Erotik und Altruismus. Von Hedwig Schwarz. In der im Verlag E. Oldenburg , Leipzig , erscheinenden Schriften- reihe„Rultur- und Zeitfragen", ist als eines der letzten Hefte ein Lüchlein von Dr. H e l e n e S t ö ck e r, der bekannten Frauen- rechtsvorkämpferin, mit dem obigen Titel erschienen. Bei aller An- «rkennung der Verdienste der Schrift sind einige kritische Bemer- tungen doch notwendig. Die Zusammenstellung Erotik— Altruismus erscheint von vornherein problematisch, denn bei aller Vergeistlgung der animalischen Funktionen des Menschen läßt sich die Brücke zum Altruismus nicht schlagen. Das Triebhafte bleibt dabei doch immer die natürliche Grundlage: selbst die Mutterschaft, die doch viel weiter von Selbstsucht und Genuß entfernt ist als die Erotik, ist kein Weg, dessen gerade Verlängerung in einen edlen Altruismus hineinführt, sondern häufig in einen ziemlich unedlen Familien- «goismus. Die Genossin Oda O l b e r g wies vor einiger Zeit in der �Schaffenden Frau' in einem sehr ehrlichen Aufsatz nach, daß es un- sinnig ist, die politischen Rechte und Betätigungen der Frau mit ihrer angeblichen„Mütterlichkeit" zu begründen, als wenn man einest Ur- inftinkt einfach auf Organisationen wie Staat und Gesellschaft über- tragen könnte! Rein, der Altruismus hat andere seelisch« Wurzeln als das selbst sublimierteste Triebhafte, und auch Helene Stocket ist den Beweis für eine Verbindung beider Elemente schuldig geblieben. Denn das einzige, was sie in dieser Richtung zu nennen weiß, tiefste Verpflichtung gegen den geliebten Menschen, liegt wohl auf der Linie einer Vergeistigung und Durchseelung der Liebe, hat aber mit Altruis- mus nichts zu tun... Im übrigen weiß Helene Stücker recht Wertvolles über die heute die gesamte Frauenbewegung In sexueller Hinsicht bewegenden Probleme zu sagen, so insbesondere über die Keuschheit. Immer wieder behaupten die Gegner einer neuen Moral, daß diese in Zügel- losigkeit ausarten müsse, während in Wirklichkeit der Kampf nur der erzwungenen, starren und inhaltslosen Keuschheit gilt. Von Persönlichkeiten der geläuterten neuen Liebesmoral ist die r e l a- t i v e Keuschheit, d. h. der Verzicht auf das körperliche Liebes- erlebnis, wenn nicht die tiefste, geiftig-seelische Bindung da ist, un- zertrenntich. Frau Stöcker wendet sich weiter gegen eine Auslassung, die (umal von Aerzten propagiert wird, daß Enthaltsamkeit«nicht ge- undheitsschädlich" sei, womit die Liebe etwa dem Alkohol gleichgesetzt wird. Daß der Verzicht nicht gesundheitsschädlich ist, ist gar kein Grund für die Enthaltsamkeit, wenn nicht eine innere Notwendigkeit vorliegt. Im übrigen sind die Urteile der Wisienschast hier keineswegs einheitlich, und in neuerer Zeit mehren sich die ärztlichen Stimmen. die von der völligen Enthattsamkeit zumal für die Frau, für die sie auch noch Verzicht auf die Mutterschaft bedeutet, die schwersten Schädi- Sungen des gesamten Organismus befürchten. Das Verdienst der l s k e s e für frühere, primitive Zetten wird nicht bestritten. Viel- leicht war es nur aus diesem eigenartigen Umweg möglich, zu einer vergeistigung der Sexualität, zur Erotik zu gelangen. Da die Frau stärker dem Zwang zur Askese unterworfen war, ist im Verhältnis zu ihrer sonstigen geistigen Durchbildung die erotische Cmpsindungs- weise vergeistigter als die des Mannes. Heute aber müsien wir das Ideal der Lergeiftigung auf anderen Wegen zu erreichen suchen. Mit großer Ausführlichkeit wird das Problem der Doppel- »nd Mehrliebe der differenzierten Frau behandelt, das früher nur für den Mann bestand: Mehrliebe nicht im Sinne banaler Un- treue, die eine Entwertung des vorher geliebten Menschen voraus- setzt, sondern einer