Freiheit
Nr. 285 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Freitag, 21. Dezember 1934 Chefredakteur: M. Braun
Folterungen der SAP.- Helden
Seite 3
Das Programm der Volksfcont
Seite 5
( Aus einem Privatbrief)
Seite 6
Der Geruchsinn"
des Professor Stähe
Seite 7
Hitlers neue Judenhatz beginnt!
Boykott mit Tränengas und Stinkbomben
,, Alte Kämpfer" rauben und stehlen
Aus zahlreichen Orten des Reichs gehen uns Berichte zu, daß ein neuer an den 1. April 1933 erinnernder Judenboyfott im Gange ist. Die Hitlerregierung läßt diesen Judenboykott durch ihre Kreaturen organisieren, um den erbitterten alten Kämpfern ein Schauspiel und da und dort ouch Gelegenheit zum Diebstahl zu geben. Daneben soll der christliche Mittelstand, der über die Geschäftslage enttäuscht ist, beruhigt werden. Er soll wieder den Eindruck gewinnen, daß etwas für ihn geschieht.
Wie im April 1933 werden die arischen Firmen wieder durch ein Schild„ deutsches Geschäft" gezeichnet, und die jüdischen Geschäftshäuser werden gezwungen, nach außen hin kenntlich zu machen. daß sie nichtarisch sind. Die SA. wird im vollen Umfange eingesetzt. Sie steht vor jüdischen Geschäftshäusern Posten, Käufer und Käuferinnen zurückzuhalten. Auch klären pre ch chöre das Publifum auf, daß der Kauf bei Juden der Ehre des Nationalsozialismus widerspreche.
Daß es sich hier nicht um wilde Aktionen handelt, sondern im wohlorganifiertes Vorgehen, das von den höchsten Reichs und Staatsbehörden gebilligt wird, beweist ein Erlaß des Gauleiters und Saarbevollmächtigten des Führers, Bürckel, der u. a. ausfordert:
Nationalsozialisten! Es besteht Veranlassung darauf hinzu= weisen, daß wir nichts im Remichwarenladen des Juden verloren haben. Und wenn Du mir sagst, daß Deine Frau die Einkäufe besorge, so ergibt sich daraus, daß eben in Deinem Hause fein nationalsozialistischer Geist herrscht und Du selbst fein Mann bist, sondern ein Hanswurst." Man stelle sich vor: dieser Radauantisemit und Pogromhezzer ist der offizielle Saarbeauftragte des Führers und Reichskanzlers. Dieser rohe, gewalttätige Hezzer hat entscheidend über das Schicksal der Juden im Saargebiet zu bestimmen. Er war der offizielle Delegierte Hitlerdeutschlands bei den Saarverhandlungen in Rom . So sieht der Bursche aus, mit dem ausländische Regierungen GentlemanAgreements schließen sollen. Man kann sich aus dem Erlaß des Bürcel nun ungefähr zusammenreimen, wie die Garantien gehalten werden, die das Hitlerreich im Falle der Rück gliederung zusagt. Es gibt gegen Hitlerdeutschland nur eine Garantie: der Status quo im Saargebiet.
Wie die von Bürckel und anderen hohen nationalsoziali stischen Würdenträgern ergangenen Befehle für einen neuen Judenbontott mirfen, das hat am vergangenen Sonntag die jüdische Geschäftswelt von Mainz erlebt.
Sämtliche jüdische Geschäfte wurden mit Tränengas: und Stinfbomben belegt. Die Käufer und Käuferinnen verließen fluchtartig die Geschäfte. In mehreren Geschäfts: häusern fam es zu schweren Verwüstungen, Raub und
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Sturm auf jüdische Geschäfte Bürckels Pogromruf
Diebstahl durch eindringende„ alte Kämpfer" des Herrn Eine Verhaftung!
Besonders wüst und einem Pogrom nahekommend waren die Vorgänge in dem Geschäftshause tu b. Diese Firma beschäftigt etwa 60 Angestellte, in der Mehrzahl Arier. Das Haus Stub gilt als sehr billig und hat deshalb seit jeher großen Zulauf. Als am silbernen Sonntag der Laden viel Publikum hatte, fingen plößlich rauhe Hitlerfämpfer in den Geschäftsräumen zu brüllen an:
„ Heraus aus dem Jndenladen!"
Die Kunden, meist Frauen, antworteten:„ Wir kaufen, wo es am billigsten ist." Daraufhin betrat ein Mann mit de m Abzeichen der NSDAP . das Geschäft. Auf dieses verabredete Signal hin erhob sich ein wildes Gebrüll:
,, Das Parteimitglied muß aus dem jüdischen Laden!" Der Nazi mit dem Parteiabzeichen rief nun dem Inhaber zu: „ Schließen Sie schnell die Türen, denn man will stürmen." In diesem Augenblid ging das Licht aus. Die alten Rämpfer" und ihr plünderungsinstger Anhang drangen in den Laden ein und demolierten und raubten, was sie erreichen fonnten. Es entstand eine wilde Schlägerei.
