Um Weihnachten herum wird Äja Sus Herz schwer. Sie möchte den Jungen bei sich haben am Festabend, möchte ihm einen Baum putzen. Aber sie zwingt sich, vernünftig zu sein. Wenn er sich erst berge- wöhnt, wie soll ich ihm erklären, daß er nicht bleiben kann? Sic verdient recht gut an ihrem Arbeitsplatz, aber sie hat so viel« Schützlinge,-aß für sie nur das Notwendigste übrig bleibt. Und immer wieder sucht sie sich selbst zu überzeugen, daß sie die andern um Gorgos willen nicht im Stich laffen darf. Die Kameraden von der Arbeiterwohlfahrt raten ihr davon ab, den Jungen zu sich zu nehmen. Sie fürchten, ihre zuverlässigst« Helferin zu verlieren, uird sie warnen vor übertriebener Hoffnung. So ein umhergestoßenes Kind zu erziehen, sei nicht leicht. Oft treten ererbte schlimme Anlagen hervor, sind nicht zu besiegen. Lisa beginnt sich abzufinden. Die Gegemvart ist hart, man muß versuchen, auch ein wenig härter tu werden. Bor allem gegen sich selbst. o Ein trüber Wintersonntag steigt herauf. Lisa sitzt um die Mittagszeit im warmen Zimmer, ein Buch in der Hand. Bon draußen dringt milchig trübes Licht herein, das sich durch Schneegestöber bahngebrochen und alle Leuchtkraft unterwegs verbraucht hat. Lisa ist von i«ner Schwere umfangen, die chren Sonntagnachmittagen immer eigen ist. Sie spürt den Atem der winterlichen Stadt, sie weiß: um diese Zeit füllen sich di« Kaffeehäuser, die Kneipen, pilgern Klein, bürgerfamilien mit Kind und Kinderwagen zu Verwandten— sie weiß auch: Taufende, die keine Heimat haben, lungern im Schnee umher, werden beim Betteln geklappt und auf's Polizeirevier geführt, jugendliche Ar. beitslose in Scharen erliegen der Lockung, auf irgeichcine leichte Art zu Geld zu koni- nie», tun in ihrer Not die ersten Schritte von der„Ehrlichkeit" weg dem Verbrecher, tum entgegen. Plötzlich schlägt die Flurtingel schrill in die Stille. Lisa geht zur Tür, sieht durch den Spall. Niemand zu sehen. Schon will sie sich rückwärts wenden, da läutet es zum zweiten Male, stürmischer. Jetzt öffnet sie — und muß sich«inen Herzichlag lang an die Klinke klammern. Dvanßen auf der
Bon Bgneo UbeL A-aite stehl«ine kleine Gestalt, von Schnee überstäubt, der halb geöffnete Mund weiß noch nicht, ob er weinen oder lachen will— Gorgo ! Das erschrockene Zögern dauert nur wenige Sekunden. Aber in diesen Sekunden begreift Lisa heftiger und schmerzvoller denn je zuvor die hilflose Einsamkeit, die gesahr» volle Schutzlosigkeit des Kindes Gorgo . Wie er da vor ihr steht, die frierenden roten Hände in zerrissen« Taschen vergraben, winzig, in dem großen Treppenhaus sich ganz verlierend, allein in einer fremden, ge» walttätigen, schreckhaften Welt, entscheidet sich's in ihr: sie wird chn nicht wieder fortlassen, sie wird an ihm einen Teil jener ungeheuren Schuld abtragen, die eine morsche Welt, eine verwirrte Menschheit auf sich nahm. Dtillionen Kinder hungern, jedes Krisenjahr stößt abertausend Heranwachsende Gorgos in den unentrinnbaren Kreislauf von Not, Schuld, Strafe, neuer Schuld und neuer Not.