Freihei
Nr. 265 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Mittwoch, 28. November 1934 Chefredakteur: M. Braun
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Gerüchte
Jubiläum Kraft durch Freude cre
Kulturtatsachen der marxistischen Arbeiterbewegung
gegen Bonzenweihrauch
Einstige Leistung- ohne Phrase Arbeit und Anregung zu geben. Die Freie Bolks.
„ Ein Jahr Kraft durch Freude ": so geht es jetzt preisend durch alle Spalten der braunen und gleichgeschalteten Presse. Die nationalsozialistischen Zerstörer der deutschen Arbeiterbewegung lassen sich in Feiern allenthalben als Pioniere eines bisher nie dagewesenen Werfes zugunsten des deut schen Arbeitsvolfes rühmen. Um die spärliche Haarkrone des Herrn Dr. Ley ranft sich der Lorbeer, weil er endlich zum Sozialismus der Tat" geschritten sei, wie ,, Kraft durch Freude " beweise. Vor uns stehen zahllose Be richte über die in ihrem Namen erfolgten Veranstaltungen. Wenn bei einer Abendveranstaltung der Gefolgsmannen des Betriebes die Frau Direktor mit dem Werkmeister tanzte, so war dies ein Beispiel der Volksgemeinschaft. Wenn die Auserlesenen aus den Betrieben auf Ferienfahrt geschickt wurden, dann brachten Zeitungen und Zeitschriften immer wieder die gleichen Reflameschilder:„ Großstädtische Fabrikarbeiter, zum erstenmal in die Schwarz wald Sonne blickend", oder: Hüttenarbeiter erleben die Hohe See".
Man erfuhr nicht, daß die großen Bade: und Luftfurorte der besseren Herrschaften, Wiesbaden , Nauheim , Homburg , Garmisch- Partenkirchen usw., befehlsgemäß von diesem Armen- Leut- Besuch verschont werden mußten.
Nur inoffiziell wurden die Seufzer der Hoteliers und der großen Reedereien bekannt, für die Kraft durch Freude " immer ein fehr gefürchtetes Verlustgeschäft bedeutete, Sie hielten sich dann vielfach durch schlechte Unterbringung und Verpflegung schadlos.
Aber das nur nebenbei. Wir halten uns nicht an Kleinig feiten. Dieses Kraft- durch- Freude- Wert" wird selbst von flugen Leuten als eine Gipfelleistung nationalsozialistischen Kulturwillens angesehen. Mangelhaft Unterrichtete glauben, daß hier eine schöpferische Leistung vorliege, die in der Sozial- und Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung nahezu ohne Vorbild und ohne Beispiel set. Wir sind gezwungen, diese Gutgläubigen zu enttäuschen. Denn was ist tausendjach bestätigte und beweisbare Wirflichfeit? Die Organisation der deutschen Arbeiterbewegung, gegliedert in die drei großen Säulen Sozialdemokratie, freie Gewerkschaften und Genossenschaften, haben sich, che sie von den braunen Usurpatoren verwüstet und bestohlen wurden, niemals nur auf die nüchtern praktische Leistung im Dienste an ihrer Mitgliedschaft beschränkt. Von Anfang an haben sie zugleich vor ihnen höchste kulturelle Verantwortung empfunden.
Sie haben die Arbeiterschaft erweckt aus der Dumpfheit eines nur wirtschaftlich betonten Daseins. Sie haben sie zuerst mit den geistigen Gütern der Nation vertraut ge= macht und in Unzähligen die ersten Funken des künst lerischen Erlebens entzündet.
Sie haben sich mittelbar und unmittelbar eine Reihe von Kulturorganisationen angegliedert, die in der deutschen Arbeiterschaft die Freude an der Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers und den Sinn für die Schönheiten der Natur entfachten und unermüdlich zu entwickeln suchten. Sollen wir sie aufzählen?