Frauen und Kinder wurden niedergeworfen und nieder: getreten. Es gab zahlreiche Berlegte. Einige Frauen und Rinder waren so mitgenommen, daß sie ing Krankenhaus geschafft werden mußten,
Vor dem Gebäude sammelte sich eine gewaltige Menschenmenge an, deren Haltung und deren Gespräche zeigten, daß die anständige Bevölkerung mit den alten Kämpfern" Hitlers nichts zu tun haben will. Interessant ist, daß sechsmal das Ueberfallkommando angerufen wurde, ohne daß es er= schien. Erst nach einer Stunde trafen Polizeibeamte ein. Als der Inhaber Stub der Polizei sagte:„ Hier ist einer, der noch Tränengasbomben in der Tasche hat," gab ihm die
Polizei zur Antwort:„ Sie haben hier nichts zu sagen." Der
Mann mit den Tränenaasbomben konnte ungehindert davon
gehen. Die Firma Stub beziffert ihren Schaden zwischen
60 000 und 70 000 Marf. Der Sturm hat sich also für die „ alten Kämpfer" des Herrn Hitler gelohnt
Keine einzige Zeitung in Mainz durfte über die Vorgänge unterrichten. Ein Mitinhaber der Firma Stub ist Schweizer Bürger.
Aehnlich wie in Mainz geht es jetzt überall in Deutsch land zu. Mit Lautsprechern fahren die Nazis durch die Straßen und rufen:„ auft nicht bei Juden!!" Die Gehsteige vor den jüdischen Geschäften werden nachts mit beschimpfenden Boyfottaufforderungen bemalt. Auch wenn die NSDAP . nicht überall öffentlich für den Boykott eintritt, so beweist die Art seiner Durchführung, daß er zentral von den Parteistellen des Herrn Hitler organisiert ist.
Begeisterung für den Status quo
Der Deutsche Volfsbund für christlich- so= ziale Gemeinschaft hat am Mittwoch zu einer neuen Kundgebung in Saarbrücken aufgerufen. Diesmal hat er gezeigt, daß er den größten Versammlungsraum, den Städtischen Saalbau zu füllen vermag. Die Veranstaltung begann mit einer Minute stillen Gedenkens an die Opfer des Hitlerreichs. Gedämpft spielte die Orgel:„ Ich hatt' einen Kameraden."
Als eriter Redner forderte der Bergarbeiterführer und frühere Reichstagsabgeordnete, Kuhnen, daß das Saargebiet ungeteilt in ein befreites Reich zurückkehren müsse. Da jetzt eine Einheit der Saarbevölkerung nicht möglich sei, bestehe, wie ihm zahlreiche Völkerbundsdelegierte mitgeteilt hätten, die große Gefahr einer Teilung des Gebietes. Darum müsse der Status quo, aufrechterhalten bleiben, bis die ungeteilte Rückkehr möglich sei. Die spätere Rückkehr bei entsprechender Willensäußerung der Saarländer set mit oder ohne zweite Abstimmung möglich. Das stehe unverrückbar fest. Wie zersetzend die hitleriche deutsche Front" wirke, zeigten die Beschlüsse der freigewerkschaftlichen Verbände am vergangenen Sonntag. die einmütig sich für den Status quo erklärt hätten. Es sei nur die Schuld Hitlers , wenn die alte Einigkeit an der Saar zerriffen sei,
Ueber 70 fatholische Geistliche hätten die Gründung des Volksbundes mit vollzogen, und viele andere versicherten ihre Sympathie. Nur vereinzelte Geistliche nähmen einen anderen Standpunkt ein. Die übergroße Mehrheit des saarländischen Klerus denke wie der Volksbund.
Für die Katholiken an der Saar seien noch immer die bischöflichen Hirtenbriefe maßgebend, die zur Zeit der Freiheit in den Jahren 1931 und 1932 erlassen worden sind. Mit beißender Fronie fertigte Kuhnen die zahllojen Lokalgrößen der deutschen Front" ab, die sich im Jahre 1919 für Franfreich erklärt haben. Damals seien Delegierte aus dem Bezirk Trier und den pfälzischen Gemeinden zu ihm gekommen, er möge dafür eintreten, daß ihre Gemeinden mit zum Saargebiet geschlagen würden. Er habe die Leute herausgeworfen. Jetzt ließen fie fich als nationale Helden feiern. Der Volksbund trete für die ungeteilte Rückgliederung ein, die später ohne Schwierigkeit in ein christliches Deutschland möglich sein werde.
