Deutsche Stimmen Beilage zur Deutschen Freiheit"

Samstag, den 8. Dezember 1934

Lehrer Hermann

Nach einer wahren Begebenheit

1.

Als Fräulein Schmidtke, parteifrommes Mitglied der Nazi­Lehrerzelle an einer Volksschule des Berliner Wedding, das Konferenzzimmer verlassen hatte, atmeten ihre beiden zu­rückgebliebenen Kollegen hörbar auf.

Der ältliche Deutschlehrer Reinhardt öffnete ostentativ das Fenster. Kalt und frisch strömte die Morgenluft herein.., Tut das gut, Kollege... nach dieser... Dings da ah pfui!" Er räusperte sich und spie kräftig aus als ordnungslieben­der Deutscher in den bereitstehenden Spucknapf.

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Der Geographielehrer Hermann, der zweite heimliche , Miesmacher" an dieser Schule, stützte seine Arme schwer auf die Tischplatte:

,, Herr Gott, wenn ich mich nur um die Chose mit dem Auslandsdeutschtum drücken könnte!"

,, Ausgeschlossen! Denken Sie an die Verfügung: in diesem Monat muß jedes Fach während mehrerer Stunden unter dem Gesichtspunkt des Auslandsdeutschtums behandelt werden. Es muß! Haben Sie gehört?"

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,, Der Teufel soll das Oberpräsidium..."

,, Halb so schlimm. Ich habe mir für meine Deutschstunde Freiligraths ,, Die Auswanderer" vorgenommen. Wird sich wunderschön eine ganze Stunde lang' zergliedern und er­läutern lassen, brauche den ganzen braunen Zirkus nicht einmal zu erwähnen."

,, Ja, Sie... ich kann doch nicht in der Geographie mit Freiligrath kommen! Verfluchte Chose..."

Mit verbissener Wut griff er wieder nach der amtlich vor­geschriebenen Lektüre: Monographien über das Auslands­deutschtum. Die Auswahl unter den 15 verschiedenen Bro­schüren hatte er ,, nach bestem fachlichem Ermessen" zu treffen. Er überflog ärgerlich die Titel: ,, Die Deutschen in Brasilien ", Die Deutschen in der Zips", In Trans­ kaukasien ", Die Wolgadeutschen ".

,, Die Wolgadeutschen ," hm!...

Mit äußerstem Mißtrauen schlug er das Heft auf, blätterte darin, las und las...

Plötzlich sprang er wie besessen auf, und es fehlte nicht viel, daß er den Kollegen umarmte:

,, Reinhardt, lieber, guter, bester! Ich habe meinen Stoff für die Stunde der Auslandsdeutschen!"

,, Und der wäre?"

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Wird nicht verraten."

,, Auch mir nicht?"

,, Nein! Aber es soll eine Stunde werden, sage ich Ihnen, unser Propagandaminister wird seine helle Freude haben!"

,, Heil Hitler !"

2.

Wie es die Vorschrift verlangte, sprach Hermann den Gruß, kaum daß er die Tür des Schulzimmers hinter sich ge­schlossen, und ging mit steil erhobenem Arm auf das Pult zu. ,, Heil Hitler ," erwiderten die Kinder und taten wie er. Hinter dem Pult angelangt, leierte Hermann das an­befohlene Morgengebet in jenem eiskalten, durch lange Uebung genau abgefaßten Tonfall herunter, der zwar die innere Gleichgültigkeit dem, der zu hören verstand, deutlich verriet, aber doch nicht so verächtlich war, daß man ihm einen Strick daraus hätte drehen können.

rot an­

Der Lehrer setzte seinen Dreizehnjährigen die Bedeutung dieser Schulstunde auseinander, als es klopfte. Es kamen zwei sechsjährige Mädchen der untersten Klasse herein, mit einem hölzernen rautenförmigen Wappenschild, der gestrichen, von einem schwarzen Hakenkreuz im weißen Felde geziert war. ,, Wer von euch hat keinen Nagel ein­geschlagen für die NS. - Wohlfahrt?" flöteten die beiden Mädels und boten an: ,, Weiße Nägel 10, schwarze 5 Pfennig." Es meldeten sich vier Kinder.

Es ist fraglich, ob selbst die sich entschlossen hätten, wäre ihnen nicht Kurt, der Sohn eines kommunistischen Funk­tionärs und ungekrönter Führer des größten Teils der Schul­klasse vorangegangen. Das Wappenschild wurde auf die vor­derste Bank gestellt, die vier traten vor und kauften schwarze Nägel. Während der erste, Junge hämmerte, stieß

Die Kastanie

Von Peter Bitter

Das Gefängnis war ganz neu.

