Völker in Sturmzeiten Nr. 19

Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

,, Preußischer Kommiß"

samstag, 8. Dezember 1934

Draußen auf dem halbdunklen Korridor sahen wir zwei Personen: ein Sergeant brachte Tabersky in seine Zelle zu­rück. Ich sah ihn noch einen Moment dahin schwanken, dann verschlang ihn das dunkle Treppenhaus. Seine Schritte barmungslosen Schweigen.

Soldatengeschichten| von August Winnig verklangen, wie sein dumpfer Sdirei verklungen war, im er­

August Winnig, der Verfasser der vor dem Kriege erschienenen Schrift ,, Preußischer Kommiẞ", ist heute glühender Nationalsozialist. Er dient der braunen Sache in Wort und Schrift, unter Preisgabe seiner Ver­gangenheit. Einst, als junger Proletarier, war er zum Sozialismus und zur Sozialdemokratie gekommen. bewegt von den hohen Gedanken der Freiheit und der Menschenrechte. Es gelang ihm, im freigewerk. schaftlichen Bauarbeiterverband einen führenden Posten zu gewinnen. Nach der Umwälzung von 1918 wurde er Oberpräsident in Ostpreußen . damals freilich schon in seinem alten Bekenntnis zögernd und schwankend. Sein politisches Ende in der Republik führte der Kapp- Putsch vom März 1920 herbei. Es er­wies sich. daß er der zweideutigen Haltung der Reichswehrkommandeure in jenen kritischen Tagen Vor­schub geleistet hatte.

Dann rutschte August Winnig immer weiter nach rechts. Er wurde der Vertrauensmann Hugenbergs und Stinnes, für deren Blätter er seine flinke Feder in Bewegung setzte. Heute ist er einer von den 110- Pro­zentigen: wildester Nationalsozialist. begeisterter Militarist und nationalsozialistischer Schriftleiter. Sein Buch Preußischer Kommiß" hat er längst verleugnet, weil es die denkbar schärfste Anklage des milita­ristischen Kadavergehorsams darstellt, zu dessen Anbetern er heute gehört. Ein Grund mehr für uns. unseren Lesern einige Kapitel aus dem Buche August Winnig: vorzulegen.

4. Fortsetzung

Jenseits der Menschlichkeit

In unserer Kompanie diente ein Pole Tabersky. Er war früher Schafhirte gewesen und so ziemlich ohne jeden Schulunterricht aufgewachsen. Er konnte kein Wort schreiben und nur recht dürftig lesen. Aber er war sehr anstellig, und so hatte man ihn nach vielen Mißhandlungen zu einem guten Soldaten" abgerichtet. Als ich eintrat, diente er be­reits ein Jahr, und als wir in die Kompanie einrangiert wurden, ward er mein Nebenmann.

Allmählich wurden wir Freunde. Er erzählte mir, daß er sehr ungern Soldat geworden sei. Seine Mutter war schon lange Witwe und ziemlich alt und erhielt von der Gemeinde, einem kleinen Nest im Kreise Schrimm, Armen unterstützung. Seine beiden Brüder waren in Westfalen und verdienten nach seiner Meinung viel Geld, schickten aber nie etwas, weil sie selber verheiratet waren. Er freute sich sehr, daß nun seine Dienstzeit bald um war. Als wir miteinander bekannt wurden, hatte er noch knapp 200 Tage zu dienen. Von da an nannte er mir alle Morgen die Zahl der noch verbleibenden Tage. Als es noch 150 Tage waren, kaufte er sich ein Bandmaß, wie es die Schneider gebrauchen, und schnitt alle Abend ein Zentimeter davon ab.

Das Maß wurde kürzer und kürzer. Zwar bedeutete jeder Zentimeter einen heißen, schweißtriefenden Tag, aber das konnte das Rad der Zeit nicht aufhalten.-

Während des Manövers passierten wir Taberskys Heimats­ort. Da wir gerade ein längeres Rendezvous abhielten, so hat Tabersky um die Erlaubnis, auf ein paar Minuten zu seiner Mutter gehen zu dürfen, was ihm nach einigem Parlamentieren auch gestattet wurde. Als er zurückkam, brachte er seine Mutter mit, die wohl einmal einen so großen Haufen Soldaten sehen wollte. Es war eine alte Frau, der man es ansah, daß ihr Leben Not und Arbeit ge­wesen. Beim Abschied weinte sie sehr, wie das alle Mütter bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegen, und wollte ihren Sohn küssen. Aber er wehrte ab. Wie die meisten Menschen, schämte auch er sich der tiefsten und natürlichsten Emp­findungen.

