Feierabe
Feierabe
Nr. 25
Hinterhaltungsbeilage.
Dreihundertfünfzig Tote.
Auf dem Bahnhof von Modane, dicht an der italienischen Grenze, herrschte in einer Winternacht des Jahres 1917 ein ungewöhnlich starker Verkehr. Die Reisenden auf den Bahnsteigen und in den Wariesälen jahen einander merkwürdig ähnlich. Alle ivaren fie armselig gekleidet, einer wie der andere gleich jammervoll. Leib lag auf den Gesichtern der meisten, Leid krümmte hre Rüden, Leid machte ihre Beine schwer. Auch die stärksten Züge beschattete eine Maske des Schmutzes und der Müdigkeit. Wenige nur fahen aus wie Menschen sonst.
Schemenhaft gingen fie auf den steinernen Fliesen auf und ab oder fazen auf dem Boden. Das grelle Licht der elektrischen Lampen ließ ihre Gestalten zur Hälfte gans hell. zur anderen Hälfte dunkel erscheinen. Daher sahen auch manche Gesichter wie schwarze Löcher aus, andere glänzten wie Lampions.
Dabei jahen jie glücklich aus. Sie sprachen laut miteinander, manche fangen sogar oder pfiffen.
Es waren die französischen Soldaten von der italienischen Front, die nach den schweren
Kämpfen an der Piave in Urlaub führen.
aus.
1928.
ihren Zug. Endlich fuhr der ersehnte Zug Erst als die Offiziere ihm die Abfahrt ein, hielt längs des Bahnsteigs; die Sol- formell befahlen, bestieg er die Maschine; daten stiegen ein und alle fuchten sich in den der Zug setzte sich in Bewegung und verließ Eden niederzulassen. den Bahnhof.
Die dem Krieg Entronnenen waren jezi wieder freie Menschen und mit Herz und Magen schon daheim. Fünfhundert Leute!
Doch verzögerte sich die Abfahrt. Der Lokomotivführer war noch nicht auf der Lofomotive, sondern stand auf dem Bahnsteig und fübrie lange Gespräche mit den betreß ten, ordenbehangenen Herren, die den Ab transport beaufsichtigten. Er besaß die Unverschämtheit, nicht einer Meinung mit ihnen zu sein.
Er erklärte ihnen:„ Die Abfahrt ist unmöglich."
Das empörte die Offiziere.
Aber bald kam er ins Rollen. Die Bremsvorrichtungen versagten. Er raste das Tal der Arc entlang. Hier schlängelt sich der Schienenweg an den steilen Felsufern des Flusses.
Immer rajender wurde die Fahrt, immer mehr kam das Eigengewicht der Wagen zur Geltung. Schon gab der Führer Gegendampf, doch nur immer schneller glitt der Zug und raste wie ein Expreß der Ebene zu.
Hier war Menschenkraft hilflos.
Die Lokomotive freischte und war in dicke Rauchschaden eingehüllt. Die Bremsen Wie fann ein Franzose das Wort„ un- waren so stark angezogen, daß die Klöße in möglich" aussprechen? Solche dummen Aus Brand gerieten. Bald stand der ganze Zug flüchte! Unmöglich ist lein Wort der franzö- in Flammen und fegte auf den Bahnhof fischen Sprache." Saint- Michel de Maurienne zu wie ein Der Lokomotivführer erwiderte nur: feuriger Komet. „ Der Zug ist zu schwer."
Die in den glühenden Eisenkäfigen ein
In der Hoffnung, sie wüßten es nicht, gefchloffen waren die fünfhundert Mann, machte er sie aufmerksam, daß die Strede die glücklich dem Morden an der Piave ent voller Kurben und steiler Abhänge sei. Sich fommen waren wurden sich bald dieses Die Piave. Dies Wort hat in den zehn auf sie mit einem zu schweren Zug zu wagen, Rennens in den Tod bewußt. Fäuste ballJahren seine schreckliche Kraft eingebüßt, thieß, die Gewalt über die Maschine zu verhieß, die Gewalt über die Maschine zu ver- ten sich. Beherzte versuchten, die Türen zu vergessen worden. Zehn Jahre löschen auch lieren. Es ist schlißlich nicht zu verlangen, öffnen, die der Luftdruck sofort wieder zu das Furchtbarſte im Gedächnis des Volkes daß hohe Offiziere über solche Sleinigkeiten warf. Viele sprangen durch die Fenſter in Bescheid wissen. Doch hätten sie wissen fön- den Abgrund, den die Nacht nicht sehen ließ. Damals hieß„ Piave": aufregende, zernen, daß eine Bahn, die vom Kamm der Steiner kam lebend davon; zerfetzie Leichen mürbende Anstrengung, ein zäher Kampf Alpen in die französische Ebene hinabführt, bezeichneten die Todesfahrt bis zu dem Ort, gegen Soldaten, die anderen großen Herren ein starkes Gefälle haben muß. Aber hier wo die endgültige kataſtrophe eintrat: eine untertan waren und auch getan hatten, was ihnen befohlen war. Sie waren marschiert, ging es um das Prinzip, daß der Befehl Brücke hinter einer scharfen Kurve, unveit batten gerastet, waren wieder marschiert, bat- eines Vorgesetzten heilig ist und daß alle des Bahnhofs Saint- Michel . hatten gerastet, waren wieder marschiert, hat- Gründe gefunden Menschenverstandes demten geſtürmt, hatten geſchoſſen, ſich beschießen gegenüber nicht stichsältig sind: und der Be- feinem Innern jagte dahin wie eine Granate, lassen; sie hatten Verluste gehabt, und ihre fehl zur Abfahr: lag vor. Reihen waren gelichtet worden. Es ist nicht zuviel gejagt: alle hatten sie Selbstmord begangen, doch nich: alle waren wirklich ge
storben.
Schließlich, als sie immer weniger geworden waren, wurden sie aus der Front gezogen. Da fanden diese Soldaten Freude daran, von ihren Stämpfen zu erzählen und prahlten mit ihren Erinnerungen wie Kinder.
Umsonst suchte der fleine schwarze Sterl mit wilden Gebärden die Richtigkeit einer
Ansicht zu verteidigen und nachzuweisen, daß durchgehen würde. Die Vorgesetzten, deren ihm die Maschine bei dem ersten Gefälle Orden im Lichte der Bogenlampen gliperten, befahlen die Abfahrt.
Der feurige Somet mit den Menschen in
und statt der Kurve der Schienen zu folgen, geradeaus weiter.
Die Lokomouve stürzte in den Abgrund der: wurden und sich wirr aufeinandertürmund rij die Wagen mit, die über sie geschleu ten. Eine Flammensäule schlug hoch.
Nur ein paar wilde Schreie gellten noch aus dem Scheiterhausen.
In derselben Nacht zog man hundertSchon wurden die Urlauber in den Abfünfzig Verletzte aus den glühenden Trüm teilen ungeduldig, reckten die Köpfe heraus mern hervor. Alle andern waren verkohlte und fragten:„ Warum fahren wir nicht?" Leichen: dreihundertfünfzig Soldaten, die frohen Mutes einige Tage Ruhe erwartet hatten, che sie von neuem in den mörderischen Kampf ziehen sollten.
Jetzt waren sie schon in Frankreich , weit von der Piave, und konnten das Triumphgeschrei nicht mehr hören, das da unien ihre Natürlich weigerte sich der Lokomotiv Tapferfeit auslöfte. Sie warteien auf dem führer trotzdem, abzufahren. Die Furcht vor französischen Grenzbahnhof Modane auf dem sicheren Verderben war zu groß.