Bir nennen die Arbeitersportbewegung, die mit den Turnern und Radlern begonnen hatte und für viele Hunderttausende, Männer, Frauen und Kinder Entspannung und Vergnügen bedeutet hat. Die große Organisation der„ Naturfreunde" hat die Arbeiterschaft das Wandern gelehrt, wofür die unzähligen, aus eigenen Mitteln erbauten Naturfreundehäuser zeugen. Darin haben Millionen ihren freien Sonntag verbracht, denen ihnen erst die Arbeiterbewegung erfämpft hat, ihren Urlaub, den ihnen erst die freten Gewerkschaften errungen haben. Billige Reisen in das Gebirge und an die See, auch ins Ausland wurden organisiert. Die Arbeiterschaft der verruchten vierzehn Jahre besaß ihre eigenen Bootshäuser zur Pflege des Ruder- und Segelsports und hatte sich in den großen Städten bereits eine Anzahl von Sportflugzeugen geschaffen. Wir brauchen nicht zu sagen, daß alles teils vernichtet, teils gestohlen wurde, um, als nationalsozialistische Originalleistung wieder aufzuerstehen. Wir er= innern ferner an die sich mächtig entfaltende Kinderfreunde bewegung mit ihren Ferienspielen und ihren großen Zeltlagern, die die Hitlerjugend heute nachzuahmen sucht. Welch eine mächtige Kulturschöpfung war Arbeiterfängerbewegung, die in dem Jahrzehnt nor dem Umbruch begonnen hatte, aahlreichen 2omponisten
die
bühne, die die deutsche Bühne aus dem Bann der fitschigen Romantik erlöste und dem jungen Naturalismus Wegfreiheit verschaffte. Billige Voltsvorstellungen und Konzerte und Wanderbühnen erschlossen den Arbeitern deutsche Kunst. Sie ist mit ihren Verzweigungen bis in die kleinsten Städte hinein aus der Geschichte des Theaters niemals auszulöschen. Ueberall hatte die sozialistische Arbeiterbewegung Volkshäuser unter Inanspruchnahme der größten Opfer errichtet, um der Arbeiterschaft in ihrer Freizeit ein Heim zu geben. Ueberall, auch in den entlegensten Orten, wurde für Bibliotheken gesorgt, die zu einem sehr großen Teile in den glorreichen Maientagen des Jahres 1933 unter dem Jubel entmenschter Leute auf Haufen geschichtet, zerstampft und verbrannt worden sind.
Den Erwerbslosen waren überall durch die Arbeiterbewegung Unterhaltung und Fortbildung kostenlos geboten worden.
Der Raum reicht nicht aus, um die großen Kulturgemeinden, die in innerer Verbindung mit den großen Arbeiterorganisationen standen, forrett und genau auf:
zuzeigen.
Ihre Jugend, in der das Wandern zum erstenmal populär wurde, und die pen Kampf gegen Alkohol und Nikotin und gegen die Schundliteratur begann, bezeugt den Geist dieser keineswegs nur durch Politik und durch Interesse, sondern auch durch starke Gefühlsfräfte gebundenen Gemeinschaft. Die große Literatur und das start entwickelte 3eitschriftenwesen beweisen dieses reiche innere
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Die regierenden braunen Bonzen werden mit Wehmut an die harmlosen Kritikaster, Meckerer und Miesmacher denken, gegen die sie im Frühling dieses Jahres im Felde standen. Das waren gutmütige Leute im Vergleich zu den Gerüchteträgern, die wispernd und tuschelnd, manchmal aber auch schon mit recht kräftigen Stimmitteln ihr Wissen um das private und öffentliche Leben der Herren und Damen Regenten vom Amtswalter bis zum Reichsstatt halter, vom Truppführer bis zum Reichskanzler und „ Führer" des dritten Reichs" kund tun. Ob alles oder welcher Hundertsatz von den Erzählungen wahr ist? Wir wissen es nicht. Wichtig und richtig ist jedenfalls, daß so gut wie alles geglaubt wird, was das deutsche Volk sich über sein doch noch beinahe funkelnagelneues Regime zu flüstert, zaunt, zuspricht und hoffentlich bald zuschreit.
