1935 verlangt, anstatt den Etat in der üblichen Weise vorzulegen und beraten zu lassen. Dann bekam Herriot , der Führer der Radikalsozialisten, das Wort.
Zunächst sprach Herriot dem Ministerpräsidenten seine persönliche Wertschäzung aus, schloß aber dann mit der Erklärung, daß er leider nicht in der Lage sei, Doumergue auf dem von ihm eingeschlagenen Wege zu folgen und infolgedessen mit seinen Freunden die geforderten 3wölftel ablehnen werde.
" In diesem Falle," erwiderte Doumergue , lehnen Sie die gesamte Politik ab, die die von mir geführte Regierung verfolgt, und ich muß Sie als entlassen betrachten."
Bei dem Wort Entlassung sprang Herriot auf:„ Also. Herr Präsident, jagen Sie uns davon." Jch jage Sie nicht davon," erwiderte Doumergue , „ Sie gehen ja selbst, fordern Ihre Ent laffung, Gie werden die Verantwortung für den Bruch des Burgfriedens tragen."
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Herriot verließ sofort das Beratungszimmer und seine Mitarbeiter Berthaut, Lamoureux u. a. m. schlossen sich ihm an. In einem Nachbarzimmer besprachen nun die radikalsozialistischen Minister die neugeschaffene Lage, während Innenminister Marchandeau bei Doumergue geblieben war, um als Verbindungsmann die Vermittlung zwischen den Radikalsozialisten und der Regierung zu führen.
Es gewann auch den Anschein, als ob der Finanzminister Germain Martin, der schon 24 Stunden vorher hatte zurücktreten wollen, geneigt sei, sich den radikalsozialistischen Ministern anschließen zu wollen. Dem Eingreifen des Außenministers Laval war es zu danken, daß es nicht sofort zu einem auch in der Oeffentlichkeit in Erscheinung tretenden Bruch kam. So einigte man sich auf einem vom Präsidenten Lebrun ausgehen. den Vermittlungsvorschlag, wonach die radikalsozialistischen Minister erst am Donnerstag offiziell zurücktreten werden. Dieser Ausweg wurde gewählt, damit die Regierung bei der gestern von Kammer und Senat veranstalteten Trauerkundgebung für Alexander I. von Jugoslawien , Barthou und Poincaré vollständig vertreten sein konnte, und dadurch diese Kundgebungen einen geschlossenen Eindruck machen konnten.
Die Nachricht von dem Ende des Burgfriedens rief in der Kammer, wo sie bald nach Schluß der Trauersizung bekannt wurde, ungeheure Erregung her vor. In Gruppen standen die Abgeordneten und Journa listen in den Wandelgängen und besprachen das Ereignis des Tages.
Man nimmt an, daß in der für Donnerstag vormittag angesetzten Kabinettsjigung die gesamte Regierung ihren Rücktritt erklären wird. Wahr scheinlich wird dann Präsident Lebrun Doumergue ersuchen, eine neue Regierung zu bilden. Wenn diese Regierung dann noch am Donnerstagabend gebildet sein würde, würde sie erst die Kammer- Auflösung fordern. Hierzu wäre nach der Verfassung die Zustim mung des Senats erforderlich. Sollte nun diese Lösung scheitern, dann, so wird versichert, würde Doumergue seinen Rücktritt fordern und Kriegsminister Marschall Pétain als seinen Nachfolger in Vorschlag bringen.
Von den Kandidaten, die sonst für die Ministerpräsidentschaft in Frage kämen, werden an erster Stelle Außenminister Laval, Kammerpräsident Buisson, der vor etwa einem Jahre aus der Sozialistischen Partei ausgeschieden ist, und Minister Flandin , der Präsident der demokratischen Vereinigung, genannt.