oft qualvollen innerlichen Bindung an mehr als einen geliebten Menschen des anderen Geschlechts. Die Frauenseele von heute ist ein reicheres Instrument geworden, bald wird die eine, bald die andere Saite zum Schwingen gebracht. Es gibt schon eine fanze Reihe moderner Schriftstellerinnen, genannt seien nur die tufsin Anastasia Werbitzkaja, die Däninnen Agnes Hennigsen und Karin Michaelis , dl« Oesterreicherin Friderite Mari« Winternitz und die Deutsche Annemarie von vtathusius, die sich in Ihren Romanen mit solchen Frauenschicksalen beschästigen. Das Ideal bleibt natürlich die restlose, völlige Harmonie zwischen z w e k ganz aufeinander ab- gestimmten Menschen; es soll nur die früher nicht vorhandene Problematik auf dem Wege zur Erreichung dieses höchsten Ziele» auf- gezeigt werden. In Uebereinstimmung mit den Erkenntnisien der modernen wisienschastlichen Psychologie wird hingewiesen auf die hohe Be- deutung der Kindeseindrück« für die das ganze spätere Leben und die ungeheure Verantwortung der E rzi eher. Sexuell« Aufklärung im Sinne eine» verstandesmäßigen Wissens um die Dinge allein tut es nicht, sondern um die Erweckung eines neuen Ethos im Kinde und Jugendlichen, der vorgelebt werden muß. Mit Irrtümern, die viel unnöttges Unglück über die Frau ge- bracht haben, wird ausgeräumt. Die Unfruchtbarkeit in der Ehe, die als Folge des männlichen Hcrrschckftsoerhältnlfses bisher stets der Frau zur Last gelegt wurde, liegt nach den neuesten wissen- Ichaftlichen Forschungen in überwieaendem Maße am Manne. Auch daß der Mann als das eigentlich schöpferische, zeugende Ele- ment gedacht wird, ist nach dem Stande der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisie unhaltbar. Sexuell« Empsindungslosig- teil der Frau hat keineswegs krankhafte Ursachen, sondern ist «ine Folge der sahrtausendelangen Unterdrückung des Liebeslebens der Frau, aber auch, biologlsch, des ausrechten Ganges des Menschen, dem sich der weibliche Geschlechtsorganismus noch nicht genügend onge- paßt hat. Trotz der eingangs gemachten Vorbehalte bringt das Büchlein Dr. Helene t>röckcrs eine Menge von Anregungen und Erkenntnissen und ist ein Schritt weiter auf dem Weg« zu einer freien, Vorurteil«- losen Gcschlechtsmoral, einer Höherentwicklung und Idealisierung de» Liebeslebens. Das Gericht der verlorenen. Von Justus. Dom Korridor des Gerichtsgebäudes dringt Stimmengewirr. Sie treten in den Verhandlungsraum— zehn, zwanzig, vierzig, sechzig weibliche Personen. Dicht gedrängt bleiben sie hinter der Schranke stehen. Dann beginnt der Aufruf— die Gerichtsverhandlung! Der Richter nennt den Namen; Geburtsjahr und Geburtsort klingen zurück.„Sie haben die Invalidenftrahe be- treten?"„Ja." Letzte Strafe. Antrag:„Ein Tag Haft!"„Ein Tag Haft. Angenommen?"„Ja." Name, Geburtsjahr, Gcburts- ort, verbotene Straße betreten, Antrag des Staatsanwalts, ein Tag Haft, angenommen? usw. in monotoner Reihenfolge. Jede Ver- Handlung dauert IS bis 20 Sekunden. Zlngetreten, abgetreten, an- getreten, abgetreten. Junge, Alte, Frische, Welke, Freche, Be- scheiden«, Häßliche, Hübsche, Ledige, Verheiratete, Bubitöpfe und andere mit reichem Haarschmuck, schlicht Gekleidet« und Aufge- donnerte.