Fangen wir mit der hoch gepriesenen deutschen 3ucht und Sitte an. Die sollte doch den margistischen Kulturbolschemismus überwinden, der unsere deutschen Mägdelein zu vergiften und unsere deutschen Jünglinge zu entnerven drohte. Das hat mit einem schönen Reinfall geendet. Selbst die treuesten Hitlereltern sind sich kaum noch darüber im Zweifel, daß der BdM., die Hitlerjugend , der Arbeitsdienst, die SA. und die SS. eine nie in Deutsch land erlebte Jugendverwüstung betreiben. Auf dem Nürnberger Parteitag war dieses Jahr der BdM . nicht zugelassen, weil ganz Nürnberg erzählte und von da drang es ins Reich, daß Konfirmandinnen neun Monate nach dem Parteitag Mütter geworden seien. 3oten über den BdM. sind der Hauptgesprächsstoff in der SA., und man kann sie von Schulmädchen im BdM. weiter erzählen hören. Seit Monaten ist es in jeder deutschen Stadt öffentliches Gespräch, wieviele Mitglieder des BdM. in Krankenhäusern und Entbindungsanstalten liegen, da und dort angeblich auch Schulpflichtige. Gibt es eigentlich noch einen deutschen Ort, in dem nicht unter Nennung von Namen und Zeugen homosexuelle Vergehen in der Hitlerjugend und massenhaft gleichgeschlechtliche Betätigung im Arbeits. dienst behauptet wird? Wem sind nicht schon verzweifelte Eltern begegnet, die entsetzt sind über die Veränderungen, die mit ihren Kindern in der braunen Erziehung vor gegangen sind? Wer will bestreiten, daß kirchliche und
len immer wieder Klagen und Warnungen vortragen? Und da wundert man sich über„ Gerüchte"!
Leben, das für so unendlich viele das erste geistig- sittliche pädagogische Würdenträger an sozusagen berufenen StelErlebnis darstellte. Selbst die Riesenorganisationen, von den heute raft durch Frende" so viel Rühmens macht, ist längst dagewesen. Die großen Gewerkschaften und der Sozialistische Kulturbund hatten schon seit Jahren solche Möglichkeiten geschaffen, auf Grund von Spar- und Feriengeldern. Der Unterschied zu Straft und Freude" bestand darin, daß diese Kultur- und Erholungsvermittlung aus eigenen Kräften und für alle erfolgt ist. Kraft und Freude" aber gewährt sie als Bevorzugung für genehme und bewährte Vertrauensleute auf Kosten der großen Masse.
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Aber wir wollen bei diesen Aufstellungen und Bergleichen das Entscheidende betont herausheben. Wer hat den Arbeitern in jahrzehntelanger Arbeit einige bezahlte Ferientage verschafft? Wer hat in unermüdlichem und zähem Ringen die Widerstände gegen die Sonntagsruhe nieder: gezwungen, von der Verkürzung der Arbeitszeit ganz zu schweigen?
Diese Leistungen der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften haben überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen, daß sich ein Kulturwille unter der Arbeiterschaft und ein Verlangen nach Ausgestaltung der Freizeit zu entfalten vermochten.„ Kraft und Freude" brüstet sich mit einem Werfe, das die beschimpften und ausgestoßenen Margisten erst ermöglicht haben.
So hat denn auch„ das Jubiläum" von„ Kraft und Freude " wenigstens eine gute Seite. Es macht die Mitwelt wieder einmal auf die gewaltige schöpferische Arbeit der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung aufmerksam und verkleinert mit Fug und Recht die kleinen braunen Schreier, die sich Heute vom fremden Gute materiell und geistig ernähren. Es wird für alle Zufunft niemals eine deutsche Arbeiterschaft geben, die sich nicht auf den Leistungen der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften aufbaut und sie weiterentwickelt.
