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Samstag, den 10. November 1934
Revolution und Emigration")
Von Alexander Heczen
Ueber eine eigene Theorie verfügen, ein für allemal feststehende Ziele haben, das ist in der Politik ebenso schädlich wie in der Wissenschaft. Cromwell hat gesagt:„ In einer Revolution wird derjenige am weitesten gelangen, der nicht weiß, wohin er geht."
Ein Mensch, der Lebensinstinkt hat, geht bis ans Ende, bis zu den letzten Konsequenzen. Der Mensch der Theorie und der Reflexion geht nie über die Schranken, die er sich selbst gesetzt hat; und da kommt er, auch bei allergrößtem Talent und günstiger Konstellation, den Gang der Ereignisse und stürzt den heiligen Berg hinab in die Gironde .
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Alles, was stehn bleibt und hinter sich schaut, wird zum Stein, wie Lots Weib, und bleibt auf dem Wege liegen. Die Geschichte gehört stets nur einer Partei: der Partei der Be
wegung.
Es ist bald an der Zeit, nachzudenken und vor allem die Gegenwart tiefer zu erforschen. Wir müssen aufhören, andern und uns selbst etwas weiszumachen, was nicht existiert, und vor Tatsachen die Augen zu verschließen, die zwar bestehn, aber uns nicht in den Kram passen. Wann werden wir davon lassen, den Menschenhaufen, der bei einer Kundgebung zusammenläuft, für ein fertiges Heer der Revolution zu halten, die Stimme des Volks in Zeitungsartikeln zu suchen, die von uns selbst oder von nächsten Freunden geschrieben sind, und die öffentliche Meinung in einem engen Freundeszirkel, der Tag für Tag zusammenkommt, um stets dasselbe zu wiederholen?
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unseren
In wirren Epochen der gesellschaftlichen Umwälzung, in denen die Staaten für lange Zeit aus den Fugen geraten, kommt eine neue Generation von Menschen auf, die man als Choristen der Revolution bezeichnen kann. Dem stets beweglichen, vulkanischen Boden entsprossen, in steter Unruhe aufgewachsen, lebt sie sich von früher Jugend in die politische Aufregung hinein, bekommt die dramatische Seite der Umwälzung, ihre feierliche und grelle Aufmachung lieb. Für diese Leute sind all die Kundgebungen, Proteste, Versammlungen, Reden, Fahnen das wichtigste in der Revolution.
Unter ihnen finden sich zweifellos gute, tapfere Menschen, die ihrer Idee ergeben und in jedem Augenblick bereit sind, den Kopf dafür zu wagen; aber die meisten sind beschränkte Pedanten. Unbewegliche Konservative der Revolution, bleiben sie bei irgendwelchem Programm stehen und gehen
nicht vorwärts.
Sie zehren ihr ganzes Leben lang von ein paar politischen Ideen, von denen sie aber auch bloß ihre rhetorische, feierliche Außenseite verstehen, das heißt jene Gemeinplätze, die immer wieder nacheinander zum Vergleich kommen, wie die Entchen in dem bekannten Kinderspielzeug.
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Emigrationen, die nicht mit einem bestimmten Zweck unternommen werden, sondern sich aus dem Sieg der Gegenpartei ergeben, unterbrechen die Entwicklung und ziehen die Menschen in eine fiktive Tätigkeit hinein. Die Emigranten verlassen die Heimat mit verhaltenem Grimm, mit dem Gedanken, morgen zurückzukehren; deshalb können sie nicht
SA- Dentist
Heroische Zahnbehandlung
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Der Reichsdentistenführer erklärte unlängst in Uebereinstimmung mit dem Führer der deutschen Fachschaft- daß die von der deutschen Studentenschaft für ihre Mitglieder angeordnete Arbeitsdienstpflicht in derselben Weise und unter denselben Bedingungen auch für die Dentisten zutreffe. Auch der Dentist müsse durch und durch vom nationalsozialistischen Geiste erfüllt sein, darauf komme es vor allem an. Ueber die berufliche Befähigung wurde bei dieser Gelegenheit nichts ausgesagt, das wäre auch überflüssig gewesen, denn es ist im ,, dritten Reich" oft genug betont worden, daß es nicht auf die Leistung, sondern einzig auf die Mitgliedsnummern ankommt.