— Das ist die Straßenernte der Eittenbeamten aus der vergangenen Nacht. Auf Gasjen, verbotenen und erlaubten, in Lo- kalen und Absteigequartieren sind sie aufgelesen, in Polizeigewahrfam gebracht worden und dann vor den Richter gestellt. Nu» stehen sie da, und ihre Akten liegen auf dein Tische. Nicht selten sind es ziemlich umfangreiche Akten, ein endloses Sündenregister: lieber- tictung auf Ilebertrctung, Herumflanieren auf verbotenen Straßen und Plätzen, schamlose? Verhalten auf � der Gasse, Belästigung von Männern, lärmendes Betragen in angetrunkenem Zustande, Ver- säumen der Kontrolle usw. Sie kennen die Strafe, die ihrer harrt. im voraus— die Taxe ist ein für allemal festgelegt. Ist seit der letzten Strafe(Uebertretung) nicht mehr al» ein Monat vergangen. so gibt es zwei bis drei Tage 5)ast, sonst einen Tag. Die Straf« für Versäumen der Kontrolle entspricht der verdoppelten Zahl der ver- säumten Tage. Was macht aber ein Tag Haft in lustiger Gesell« schast aus? Man nimmt dies Risiko des„Gewerbes" gern hin— soll man etwa verbotene Straßen meiden und deshalb ohne Gast, ohne Verdienst bleiben: soll man hungern müssen, hungern?.. Nun gar die Kontrolle! Es wird manchmal gar zu lästig, zwei oder einmal in jeder Woche zu erscheinen. Man verschläft die vor« geschriebene Zeit, man war verreist, man hatte Beschäftigung und glaubte, nicht kommen zu müsien, oder man wußte auch, daß man krank war und wollte nicht ins Krankenhaus gehen. Ueberhaupt dies Kranksein! Die Kontrolle dient zur Bekämpfung der Geschlechts- krankheiten, und dabei werden diese Krankheiten erst durch die staatliche Duldung dieses entwürdigenden Gewerbes erkauft. Man betreibt ja„gewerbliche" Unzucht und bedarf dazu besonderer Ge- nehmigung. Das Gewerbe erheischt Volljährigkeit, unterliegt Ver- walhingsordnungen, ist durch Strafgesetze geregelt. Ob die Sitten- kontrolle ihren Zweck erreicht, muß man bezweifeln. Die geheim« Prostitution blüht, zwischen Erkrankung und Stellung zur Kontroll« vergehen meist ein paar Tage, und die erkrankten Männer ver- breiten auch selbst die Krankheit weiter, wenn auch nicht in dem Maße wie die„gewerbsmäßig" Unzüchtigen. Not, ungesunde Triebe und sittliche Verwahrlosung machen diese Verlorenen zu den Elendesten unter den Elenden, zu verachteten Ausgestoßenen der Gesellschaft, denen man Ihren traurigen Beruf an Gesicht, Gang und Haltung ansieht. Sie, die immer wieder einem anderen gehören müsien, lebendige Ware auf dem Markte der Wollust und Geilheit, sie üben eine notwendige„soziale" Funktion im Staate der Männerherrschast aus. Nicht selten kommen dies« Mädchen selbst und suchen um Erlaubnis nach, das Gewerbe der Unzucht betreiben zu dürfen. In der Regel werden sie ober zwang»- weise unter Kontrolle gestellt. Den Argusaugen der Sittenbeamten entgehen die schüchternen Neulinge nicht, die den Patentierten Kon- kurrenz machen. Zuerst werden sie verwarnt, das nächstemal werden sie mitgenommen, kommen vor die Frauenhilfe und werden ausgefragt, und es wird versucht, sie in geordnete Verhältnisi« zurückzubringen, sie von der beginnenden Seelensäulnis zu retten. Auch sie kommen vor den Richter, jede einzeln: die Verhandlung findet In Gegenwart der Fürsorgerin statt: die Strafe— drei Wochen Hast— wird nicht vollstreckt: sie erhalten Bewährungsfrist. Kommen sie dann doch wieder ins Polizeipräsidium, so werde» sie unter Kontrolle gestellt. Diese währt so lange, als da, Mädchen feine Lebensweise nicht ändert— oft bis zum Tode. So verläuft ein Leben voll Erniedrigungen, Demütigungen» Krankheit, Not, Elend, Ausbeutung durch Zuhälter, seelischem Schmutz. Selbst hinter diesem Hohngelächter auf das„Ebenbild Gottes " schlägt«In fühlendes, zärtlichkeitsbedürftige» Herz, zu- gänglich für jedes freundliche Wort, lebt ein Mensch, den nicht selten Ekel vor seinem eigenen Leben ergreist. Aber was hin? Ein Zurück ist doch so schwer. Trieb, Gewohnheit. Not— wer weiß, was alles da mitspielt! Schliecklich ist die Prostitution ja auch eine „notwendige soziale Funktion". Hörte sie heute aus, so erstünde sie schon morgen von neuem. Das ist das Furchtbare, das Schreckliche an ihr.
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