Er kam ja bald nach Haus! Nur noch 14 Tage!

Auf dem Marsche war er sehr fröhlich. Er erzählte mir, daß er gleich wieder Schafhirt werden könne. Dann heiße es aber nicht mehr: ,, Das Gewehr über! Ohne Tritt marsch!" Noch 14 Tage.

-

Auch die gingen hin. Wir waren wieder in die Garnison zurückgekehrt. Die Reservisten gaben ihre Sachen ab und zogen die Zivilkleider an. Tabersky stolzierte in langen Stiefeln und mit der Extramütze geschmückt einher.

Ein Hauch der Freiheit ging durch die muffige Kaserne. Fröhliche Gesichter und helle, glückstrahlende Augen über­all. In den dämmernden Korridoren, in der Kantine und auf den Stuben erschollen die alten Weisen:

Und sind wir zu Hause gekommen,

Ins Wirtshaus kehren wir ein!

Da stoßen wir, Vivat! die Gläser:

Die traurige Zeit ist vorbei! Die traurige Zeit ist vorüber Soldat snd wir nicht mehr

-

-

Der letzte Tag war ein Sonntag. Am andern Morgen sollten die Transporte abgehen. Die Gelegenheit, noch ein­mal mit den alten Kameraden zusammen zu sein, noch ein­mal mit ihnen zu trinken, wurde natürlich weidlich aus­genützt. Auch Tabersky trank sich einen tüchtigen Rausch an. Erst gegen Morgen kam er, Reservelieder singend, auf die Stube. Er warf sich angekleidet wie er war aufs Bett. Bald darauf ertönten Trompetensignale, für die Reser­visten das Zeichen, daß sie jetzt zum Einteilen der Trans­porte vor den Kompanierevieren anzutreten hatten. Die Unteroffiziere liefen durch die Korridore, rissen die Stuben­türen auf, schrien die Schläfer wach.

Tabersky rührte sich nicht. Nach einer Weile rüttelten ihn andere; unnüges Bemühen. Vom Kasernenhofe scholl schon vielstimmiges Gemurmel herauf, dazwischen klangen kreischende Kommandorufe, während Tabersky noch immer unsäglich betrunken im Bette lag. Er räsonierte von Re­die jetzt endlich Ruhe habe.

serve,

Ich sprang aus dem Bette und beteiligte mich ebenfalls an den Wiederbelebungsversuchen. Vergeblich. Nun kam auch der Unteroffizier vom Dienst:

,, Tabersky, Menschenskind, alles wartet auf Sie! Nun aber schleunigst' raus!"

,, Reserve hat Ruh'!" tönte es vom Bette her.

..Machen Sie keine Dummheiten! Zwei Jahre lang hat der Kerl nach Hause gewollt, und nun, wo er soll, ist er nicht aus der Kaserne zu kriegen! Vorwärts!" Reserve hat Ruh!"

was es sich

Einige rissen Tabersky hoch. Er konnte zwar noch leid­lich stehen, wußte aber offenbar nicht, um handelte. Er wurde zur Tür hinaus geschoben, wo ihn der Unteroffizier in Empfang nahm. Wir hörten die beiden den Korridor entlang torkeln und gingen ans Fenster, um den Abzug zu sehen.

Da erhob sich plötzlich ein großer Lärm. Vom Hofe her strömten die Mannschaften zum Kasernentor, aus dem sich bald ein Knäuel uniformierter Menschen hervorwälzte. Als

er

sich allmählich löste, blieben drei Personen übrig: Tabersky, der Unteroffizier vom Dienst und der Bataillons­adjutant. Diese beiden hielten Tabersky fest und brachten ihn über den Hof zum Major, der den Oberbefehl über die Transporte hatte.

Tabersky ging jetzt ganz ruhig, aber er und der Unter­offizier bluteten. Was der Major sagte, konnten wir nicht verstehen; er deutete mit der Hand nach der Wache, und dorthin wurde Tabersky nun gebracht. Er sträubte sich sehr, aber kräftige Fäuste zwangen ihn; er schrie, daß es über den ganzen Kasernenhof schallte: Mutter! Mutter!" aber es antwortete nichts als tödliches Schweigen.

Bald erfuhren wir, was geschehen war. Tabersky hatte sich in seiner Bewußtlosigkeit dem Unteroffizier, der ihn hinunterbringen wollte, widersetzt, war auf der Treppe mit ihm ins Handgemenge gekommen und hatte ihn hinab­geworfen. Unten in der Tür hatte der Bataillonsadjutant ge­standen, der das letzte mit angesehen hatte. Das war der Hergang.