Uns fällt ein Entwurf in die Hände, ein Vorschlag, wie der neue Dentistengeist in der Praxis zu handhaben sei. Wir übergeben das hoffnungsvolle Werk hiermit der Oeffentlichkeit:
1. Arbeitsbeschaffung: Jedem Dentisten ist unverzüglich ein altgedienter SA.- Mann, gleich welcher Profession, als gut bezahlter Assistent zur Seite zu geben. Er hat u. a. die Aufgabe, den Patienten vor dem Zahnziéhen durch einen kräftigen Fausthieb auf den Mund zu betäuben. Dadurch wird der widerspenstige Zahn gleichzeitig vorgelockert, und die Operation vollzieht sich fast von selbst. Sollten in der Umgegend weitere Zähne ins Wackeln kommen, so läge das nur im Sinne der Arbeitsbeschaffung. 2. Nachwuchs: Die Schulung des Dentisten- Nachwuchses erfolgt künftig weder in wissenschaftlichen Instituten, noch in der zahnärztlichen Praxis erfahrener Kollegen, vielmehr in Dentistenlagern mit festgefügtem Stundenplan. Ausbildung in allen Waffengattungen gewährleistet. Sofern nach dem Exerzieren freie Zeit bleibt, können praktische Uebungen im Zahnausziehen vorgenommen werden. Jüdische und marxistische Probepatienten stellt der Staat.
Das Rezept
..Die Deutsche Weinzeitung" veröffentlicht einen Aufruf an die Winzer und Weinhändler, in dem sie erklärt, die Be teiligung an der Winterhilfe solle vor allem durch Weinspenden geschehen. Es käme besonders darauf an, durch
vorwärts gehen, kehren sie immer wieder zum Alten zurück. Ihre Hoffnungen selbst lassen sie nicht zur ausdauernden Arbeit kommen; die Gereiztheit und die inhaltlosen aber heftigen Diskussionen bewegen sich stets in einem beschränkten Kreise von Problemen, Ideen und Erinnerungen, aus denen sich eine verpflichtende und belastende Tradition herausbildet.
unange
Die Emigranten verschließen die Augen vor nehmen Wahrheiten und leben sich in ein fantastisches Milieu hinein, das aus trägen Reminiszenzen und unerfüllten Hoffnungen besteht. Sie glauben fest daran, daß ihre Niederlage eine vorübergehende Schlappe sei, und packen beharrlich ihre Koffer nicht aus.
Alle Emigrantenparteien sind zäh und konservativ; jede Entwicklung erscheint ihnen als Schwäche, fast als Verrat: Hast du ein Panier ergriffen. so stehe und falle mit ihm, auch dann, wenn du sogar mit der Zeit herausgefunden haben solltest, daß seine Farben ganz andere sind als du zuerst geglaubt hast.
So vergehen Jahre: alles verändert sich um sie. Wo früher Schnee lag. wächst nun Gras, statt Sträuchern erblickt man Wälder, statt Wäldern Baumstümpfe sie merken jedoch nichts. Einige Ausgänge sind jetzt vollkommen verschüttet; aber grade hier klopfen sie beharrlich an; ein neuer Spalt hat sich geöffnet, das Licht aus ihm strömt in breiten Streifen herein; aber sie blicken in die entgegengesetzte Richtung.
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Vive la mort, Freunde! Und Prosit Neujahr! Jetzt wollen wir konsequent sein und unsere eigene Idee nicht verraten! Wir werden keine Furcht haben vor der Verwirklichung dessen, was wir vorausgesehen haben; wir werden uns nicht von jenem Wissen lossagen, das wir durch so bittere Opfer erobert haben. Jetzt gilt es stark zu sein und für unsere Ueberzeugung einzustehen.
Wir haben den Tod seit langem kommen sehen; wir können betrübt sein, aber wir können uns weder wundern noch verzweifeln, noch den Kopf sinken lassen. Im Gegenteil: Wir können ihn noch heben wir haben recht behalten. Man hat uns unheilverkündende Raben geschimpft, die das Unglück heraufbeschwören, man hat uns der Spaltung beschuldigt, der Unkenntnis des Volkes, der Ueberheblichkeit und des kindlichen Unmuts. Wir waren aber bloß dessen schuldig, die Wirklichkeit erkannt und uns nicht gescheut zu haben, sie offen auszusprechen.