Wir waren die ersten, die die Zellen bezogen, in denen es noch nach frischem Anstrich roch. Alle Untersuchungshäft­linge waren einzeln untergebracht und wenn jemand von unserem Trabt sprach, so meinte er die ,, Hirschen". Und tatsächlich: Es konnte keinen besseren Ausdruck für jene Geschöpfe geben, die mit am Rücken verschränkten Armen, mit vornübergebeugtem Kopfe die sieben Schritte in der engen Zelle auf und abtrabten, hundertmal, tausendmal, zehntausendmal.

Die Direktion des Gefangenhauses behauptete, wir hätten das modernste Zuchthaus Europas . Ein schlechter Trost für den Entzug der Freiheit! Um unser Wohlbefinden sorgte sich ein Arzt, der bemüht war, daß alle Insassen bei vollster körperlicher Frische die Länge ihrer Haft auskosteten" ind nicht etwa die unendlich langen Tage im Gefängnisspital ver­brachten. Bücher des frommsten Inhalts sollten uns hier schon auf den Weg draußen vorbereiten und ein.mürrischer Kaplan hielt uns jeden Sonntag Predigten. Zu diesen dräng­ten wir uns alle ob gottlos oder nicht

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weil es eine jener so seltenen Gelegenheiten war Neuigkeiten zu erfahren oder Tabak und Zigaretten einzutauschen.

Eine andere Gelegenheit war der Spaziergang. Um diese eine Stunde baten wir den Himmel schon nachts, wenn wir nicht schlafen konnten, Vorschrift war ja, daß die Gefange

Von Hans Günther

Kurt, wie zufällig die Nagelkiste zu Boden. Sofort stürzten die meisten Kinder aus den Bänken und balgten sich wie die Wilden. Als Hermann dem Gewimmel energisch ein Ende bereitete, war in die Kiste knapp die Hälfte der Nägel zu­rückgelegt, der Rest blieb spurlos verschwunden. Weinend zogen die Mädchen ab. Als Held aus der Schlacht kehrte Kurt an seinen Platz zurück; hinter der vorgehaltenen Hand raunte er seinem Intimus und Banknachbar Wilhelm zu: ,, 20 Stück ha'ck jeschnappt. Lauter weiße. Bringen zwoo Märker, wenn ick se verkoofe. Wird Vata'n für die Rote­Hilfe- Kasse abjeliefert!"

,, Prachtkerl!" dachte Hermann, der den Sinn des Manövers durchschaut hatte und ging endgültig zu den Auslands­deutschen über. Flocht in seinen Vortrag geschickt eine Repe­tition der Länder und Flüsse Europas ein und gelangte auf diesem Wege, unauffällig, streng geographisch bei der Sowjet­ union an. Dort der große Fleck da auf der Landkarte, ein Sechstel der Erde die Sowjetunion !" Ein Ruck ging durch

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die Köpfe der Knaben.

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, Wer von Euch weiß, wo in diesem Lande Deutsche wohnen?" Mehrere Jungens kannten sich überraschend gründ­lich aus. Wolgarepublik, Ukraine , Krim , Kaukasus , Engels, Charkow , Marienthal so ging das volle fünf Minuten. Was das für ein komischer Name sei, Engels, er­kundigte sich ein besonders Schlauer, und Hermann erklärte, wer Friedrich Engels gewesen. Ganz breit und ausführlich. Dann fuhr er fort:

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, Wie unser Minister Dr. Fried erklärt hat, soll der reichs­deutsche Lehrer Mittler sein zwischen dem Deutschtum jen­seits der Grenzen und uns hier. Den Wünschen unserer Re­gierung entsprechend, will ich also zwischen euch und den Wolgadeutschen vermitteln. Lesen wir, wie es ihnen geht, was sie denken. Ich habe hier eine amtliche Broschüre aus dem Jahre 1932, in der einige Briefe von Wolgadeutschen abgedruckt sind. Komm, Wilhelm, du kannst am besten vor­lesen!"

.

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., Liebe Landsleute in der Ferne, wie freuen uns, euch mit­dem teilen zu können, daß es uns ausge. ausge Wilhelm verschlug es den Atem ,,, ausgezeichnet geht." Wil­helm konnte auf einmal nicht mehr weiterlesen. Wie ihn, überfiel au chdie anderen Jungen ein Schauer. Wor waren sie denn? Sie sperrten ihre Münder auf, beugten sich vor und atmeten schwer.

Der Lehrer Hermann wahrte Haltung und saß mit ver­schlossenem Gesicht vor den Kindern. Im Stillen aber pflanzte er einen ganzen Wald roter Fahnen vor dem un­bekannten Hilfsreferenten im Kulturministerium auf, der einstmals in dieses Büchlein, von den Nazis bis heute un­bemerkt, diese Briefe lanciert hatte. früher!"