Eine Stunde später wurden Taberskys alte Uniformstücke nach der Wache gebracht, wo er sie an Stelle der Zivil­kleider wieder anziehen mußte; er selbst wurde gegen Mit­tag ins Garnisonsgefängnis abgeführt...

Nach fünf oder sechs Wochen wurde er unter der Anklage des Verharrens im Ungehorsam und des tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten vor das Kriegsgericht gestellt.

Zu der Verhandlung war auch ich geladen, um mit noch mehreren Kameraden Zeugnis über Taberskys Verhalten ab­zulegen. Es waren traurige Stunden für uns. Als Tabersky an uns vorbei nach dem Verhandlungszimmer gebracht wurde, ging mir sein Anblick durch Mark und Bein. Sein Gesicht war aschgrau, den Blick wagte er nicht zu erheben, sein Gang war der eines Träumenden. Ich rief ihn leise an, ein leichtes Aufleuchten zuckte über sein verzweifeltes Gesicht, dann schloß sich schon wieder die Tür des Ge­richtszimmers hinter ihm. Die Sache selbst ging wunderbar schnell. Als ich vernommen wurde, sagte ich, daß Tabersky bis zur völligen Bewußtlosigkeit betrunken gewesen sei. Ich glaubte ihm damit einen Dienst zu erweisen; ich wußte ja nicht oder dachte wenigstens nicht daran, daß Trunkenheit bei militärischen Vergehen niemals als Strafmilderungsgrund. gilt! Sonst wurden nicht viel Worte gemacht; es war ja alles sonnenklar!

Der junge Kriegsgerichtsrat, der die Anklage vertrat, redete, als ob Sein oder Nichtsein des Deutschen Reiches da­von abhinge, wie dieser arme, verzweifelte Bursche be­handelt würde. Er hatte leichtes Spiel. Der Verteidiger Taberskys, ein fetter Oberleutnant, machte nicht viel Ein­wendungen. Tabersky selbst sagte gar nichts, nur Nein und Ja, und das so demutsvoll und ergeben, daß es wie das Ge­stöhn eines Sterbenden durchs Zimmer summte.

Das Gericht brauchte genau sieben Minuten, um sich über das Strafmaß zu einigen. Dann wurde das Urteil ver­kündet:

Zwei Jahre und sieben Monate Gefängnis.

Als er heraus war, stieß Tabersky einen dumpfen gurgelnden Schrei aus. Er schwankte und griff nach der Barriere. Sein Blick irrte hilfesuchend durchs Zimmer und blieb eine Sekunde auf uns haften.

,, Abführen!"

Wir waren wie betäubt. Nein, ich war wirklich betäubt. Ich wollte mich vom Stuhle erheben, aber es war, als läge ein Granitblock auf meinen Knien. ,, Ihr seid ent­lassen!" schrie uns der Verhandlungsführer ins Bewußtsein zurück.

-

Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihn, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderr Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beachten. Immanuel Kant ,

Die Religion, Vorrede, Seite 3,

Und hinten, im Kreise Schrimm , in einer elenden Lehm­hütte, spähte eine alte Frau über die leeren Felder nach ihrem Sohne.

Auf Festung Seele mein Freund, der diesen Namen seiner treu­herzigen Kameradschaftlichkeit verdankte, ich und noch ein Dritter hatten eine kleine Feier in einer Kneipe der Stadt veranstaltet. Es war schon sehr spät am Abend, als wir das Lokal verließen. Ich stand bereits draußen auf der Straße und als ich nach meinen beiden Freunden blickte, sah ich, daß sie sich in der Wirtsstube mit dem Wirte heftig unterhielten; sie waren wegen der Bezahlung nicht einig und ebenso wie ich vom Alkohol erhitzt, so daß der Wort­wechsel immer erregter wurde. Plöglich gab der Wirt dem Dritten einen Stoß vor die Brust und der stieß wieder. Dann erhielt der Wirt Hilfe: im Nu waren Seele und der Dritte umringt. Dieser zog das Seitengewehr, aber die Uebermacht entriẞ es ihm. Dann wurden beide zur Tür hinausgeworfen. Das Seitengewehr blieb im Besitz des Wirtes. Wir glaubten nun, nicht ohne die entrissene Waffe nach Hause gehen zu können, und ich, da ich mich für den Stärksten und Nüchternsten hielt, wollte es holen. Man hatte die Tür verschlossen, da zerschlug ich sie, drang in die Stube ein und verlangte die Waffe. Im Nu war ich umringt. Ich stellte mich schnell in eine Ecke und traf einen der An­greifer, es war der Wirt selbst, mit meinem Seitengewehr sehr schwer auf den Kopf. Dann schlug ich noch einige Male zu, bis ich am Tische stand, unter dem das Seitengewehr meines Kameraden lag. Ich nahm es und gelangte nun ungehindert ins Freie.