Der frühere Reichstagsabgeordnete und langjährige Füh rer des Christlichen Bergarbeiter- Verbandes, Imbusch, begann seine Rede mit der Erklärung:„ Wir kämpfen für Deutschland und um Deutschland gegen seine undeutschen Machthaber." Er rollte das ganze Register von fulturpolitischen Sünden und außenpolitischen Mißerfolgen der Hitlerregierung auf. Fortsetzung fiehe 2, Seite.
Der Führer der freien Saar - Jugend in brauner Hand
Saarbrücken , den 20. Dezember.
Ernst Braun, der Führer der sozialistischen Jugend im Saargebiet, hatte die Aufgabe, nach einem genau festge= legten Plan in einzelnen saarländischen Gemeinden des Grenzbezirts Homburg, Material der Partei abzuliefern. Wie festgestellt worden ist, hat er sich genau an die An= weisungen gehalten und auftragsgemäß an den einzelnen Stellen die Ablieferung vorgenommen. Auf der Fahrt zu dem letzten Bestimmungsort, Lautenbach, ist er versehentfich auf eir hon Wea aeraten Saa ist an dieser Stelle leider sehr leicht möglich und dabei ist er ver= haftet worden. Braun und sein Begleiter haben nicht ge= wußt, daß sie sich mit dem in Deutschland verbotenen Propagandamaterial auf deutschem Boden befanden. Sie sind deshalb auch nach deutschen Gesetzen nicht strafbar, weil zur Strafbarfeit bas Bewußtsein gehört, sich auf deutschem Boden zu befinden. Dieser Grundsatz gilt einstweilen auch noch im dritten Reiche". Will die Gestapo nicht eine fla: grante Verlegung des Bölferrechts vornehmen, so muß sie den ührer der Sozialistischen Arbeiterjugend und seinen Begleiter sofort freigeben. Es wäre eine ungeheuerliche Bes einflussung des Abstimmungsfampies, wenn man ausge rechnet den Führer der saarländischen Sozialistischen Arbeiterjugend bis zur Abstimmung und darüber hinaus einsperren wollte.
Der Fall droht große Verwidlungen zu bringen. Bei den Anhängern der Einheitsfront zeigt sich eine ungeheure Ers regnng. Man verlangt von der Regierungskommission sos fortige Bergeltungsmaßnahmen.
Der italienisch- abessinische Konflikt
Ueberall in der Welt ist es unruhig, überall entstehen neue Konflikte, neue Reibungen, neue Zwischenfälle. Der italienisch- abessinische Zwischenfall bei den Brunnen Don lalu al in den ersten Dezembertagen ist ein Fak. tor, der neue Beunruhigung in die Welt gebracht hat. Es hat sich dort, in den entlegenen Gegenden Nordost- Afrikas, soweit man den offiziellen Berichten der beiden streitenden Mächte, die sich einander widersprechen, glauben kann, folgendes abgespielt:
Eine englisch - abessinische Grenzkommission( bekanntlich liegt nordöstlich von Abessinien Britisch- Somaliland , wäh rend das italienische Somaliland mestlich, nach dem Jndischen Ozean zu liegt), kam Ende November in Be gleitung von abessinischen Truppen zu dem Orte Ualual, der von italienischen Truppen besetzt war. Von abessinischer Seite wurde erklärt, daß Ualual zu Abessinien gehöre und deshalb von abessinischen Truppen besetzt werden müsse. Die Jtaliener lehnten die abessinische Forderung ab und es kam zu einem ernsten Zusammenstoß zwischen den Abessiniern und den Jtalienern, wobei beide Seiten schwere Verluste zu verzeichnen hatten. Wer angefangen hat, läßt sich nicht feststellen. Beide Seiten behaupten, wie dies in solchen Fällen üblich ist, daß der andere angefangen hätte.
Inzwischen hat die italienische Regierung eine scharfe Note an die abessinische Regierung gerichtet, in welcher Schadenersatz und moralische Genugtuung verlangt wird, während die Regierung von Addisabbeba an den Völkerbund eine Eingabe gerichtet hat, in welcher die Schlichtung des italienisch- abessinischen Konflikts verlangt wird. Bekanntlich ist Abessinien, trotz des derzeitigen Protests Italiens , seit 1923 Mitglied des Völkerbundes.
Dieser Konflikt wirft ein bezeichnendes Licht auf die kolonialen Erpansionsbestrebungen Jtaliens, die im Endergebnis eine Gefahr für den europäischen Frieden sind. Italien hat 1915 beim Eintritt in den Krieg im Londoner Geheimabkommen von den alliierten Mächten die Zusicherung auf Vergrößerung seines Kolonialbesizes erhalten. Aber in Versailles ist Italien in dieser Beziehung mit leeren Händen ausgegangen. Das faschistische Italien besteht jetzt auf Erfüllung des Londoner Geheimabkommens, und die Verhandlungen, die gegenwärtig mit Frank reich geführt werden, haben zum Ziel, den Kolonialbesitz