Wilhelm holte Atem. ,, det Ding war also richtig?", det stand wirklich so hier?", und dann besann er sich auf sein sorgfältigstes Hochdeutsch und trompete schon langsam die Sätze wie Siegesfanfaren hinaus. Wir sind der Sowjet­regierung und der Kommunistischen Partei dankbar, daß sie uns die vollste nationale Freiheit gewährt hat. Daß sie uns die Möglichkeit gab..."

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Viele Jungens nickten und lachten sich verstohlen zu. Wer es beobachtet hätte, wie bald hier, bald dort ein Gesicht aufstrahlte um gleich wieder zu erstarren, es wäre wie das ständige Aufflackern und Erlöschen von Glühbirnen auf einer elektrischen Schalttafel gewesen.

Lehrer Hermann tat so, als sähe er nichts, sah aber alles und dachte nur immer: Prachtjungens!" Er faßte zu­sammen: Ihr kennt nun die Stimmung dieser Auslands­deutschen. Wie unser Minister Dr. Fried erklärt hat, soll die reichsdeutsche Jugend die Freuden, Ziele und Ideen der Aus­landsdeutschen als ihre eignen empfinden. Werdet ihr's tun, Jungens?"

,, Und ob!..."

Als letzter verließ Kurt das Klassenzimmer: sah rasch auf den Gang hinaus, ob die Luft rein sei, schritt auf den Lehrer zu und reichte ihm die Hand: ,, Vielen Dank, Herr Lehrer Hermann! Mehr darf ick ja nich sagen. Aber... et war dufte, Herr Lehrer janz dufte!"

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( ,, Rote Zeitung", Nr. 111.)

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aber das Gefängnis nen jeden Tag in den Hof durften war überfüllt und die Wärter hatten nicht viel Zeit. Und obwohl wenn es regnete entfiel der Rundgang ebenfallls wir mit Freuden in einem Wolkenbruch herumgegangen wären nur um der dumpfen Zelle auf Minuten zu entfliehen. Den ersten Tag nach unserem Einzug trabten wir genau sechzigmal um ein ovales Stück lehmiger Erde, aus der eben die ersten Grashalme sproßten. Und jeden andern Tag mach­ten wir ebenfalls genau sechzigmal die Runde um den immer grüner werdenden Rasen. Heimlich rissen wir hie und da einen Grashalm aus, schmuggelten ihn in die Zelle und wenn wir sieben Halme beieinander hatten, mußten wir, daß eine Woche aus unserem Leben gestrichen war...

Mitten im Grase wuchs eine Pflanze, stärker als die Halme zwar, aber nicht so hoch. Wir verbrachen uns den Kopf darüber, was es sein könnte, bis an einem Tage sich aus dem dünnen Stamm Blätter entwickelt hatten. Es war eine Kastanie. Und die Möglichkeit, wie sie hier herein gekom­men sein könnte, gab uns für längere Zeit den so dringend benötigten Gesprächsstoff.

Wahrscheinlich war, daß sich beim Bauen des Zuchthauses ein Arbeiter einen Scherz erlaubte und die Kastanie in den Erdboden mit dem Grassamen pflanzte. Aber unsere Fan­tasie lehnte einen solch prosaischen Entwicklungsweg dieses Gewächses ab. Die großen und kleinen Diebe, die Betrüger und Sittlichkeitsverbrecher und die politischen Gefangenen dachten sich die abstraktesten Entstehungsmöglichkeiten des Bäumchens aus. Unsere Fantasie war ja krank und es ist

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Ereignisse und Geschichten

Vecbundenheit

Nie bin ich so ins Leben eingeschaltet Wie in den Tagen meiner Einsamkeit, Wenn zur Legende sich die Welt gestaltet Und fern sich spiegelt in der Ewigkeit.

Das ist die hohe, priesterliche Zeit! Der Ur- Gedanken kühle Tempelstrenge Steigt aus den Uebeln der Verborgenheit Und gießt sich in die Inbrunst der Gesänge. Gewiß, der Weg ist weit zum Lärm der Menge, Doch um so näher ist er ihrer Not.

Je mehr ich mich erlöse aus der Enge.

Je klarer sehe ich: Es fehlt nur Brot! Daß jeder seiner Armut Fesseln sprenge, Dafür zu tun, ist heiliges Gebot!

Der furchtlose Rosenberg

Horatio.