Die Anklage lautete auf rechtwidrigen Waffengebrauch und Körperverletzung. In der Verhandlung vor dem Kriegs­gericht konnten wir uns der Zeugen nicht erwehren und wurden verurteilt.

Vielleicht wird die Sache verständlicher, wenn ich eine Szene aus der Verhandlung anführe.

Der Verhandlungsleiter fragte mich: ,, Sie sind schon wegen Vergehen gegen die Person vorbestraft?"

,, Jawohl. Wegen Beleidigung und wegen Körper­verletzung."

,, Sehr richtig! Wie war das doch gleich mit der Be­leidigung?"

,, Ich erhielt wegen Beleidigung der Polizeiverwaltung eine Geldstrafe."

,, Sehr richtig! Und worin bestand die Beleidigung?" Ich hatte der Polizei nachweislich wahre Tatsachen in be­leidigender Form vorgehalten."

Sehr richtig! Bei welcher Gelegenheit geschah es doch gleich?"

,, In einer öffentlichen Arbeiterversammlung." ,, In einer öffentlichen Arbeiterversammlung." ,, Sehr richtig!" Verständnisvolles Lächeln am Richtertisch. ,, Und dann die Körperverletzung! Wie war es damit?" ,, Ich hatte einem jungen Menschen zwei Ohrfeigen ge­geben."

,, Warum taten Sie denn das?"

... Der Mensch hatte älteren Leuten gegenüber sehr schofel gehandelt."

,, Na, das ist doch Ansichtssache. Sonst war nichts Be­merkenswertes weiter dabei?""

..Nein."

Wirklich nicht?"

,, Nein!"

..Wurden Sie denn nicht gerade deswegen zu der hohen Strafe von zwei Monaten Gefängnis verurteilt, weil Streik war? Waren Sie nicht Streikposten und der von Ihnen Ge­schlagene Arbeitswilliger?"

Ich habe das zwar auch immer geglaubt, aber ich wagte es nicht auszusprechen, weil das eine Beleidigung der Richter gewesen wäre."

,, Meine Herren, der Angeklagte wollte dies gern ver­tuschen, ich glaubte aber seine alten Sünden hier erörtern zu müssen, damit Sie über ihn orientiert sind." Die Herren waren nun allerdings genügend orientiert. Es reichte hin, um unsern Einwand der Notwehr zu ver­werfen, und mich zu verurteilen.

In der Nacht vom Gründonnerstag auf den Karfreitag mußte ich die Reise nach der Festung antreten. Am anderen Morgen trafen wir in der kleinen schlesischen Stadt ein. Die Leute auf dem Bahnhof kannten wohl derartige Trans­porte, denn manch scheuer Blick traf mich, als ich für das wenige Geld, das ich noch besaß, mir ein Frühstück im Wartesaal des Bahnhofs geben ließ. Manche traten dicht an mich heran, betrachteten mich genau und prüften meinen Gesichtsausdruck, um daraus zu erkunden, auf wie lange ich hinter der ihnen wohlbekannten Mauer verschwinden würde. Ein kleiner KeJnerjunge brachte mir ein Glas Wein und sagte: ,, Trinken Sie noch einmal ein Glas, Sie werden sobald keins wieder bekommen." ,, Sie haben schlechte Ostern," sagte ein behäbiger Bürger ,,, auf wie lange, wenn ich fragen darf?" ,, Sie können sich in der Zeit einen Vollbart wachsen lassen, antwortete ich. Von der hintersten Ecke des Saales kam ein Mann mit zwei Jungen, die mich sehen wollten. Sie pflanzten sich vor uns hin und starrten mich einige Minuten lang an. Ich hatte noch einige Pfeffermünztabletten in der Tasche und bot sie den Jungen an. Der Mann ergriff erschreckt seine Buben und ging schleunigst davon, als wäre ich mit irgendeiner ansteckenden, bösen Krankheit be­

haftet.

Zum Gefängnis wählten wir einen abgelegenen Weg, an Villen vorbei, aus denen gerade jetzt die Leute zu den Kirchen gingen. Kurz vor dem Gefängnis sah ich noch andere Kirchgänger: eine Abteilung Gefangener, die von sechs Sol­daten mit Karabinern begleitet wurde. Aus dem Schlity im Kasten der Gewehre sahen die Patronen hervor,