*) Die ,, Neue Weltbühne", der wir diese interessante Ausgrabung verdanken, bemerkt dazu: ,, Hätten wir die nachstehenden Reflexionen Alexander Herzens( sie sind, soweit wir das beurteilen können, hier zum ersten Male irs Deutsche übertragen) damals schon gekannt, dann wären sie in der ersten Nummer unserer Zeitschrift als Wegweiser erschienen. Diese genialen und strengen Worte stammen aus den Jahren 1842 bis 1855( Herzen ging 1847 ins Exil und dort ist er auch, 1870, gestorben); sie geben, vor acht Jahrzehnten geschrieben jenen Antwort, die sich über Pessimismus", ..zersetzende Kritik" und Unkenrufe" einer Publizistik beklagen, der es ernst ist mit der erkenntnismäßigen Bewältigung ihrer Zeit."
3. Führergedanke: Falls der Dentist trotz seiner Schulung und trots seiner alljährlichen Weiterbildung in einem landwirtschaftlichen Arbeitsdienstlager den Herd der schmerzhaften Zahnerkrankung nicht zu erkennen vermag, bestimmt der SA.- Assistent, wo es weh tut. Widerspenstigkeit hat Sterilisierung zur Folge.
4. Ertüchtigung: Behandlungsstühle sind ein Ueberbleibsel aus der Zeit knochenerweichender Humanitätsduselei, sie müssen verschwinden. Der Patient hat während der Behandlung in Anbetracht der nationalen Verdienste seines Dentisten in Kniebeuge zu verharren.
5. Volksgemeinschaft: Volksgenossen mit gesunden Zähnen sind zwangsweise zur Behandlung vorzuführen. Erst wenn die Kauwerkzeuge aller Untertanen ohne Ausnahme in den nötigen unansehnlichen Zustand versetzt sind, wird niemand mehr wagen, das Maul aufzureißen und den Führern die Zähne zu zeigen.
6. Winterhilfe: Im Rahmen der Winterhilfe sind den Minderbemittelten alle Zähne gratis zu ziehen. Sie werden auf diese Weise weniger empfinden, daß sie nichts zu beißen haben, weil sie einfach nicht beißen können. 7. Materialschlacht: Einsetzen von Plomben entfällt künftig!( Siehe die Retung tut not".)
Die Ballade
vom Baum und den Aesten
Und sie kamen in ihren Hemden von braunem Schirting daher Und Brot und Brotaufstrich waren rar.
Und sie fraßen mit unverschämten Reden die Töpfe leer, In denen schon fast nichts mehr war.
Hier werden wirs recht toll treiben, sagten sie, Hier können wir wundervoll bleiben, sagten sio Mindestens tausend Jahr.
Gut, das sagen die Aeste,
Aber der Baumstamm schweigt. Mehr her, sagen die Gäste,
Bis der Wirt die Rechnung zeigt.
Und sie suchten sich dicke Posten, neue Schreibtische wurden bestellt..
Und sie fühlten sich gänzlich zu Haus. Sie fragten nicht nach den Kosten, sie sahen nicht auf das Geld: Sie waren aus dem Gröbsten heraus. Hier können wir's recht toll treiben, sagten sie. Hier können wir wundervoll bleiben, sagten si6. Und sie zogen die Stiefel aus.
Gut, das sagen die Aeste,
Aber der Baumstamm schweigt. Mehr her, sagen die Gäste,
Bis der Wirt die Rechnung zeigt.
Und sie schießen ihre Pistolen in jeden bessern Kopf, Und sie kommen mindestens zu zweit.
Und dann gehen sie drei Mark abholen aus ihrem goldenen Topf.
Jetzt waren sie endlich so weit.
Der wird immer schön voll bleiben, sagten sie, Da können wir's lange toll treiben, sagten sie, Bis ans Ende der Zeit.
Schön, so sagen die Aeste,
Aber der Baumstamm schweigt. Mehr her, sagen die Gäste,
Bis der Wirt die Rechnung zeigt.
Und ihr Anstreicher strich die Sprünge im Haus mit brauner Tusche zu,
Und sie schalteten alles gleich.
Und wenn es nach ihnen ginge, dann wären wir auf Du und Du. Sie dachten, da springen wir gleich!
Wir müssen es nur toll treiben, sagten sie, Dann können wir wundervoll bleiben, sagten sie, Und uns bauen ein drittes Reich.
