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Frauenstimme Nr.4>42.?ahrg�1"BCXlüQC zum Vorwärks I.5ebruar 1425�1 Ist unsere%\ Wenn wir die Literatur fast aller Länder seit Jahrhun- derten verfolgen, so können wir beobachten, daß immer die ältere Generation über die Sittenverderbnis der jüngeren klagt. Da man aber doch keineswegs behaupten kann, daß in den verschiedenen Kulturländern sich die Sitten von Gene- ration zu Generation wirklich verschlechtert hätten, so ist man gezwungen, anzunehmen, daß hier nichts anderes vorliegt, als ein sich immer wieder zeigender Mangel an Verständnis der Alten für die geänderten Lebensbedingungen und die sich daraus ergebenden veränderten Anschauungen der Jugend. Tatsächlich hat sich die wirtschaftliche Lage und haben sich infolgedessen die Gewohnheiten der Frauen in dem letzten Jahrzehnt noch mehr geändert als die der Männer. Der Krieg hat in grausamster Weise die wirtschaftliche Emanzi- pation der Frauen erzwungen und als Begleiterscheinung dieser letzteren stellte sich die geistige Selbständigkeit zahlreicher Frauen ein. Die meisten von ihnen mußten jetzt erwerben, ihr Einkommen selbst verwalten und ihre eigenen und ihrer Kinder Interessen sowohl den Unternehmern als den Behörden gegenüber selbst wahrnehmen. So haben sie unter Sorgen und Qualen sich doch als selb- ständige Menschen zu fühlen und sich der Vormundschaft durch das andere Geschlecht zu entwinden gelernt. Ja, der Krieg hat sogar die Rollen vertauscht: die Frau lernte über sich selbst verfügen, während der Mann unter den eisernen Zwang der Kriegsmaschine geriet, die jede seiner Regungen meisterte. Das Ende des Krieges hat wohl manch« der schroffsten Ver- Lndemngen wieder teilweise rückgängig gemacht. Nach und nach gaben viele Frauen, die während der Kriegsjahre berufs- tätig waren, besonders Mütter mehrerer Kinder, die regel- mäßige Erwerbsarbeit außer dem Hause wieder auf, blieben aber doch bemüht, sich durch Heimarbeit und Gelegenheits- arbeit einen gewissen Grad wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu bewahren. Die Frauen erhielten jetzt in vielen Ländern das Wahlrecht und diezivilrechtlicheGleichstellung mit den Männern, und wenn auch in bezug auf diese letztere die neuen Gesetze noch lange nicht durchweg lebendige Wirk- lichkeit geworden sind, so haben sich doch unter ihrem Einfluß die Arbeitsbedingungen der weiblichen Angestellten und Ar- beiter denen der Männer wesentlich genähert. Die größere wirtschaftliche Selbständigkeit der meisten Frauen und insbesondere der jungen Mädchen, ihr durch diese Selbständigkeit und durch ihre rechtlich« Gleichstellung mit den Männern gehobenes Selbstgefühl konnte nicht verfehlen, das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander wesentlich zu verändern. Der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung mußte auch die Gleichberechtigung auf sexuellem Gebiet folgen. Seit vielen Jahrzehnten hatte die Frauenbewegung die Gleichstellung der Geschlechter aus allen Gebieten leidenschaftlich angestrebt, aber auf keinem hat sie so geringe Erfolge aufzuweisen gehabt als gerade auf dem des sexuellen Lebens. Das hat sich nun binnen kurzem sehr wesentlich ge- ändert. Die Vorgängerinnen unserer heutigen weiblichen Jugend haben vergebens gefordert, daß die Männer den gleichen Bindungen wie die Frauen unterworfen seien, daß sie vor und in der Ehe die gleichen Keuschheitsregeln befolgen sollen, die sie selbst für die Frauen ausgestellt haben. Diese Forderung blieb stets unbeachtet und wurde nicht wenig ver- lacht: die weibliche