Zuchthausmaschine
Berlin , 27. Nov. Der Volksgerichtshof verurteilte heute den 39jährigen ehemaligen Instrukteur des Zentralausschusses der KPD . Hans Pfeiffer wegen Vorbereitung zum Hochverrat zur zulässigen Höchststrafe von drei Jahren Zuchthaus, den 29jährigen Hugo Paul aus Remscheid zu zwei Jahren sechs Monaten Zuchthaus, den 39jährigen Rudolf Hennig aus Düsseldorf zu zwei Jahren Gefängnis und die mitangeklagte 28jährige Ellen Lueg, die Pfeiffer als Schreibhilfe zur Verfügung gestanden hatte, zu einem Jahr drei Monaten Gefängnis.
Die drei Angeklagten, die sämtlich ehemalige Reichstagsabgeordnete der KPD. sind, haben bis zum Sommer vergangenen Jahres in den Bezirken Niederrhein , Mittelrhein und Ruhrgebiet den Versuch gemacht, eine kommunistische Organisation new aufzubauen.
Ein anderer Pestherd ist die Sterilisierung. Eine Statistik über die Häufigkeit ihrer Anwendung fehlt. Wenn die Statistik käme, würde sie niemand ernst nehmen, denn den Glauben an amtliche Angaben hat man sich im dritten Reich" allmählich abgewöhnt. So kursieren denn private Zahlen. Man spricht davon, daß 1800 Blinde und 23 000 Taubstumme mit Gewalt sterilisiert worden feien. Die Zahl der Sterilisierten überhaupt reiche an 200 000 heran und solle im Jahre 1935 verdreifacht werden. Wir fügen ausdrücklich hinzu, diese ,, Greuelberichte ,, stam men nicht von uns, sondern aus nationalsozialistischen Kreisen. In einem Jahre hat die sogenannte deutschseindliche Emigrantenpresse nicht soviel Greuelberichte" gedruckt, wie jetzt in einer mittleren deutschen Stadt an einem Tage von Mund zu Mund gehen. Die furchtbaren seelischen und körperlichen Folgen der Sterilisation gehören dazu.
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Gibt es überhaupt noch eine Schlechtigkeit, eine Gaunerei, eine Spißbüberei, die man den Hitlerbonzen nicht zutraut? Auch die Regenten und Funktionäre des von den Nationalsozialisten gestürzten Systems standen nicht alle in einem guten Geruch. Aber was ist das gegen den Gestank, der sich jetzt um die braunen Bonzen aus breitet. Ein Jahr lang scheinen Millionen Deutsche blind und taub gewesen zu sein gegenüber der Korruption, die von Anfang an unter Hitlers Diktatur sich ausdehnte. Man war schon auf dem besten Wege, aufzumachen, als die Gewitter des 30. Juni herannahten. Unter den furchtbaren Donnerschlägen war man eine Zeitlang eingeschüch tert, aber das ist nun norbei. Jeder Deutsche, und hier gibt es nicht eine einzige Ausnahme, kennt in seinem Gesichtskreise einen oder mehrere Defraudanten, Wüstlinge, üble Geschäftemacher oder doch mindestens weit überbezahlte und dazu meist unfähige Naziführer, sieht ihre rasche Bereicherung, ihr Saufen und Fressen und Huren und die Eleganz ihrer legitimen und illegitimen Weiber. Wie äußert sich die Erbitterung? Jn Gerüchten. Man erläßt scharfe Kundmachungen, man verurteilt Gerüchtemacher, man steckt sie ins Konzentrationslager, aber das vermehrt die Gerüchte nur, weil niemand mehr an unparteiische Gerichtsverfahren und Urteile glaubt.
So hat denn das Regime in allen Schichten rapid an moralischem Kredit verloren. Sehr stark äußert sich das bei den Sammlungen für das Winterhilfs werk, wo sich jeder nach Möglichkeit von der Spende zu drücken versucht. Nicht, weil man den Armen nicht helfen möchte, sondern weil man den klebrigen Fingern der Nazis bonzen mißtraut. Die Gerüchte sind schuld daran, und der große und dicke Wahrheitskern, der in ihnen steckt,