Gut, das sagen die Aeste,
Aber der Baumstamm schweigt.
Mehr her, sagen die Gäste,
Bis der Wirt die Rechnung zeigt.
( Aus Lieder, Gedichte, Chöre, Editions du Carrefour, Paris .)
» Kulturwille
Menschen, die Bücher lesen...
Aus dem Reiche schreibt uns ein illegal arbeitender Freund:
Der ostpreußische Junker mit seinen zwei Ochsen vor und einem Ochsen, der nur ,, hüh" und ,, hott" sagen kann, hinter dem Gespann, feiert im dritten Reich" seine Auferstehung. Bildung und Wissen sind für die Karikatur dieses Staates eine Gefahr. Darum kann die Monatsschrift ,, Die Tat" der Herrscher in Naziotien absolut sicher sein, wenn sie in den letzten Heften folgende Säte prägt:
,, Menschen, die Bücher lesen, sind stets und mit Notwendigkeit unzuverlässig."
Und ..Bücher bereiten Zersetzung und Widerstand vor. Büchereien können Zellen der Auflösung und Zersegung sein auch dann, wenn kein einziges Werk, das verboten ist, geführt wird."
In der Handelshochschul- Bibliothek, herausgegeben von Prof. Max Apt , Berlin, Band 19, II. Teil,„ Wirtschaftsgeschichte" von Prof. Rudolf Häpke und Prof. Erwin Wiske mann an der Universität Königsberg , finden wir in der Literaturausgabe( Seite 7) folgende Säge:
,, Die Geschichtsphilosophie des Nationalsozialismus ist vom Führer selbst entwickelt: Adolf Hitler „ Mein Kamp f", zwei Bände, in immer neuen Auflagen. Neben diesem Buch der Tat und seherischen Gestaltung des Führers verblaßt alle intellektuell nachspürende und konstruierende Geschichtstheorie."
Das Seherische hat der Führer" dann wohl mit dem Geenig August von Sachsen gemeinsam, der das Wort prägte: Huren und Professoren kann man an der Straßenecke kaufen.
neueste Aufklärungsschrift Gelächter im ,, dritten Reich"
8. Blut und Boden: Es muß unsere Aufgabe sein, auch in der Zahnbehandlung den Geist unserer germanischen Vorfahren zum schmerzhaften Erlebnis machen. Als die Römer noch mit hohlen Zähnen umherliefen, hatte Hermann der Cherusker bereits Gold im Munde. Bei hartnäckigen Zahnbeschwerden Rückkehr zu den uralten, guten Mitteln: Umhängen von Bärenzähnen, Auflegen heiliger Pferdeäpfel, vermengt mit deutscher Muttererde, Blutopfer und Beschwörung durch die zuständige Blocknorne.
Weitere Vorschläge sind zu senden an den Reichsführer des deutschen Zahnzugs, der für jede völkische Anregung dankbar ist.
diese Spende die geistige und seelische Not der Freudearmen zu lindern.
Natürlich werden nicht die..Freudearmen" den Winterhilfe- Wein zu trinken bekommen. sondern die ,, notleidenden" Bonzen, die ja, nicht wahr, Herr Ley, auch immer weit mehr Durst haben als die gewöhnlichen Volksgenossen"
Freunde aus dem ,, dritten Reich" schicken uns diese Reihe von Scherzen, die drüben geflüstert werden. Nicht alle sind gut und nicht alle sind neu. Trogdem geben sie einen guten Einblick in die Stimmung und über das, was unter Hitlers Szepter besonders wirkt. Siegreiche Arbeitsschlacht: Der einzelne Arbeitslose wird immer weniger.
Die Eltern von Goebbels sind in das Konzen trationslager gekommen, weil sie den Josef so ,, mies gemacht" haben.
Göring fragt in Griechenland die Pythia , das Orakel zu Delphi, nach der Zukunft Deutschlands . Die Pythia sagt: Noch nie hat eine Regierung so fest gesessen, wie die deutsche .
Eine neue Blumenpflanze hat eine ungeheure Verbreitung in Deutschland gefunden. Sie wächst in allen Gegenden und blüht zu jeder Jahreszeit: Die Kritik. Aster.
Die Kater werden kastriert, damit keine..Miss mehr gemacht werden kann.