Jugend von heute predigt nicht mehr den Männern Enthaltsamkeit, sondern nimmt für sich die gleiche sexuelle Freiheit in Anspruch, wie sie die Männer immer als ihr Recht angesehen haben. send veröerbt? Was aber die in den alten Vorstellungen Befangenen al» schwersten sittlichen Versall ansehen, ist doch im Grunde nicht» anderes als eine Erschütterung der alten, längst faul und ver- logen gewordenen Gesittung, die noch nicht zur Ruhe gekom- men ist. Ohne Zweifel wird sich nach einiger Zeit wieder ein Zustand einstellen, der den neuen Verhältnissen entsprechen und darum den meisten Menschen als der von der Natur gegebene erscheinen wird. Die alte doppelte Moral, die den Männern jedes Laster zugute hält und die Frauen zu einer Tugend verurteilt, die gar keine ist, sondern nur als ein Zeichen ihrer Versklavung betrachtet werden darf, wird sicher- lich nicht wiederkehren. Gleiches Recht für beide Ge- schlechter, auch in bezug aus das sexuelle Leben, wird von der öffentlichen Meinung, die sich täglich mehr an die Gleich- berechttgung von Frau und Mann gewöhnt, anerkannt werden. Aber gleiches Recht an sich muß noch lange nicht einen kulturellen Fortschritt bedeuten. Wir müßten e« lm Gegenteil als kulturellen Rückschritt betrachten, wenn nun tatsächlich die sexuelle Anarchie, der die Männer verfallen sind, mit allen ihren abscheulichen Folgen auch auf den größten Teil der Frauen übergreifen sollte. Erst dann wird die sexuelle Gleichberechtigung der Geschlechter als ein Gewinn bezeichnet werden dürfen, wenn als deren Grund- läge eine von Lüge und Heuchelei befreite, nicht mehr durch Sklavengesetze geknebelte, aber durch den geistigen Ausstieg beider Geschlechter beseelte und veredelte Erotik dienen wird. Trotz allem, was heute über die Verrohung der Jugend ge- sagt wird, sehen wir doch, daß ein solcher Aufstieg vor sich geht. Wir brauchen nur das Zusammenarbeiten von Män- nern und Frauen in jeder Arbeiterorganisation zu beobachten, um zu erkennen, daß gerade mit Hilfe diese? Zu- sammenarbeit die Männer gelernt haben, die Frauen viel höher zu achten, als das je vorher der Fall war. Wir müssen nur das Leben in unseren Jugendorganisationen kennen, um zu wissen, daß die heranwachsend« Arbeitergene- ration gar nicht mehr die veralteten Begriffe von der Minder- Wertigkeit des weiblichen Geschlechtes kennt. Und wenn wir schließlich die Tätigkeit unserer Jugendorganisation mit Inter- esse oerfolgen, so muß in uns die Zuversicht entstehen und immer stärker werden, daß unsere Jugend zu einer Gesittung heranwächst, die nicht nur etwa Erlösung der Frauen von dem Zwang alter und sinnloser Vorurteile, sondern auch die Er- weckung der Männer zu ernstem Verantwortungsgefühl auf geschlechtlichem Gebiet bedeutet. So sicher als unsere Mädchen es lernen müssen, ihren berechtigten Freiheitsdrang mit jenem weiblichen Stolz zu verbinden, der jede geschlechtliche Verbindung oerschmäht. von der nicht auch geistige und seelische Gemeinschaft und über flüchtige Begehren weit hinausgehende Dauer zu erwarten ist, so muß auch unsere männliche Jugend lernen, daß sie durchaus kein Recht hat, von den Frauen mehr Treue und Reinheit zu erwarten, als sie selbst entschlossen ist, ihnen dar- zubringen. Wenn solche Anschauungen über die Pflichten, die da« Ges�lechtsleben auferlegt, allgemein anerkannt sein werden, dann erst können wir zu einer Veredlung der sexuellen Be- Ziehungen gelangen, wie sie früheren Generationen unbe- kannt war, wie sie aber einzig und allein der s o z i a l i st t- schen Weltanschauung entspricht. Therese Schlesinger .