— Diesen einen will sie der un« heilvollen Berkettung entreißen. Sie hebt den Jungen, dessen Seines Gesicht mit einem Schlage hell wird, zu sich empor, trägt ihn ins Zimmer, zieht ihm den beschneiten Mantel aus, wärmt seine Finger-vischen den chren. Dann sitzt Gorgo in der Sofaecke, kaut an einem Zwieback, fühlt sich warm und zu- frieden. Lisa hat vorsichtig alles aus ihm herausgeholt, was sie wissen muß. Die Pflegemutter— di« siebente— hat ihr den kleinen Burschen einfach vor die Tür gesetzt, ist wahrscheinlich auf und davon» gegangen. Lisa sieht das Kind nachdenklich an. Ihr Gehalt wird für fi« beide ausrei- chen, rechnet sie. Bis zur Schulzeit sind noch pvei Jahre hin, bald wird sie mehr verdienen. Vielleicht wird sie sogar mir Gorgo im Sommer vierzehn Tage lang verreisen können, in ein Bauerndorf, damit er einmal so viel Sonne zu kosten bekommt, wie noch nie in seinem Leben. Sie legt den Arm um seine schmalen Schultern und ffchlt beglückt, wie er sich anschmiegt. Davon hat sie manchmal geträumt, ein richtiges kleines lebendiges Leben in ihrer Obhut zu haben. Oft hat sie ihrer emanzipierten, auf mannweibkrchc Rechte pochen- den Kollegin lachend versichert:„Glaub mir, wir berufstätigen Franen unterscheiden uns
Fortsetzung. von den andern vor allem dadurch, daß wir uns die Kinder wünschen, die sie bekommen." Nach solchen Gesprächen pflegt« sie lange darüber nachzudenken, wie in einer künftigen, vernünftigen Welt Mutterschaft mit dem Beruf zu vereinen sei. Run wir- sie'S salbst versuchen. Frau Zimmermann, spät abends heimkehrend, findet den Jungen nach ein paar herrlichen Spielstunden in tiefem Schlaf. „Wie ein Engel schaut er aus!"— Frau Zimmermann hat ihren rührsamen Tag. Ater Lisa versichert chr, der Engel werde ihnen beiden in wachem Zustand noch aller- Hand zu schaffen machen.„Wikd ist er, und wenn er ganz glücklich ist, brüllt«r wie ein Löwe.— Also, macht nix, über uns wohnt keiner, und unter uns die Lehmanns haben selber sechs Rangen. Mag er brüllen, so viel er will." Frau Zimmermann läßt sich keine Angst einjagen. Wär ja noch schöner! Hat sie ein paar eigne großgebracht, wird sie wohl mit so einem einzigen Knirps auch noch fertig werden! Am nächsten Morgen muß Lisa zeitig ins Büro. Gorgo hat sich rote Backen geschlafen und wird munter, während sie sich anzieht. Große Morgenfreude. Er ist begeistert, daß der Tag da ist, daß er selber da ist, daß er statt des Nachthemdes«ine Fri- sierjack« anhat, daß ein Kalender an der Wand hängt. Splitternackt kollert er fünf Minuten ipäter über den Teppich, einige mißglückte Purzelbäume schkagerch. Mit Frau Zimmermann freundet er sich zwar rasch an, aber ohne das heilige Versprechen, bestimmt bald wicderzukommen, darf Lisa doch nicht aus dem Hans. Heute muß sie ihr« Gedanken mit aller Strenge zur Arbeit zwingen. Immer wieder versuchen sie, nach Hause zu laufen. Was wohl Gorgo tut? Ob er spielt, ob er ißt, ob er lacht, ob er brüllt?— Nach dem Dienst geht sie zur Arbeiterwohlsahrt.„Na, Lisa, viel Glück! Wir dachten schon lang«, daß es so kommen würde. Mach einen tüchtigen Kerl aus deinem Gorgo !" Lisa nickte, geht hin und kaust zunächst mal eine winzige Zahnbürste, einen Strickanzug, einen Stoffhund und einen Milchtopf, aus dem drei Zwerge in buntesten Farben prangen. I(Schluß folgt:)