Ausruf zu Die letzten zwanzig Jahre sind für die politische Eni- Wicklung der deutschen Frau von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Im Jahre 1907 mußte sie noch um da» Recht kämpfen, an politischen Versammlungen teilzunehmen, ohne in «inen abgesonderten Raum— das Segment— verwiesen zu werden. Heute steht sie mitten im politischen Leben, desitzt sie das höchste Recht und das wichtigste Kampfmittel: da» aktiv« und passive Wahlrecht. Wenn auch in der Praxis noch nicht überall die absolute Gleichberechtigung herrscht, so ist doch die Grundlag« vorhanden, von der aus die letzten Wider» stände überwunden werden körmen. An die Geschichte der Frauenkämpfe um ihre Stellung im öffentlichen Leben erinnert lebhaft ein Buch von Else Lüders , das vor wenigen Tagen im Verlag von F. A. Perthes in Gotha erschienen ist: Minna Cauer , Leben und Werk. Hier haben wir das Lebensbild einer Frau, die 1922 im hohen Alter von 80 Iahren gestorben ist, die alle die Kämpfe für ihr Geschlecht miterlebt, mitkämpft, führend und anfeuernd vorwärts schreitet, mit dem Ringen um bessere Bildungsmöglichkeiten beginnt, hinauswächst über diese ersten Schritte, das ganze Gebiet der Frauenbewegung ergreist hinter sich läßt, und den Kampf für das Frauenwahrecht auf» rimmt, und auch darüber hinauswächst, um der politisch arbeitenden Frau ihren Platz zu erringen und anzuweisen, ihr klar zu machen, daß sie nur in der gemeinsamen Arbeit mit dein Mann die wahre Bestiedigung finden und die Pflicht gegenüber Land und Volk erfüllen kann. Wir geben mit ihr, lernen sie im Elternhaus, in ihrer ersten kurzen Ehe. in dem schweren Kampf um dos tägliche Brot kennen. Die zweite Ehe mit Eduard Coucr bringt sie in Verbindung mit den Politikern aus der Blütezeit des Liberalismus, durch ihren Mann erhält sie auch die Anregung, die sie später nach seinem Tode zur Frauenbewegung führt. Minna Eauer gehörte der Sozialdemokratie nicht an. Manchmal hat sie daran gedacht, ihr beizutreten, den Schritt jedoch nicht getan. Ader sie war uns keine Fremde. Wo sie auch stand, ihre Arbeit und ihr Kampf kam den Proleta» rierinnen ebenso zugute wie den bürgerlichen Frauen. Sie hatte eine tiefe Verehrung für Bebel und für Clara Zetkin , und mit großer Wärme sprach sie von Luise Zietz , auf deren Urteil sie sehr viel gab. Wie stark sie sich zur Arbeiterschaft hingezogen fühlte, geht aus einer Tagebucheintragung vom Oktober 1915 hervor. Dort schreibt sie von einer Unterredung mit Luise Zietz , die ihr beim Abschied sagte:„Frau Cauer. wir achten Sie olle um Ihrer festen Ueberzeugung willen, wir haben alle Vertrauen zu Ihnen. Sie haben es schwerer, denn Sie stehen inmitten Ihrer Kreise allein: wir haben die Ge» meinschafi durch unsere Partei." Frau Eauer fügte hinzu: „Ich war tief ergriffen,— etwas Schöneres, als daß die Arbeiterschaft, das Volk mir traut, kann es für micht nicht geben." Vom so,z>oldemokratischen Frauentag 1911 sagt sie: „Ein Markstein. O. wäre ich doch vor Jahrzehnten meinem Inneren gefolgt und märe hinübergegangen! Mit unseren bürgerlichen Frauen werden wir nicht viel erreichen. Wie so die Scharen singend hinausgingen, fühlte ich. daß ich zu der strebenden und ringenden Mass« gehörte. Mein Herz ist bei ihnen, und zwar ganz. Ich weiß, daß mich alles von der bürgerlichen Auffassung des Lebens trennt.— alles. Ein schwerer Konflikt ist schon lange in mir.