Wenig bemerkt verlief im Oktober in Leipzig eine säch­sische Lehrertagung. Sie war im Gegensatz zu ähn­lichen Veranstaltungen vergangener Zeit schlecht besucht, schlecht organisiert und vom Geiste tiefer Unlust erfüllt. Hauptredner war Herr Alfred Rosenberg , der bekannte. Kulturspezialist der NSDAP . Als er am Rednerpult erschien, begrüßte ihn kein Beifall. Schon darüber war der große Mann sichtlich erstaunt. Dann sprach er von dem Krieg der Zukunft und behandelte dieses Thema mit jenem heldischen Schwung, der allen Nazirednern gemeinsam ist, wenn auch noch um einen Grad langweiliger als die meisten. Natürlich versicherte er, daß das ,, dritte Reich" an dem neuen Krieg ganz unschuldig sein werde. Mit der gleichen Sicherheit aber prophezeite er, daß ,, wir unsere Feinde auf den Boden zwingen würden".

Hier setzte der große Mann seine Rede ab, sah sich sieges­gewiß um und wartete auf Beifall. Doch er blieb gänzlich aus. Die Hörer verharrten in eisigem Schweigen. Dieses Schweigen brachte den großen Mann gänzlich außer Fassung. Er blätterte nervös in seinem Manuskript herum, noch immer auf den programmäßig fälligen Beifall wartend. Schließlich trompetete er mit drohender Stimme in den Saal:

,, Es macht mir geradezu den Eindruck, als ob sich die Herren vor dem kommenden Krieg fürchteten."

Alfred Rosenberg fürchtet sich..icht. Er wird den Krieg der Zukunft genau ebenso wie den der Vergangenheit irgend­wo im Hinterlande verleben.

Ahnenspiele

Das Städtische Museum in Bielefeld zeigt, in seiner familienkundlichen Ausstellung eine neue Art der Vermählungsanzeige. Diese berichtet über die Ahnen sowohl des Bräutigams als auch der Braut bis zur vierten Generation, schildert auch in Zeichnungen, in welchen Berufen die Mit­glieder der beiden Familien tätig waren und woher sie ge kommen sind.

Kleine Zukunftspläne

Als Schacht wieder einmal auf die bedrohliche Entwick lung der Reichsfinanzen hingewiesen hatte, hielten Hitler , Göring und Goebbels einen Rat darüber, was sie vornehmen würden, wenn es einmal mit ihrer Macht vorbei sein sollte. ,, Ich werde mich in eine Flugmaschine setzen und mich verkrümeln," sagte Göring . Ich bin ja das Fliegen gewohnt!" ,, Das ist undankbar!" mickerte Goebbels ,,, ich werde nicht aus meinem Vaterlande fortgehen. Das sieht so feige aus. Ich werde mir also einen Bart wachsen lassen. Dann denken die Leute ich bin ein Jude, und mir wird nichts geschehen!" ,, Macht, was Ihr wollt!" sagte darauf Hitler .. ,, Ich bleibe hier und mir selber treu. Ich werde mich weder rasieren noch mir einen Bart stehen lassen. Mir dürfen die Leute vom ,, vierten Reich" sowieso nichts tun. Wo ich doch Aus­länder bin!..."

nicht verwunderlich, wenn eine krankhafte Liebe zu dem Gewächs sich in den Gemütern der Häftlinge einnistete. Jeden Tag entdeckten wir etwas neues an dem Bäumchen, und dabei war ja gar nichts daran! Draußen, in der Freiheit, würden wir es achtlos zertreten haben.

Das Gras wuchs, wurde dicht und hoch unter der sommer­lichen Sonne und drohte die Kastanie zu ersticken. Um ihr Luft zu verschaffen, rupften wir rund um sie im vorbeigehen eine Handvoll Gras aus. Viele von uns bezahlten dies mit Dunkelhaft oder hartem Lager denn etwas anderes zu tun, als stumm und mit am Rücken verschränkten Armen zu gehen, war verboten. Immer länger wurde das Gras es stand längst nicht, sondern wälzte sich in dunkelgrünen Wellen über das Stück Erde .

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Da kamen an einem Tage, als wir eben um den Rasen trabten, zwei Sträflinge in Zwilchanzügen mit Sensen. Wir, die Gefangenen sahen ohnmächtig zu, wie die blanken, schar­fen Eisen sich gierig in das Grün fraßen, wie sie sich zischend dem Bäumchen näherten. Ergeben machten wir die Runde. Wir waren gefangen und krank nach der Freiheit, in der Bäume wuchsen, Vögel flatterten, Wasser rauschten, kurz, das Leben brauste. Wir wußten nicht, wann wir freigelassen würden. Man hatte uns alles genommen, uns zu mechanischen Organismen gemacht. Und mit einem Schnitt fällte die Sense nun auch unser Bäumchen. Uns war, als hätte die Sense unser Leben, alle unsere Hoffnungen abgeschnitten, wir kamen uns vor wie Schatten. Und wie Schatten schlichen wir um den toten Rasen, um die tote Kastanie...