— niemand ahnt ihn. Ich will hinaus au» dieser engherzigen und engbrüstigen Frauenrechtlerei, ich lehne mich dagegen auf. Ich«eij, daß m Kampf. ich Sozialistin und Politikerin bin— ein Weltmeer trennt mich von den Frauenrechtlerinnen." Das war, al» sie erkannte, daß auch in der letzten Orga- nifation, die sie schuf und an deren Arbeit ihr ganzes Herz hing, dem Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht, die reine Frauenrechtlerei Einzug hielt, daß sie auf» heftigste verurteilt« und deren reaktionäre Tendenz sie fühlt«. Bebel und Clara Zetkin hatten ihr geroten, die Arbeit im bürger- lichen Lager fortzusetzen, weil sie glaubten, daß sie dort mehr leisten können. Was tat es denn auch, ob sie organisatorisch bei uns war oder nicht. Nie ist sie in ihrer Arbeit, in ihrem Handeln in Gegensatz zu den sozialdemokratischen Frauen geraten, und sie mußt« mit denen leide«, die im Krieg« für den Frieden und für die Verständigung wirkten. Ihre Zeit- schrift„Die Frauenbewegung" wurde von der Zensur scharf beobachtet, well man sie fürchtete. Oft schien es, als ob die Weiterarbeit unmöglich würde, e» kamen Verbote, Warnungen über Warnungen. Schon 1910 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Das Massaker von Berdun geht weiter! Und Fluch vor allem der GeduldI Deutsches Volk, verstehst du diesen Satz? Du bist dem Militarismus ergeben und verfallen." Und dann am 9. November 1918 bei Ausbruch der Revolution der Jubel:„Traum meiner Jugend, Erfüllung im Alterl Ich sterbe als Republikanerin." Als Minna Cauer das schrieb, war sie 78 Jahre alt. Wie jung war sie noch, welch« Begeisterung erfüllten sie für die neue Zeit, die sie anbrechen sah. Sie brachte ihr noch Ent- täufchungen, denn wieder war sie den anderen Frauen im Bürgertum weit voraus. Die konnten in ihrer Masie sich noch nicht vom Alten loslösen, Minna Cauer brauchte nichts mehr zu überwinden, in ihr wurde erfüllt, was sie im tiefsten Innern von jeher mit sich getragen hatte. Könnte man das Leben Minna Cauers in all seinen Ver- slechtungen mit der Zeit von der Mitte des vorigen Jahr» Hunderts bis zum Jahre 1922, ihrem Todesjahre, schildern, es müßte ein wundervolles Bild einer leidenschaftlichen Person- lichkeit und eine lebendige Geschichte der Strömungen jener Zeit werden. Das wollte Else Lüders . Aber der Abstand war wohl noch nicht groß genug und die Sorge vielleicht zu stark, Personen, die Minna Cauer nahe gestanden hatten, zu verletzen. Wir suchen nach Erklärungen über manche Lebens- abschnitte, über Kämpfe, von denen wir nur den Abschluß er- fabren. aber nicht die Entwicklung sehen. Biel « Frauen und Männer, die in ihr Leben getreten sind, werden kaum erwähnt, und es wäre doch so bedeutsam zu lernen, wie ihre Be- Ziehungen waren, wieviel sie ihr gaben, und welche An. regungen sie von Minna Cauer erhielten. Diejensgen, die sie genau kannten, finden in dem Buch die Anknüpsung»- Punkte, sie können die Brücken im Geiste wiederherstellen, vi« von einem Zeitabschnitt zum anderen reichten. Dem Ferner- stehenden fehlt diese Möglichkeit. Für ihn wird die Zeit nicht wieder lebendig, und diese hinreißende Frau, die so viele von '«ms angespornt und begeistert hat, die wir liebten, wie wenig« Frauen von ihren Mitarbeiterinnen geliebt werden, sie ersteht nicht vor ihnen als die glühend« Kämpferin, wie wir sie kannten. Es ist nicht möglich, das Leben und Wirten Minna Cauers zu schildern, ohne sich eingehend mit den Menschen zu beschäftigen, mit denen st« in Berührung kam Gerade in den Kämpfen mit ihren Gegnern, auch in dem Entstehen persönlicher Feindschaften würden wir um so stärker da» Temperament und die Kraft erkennen, mit der Minna Cauer Veraltetes hinter sich ließ in Zeiten, wo ihre Weggenossinne"
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