Frauenstimme
Nr. 14+ 43.Jahrgang
Beilage zum Vorwärts
8. Juli 1926
Sozialismus und Urformen der Ehe.
Entgegen der bürgerlich- kapitalistischen und kirchlich dogmatischen Ueberschäzung der Einehe als der einzig gegebenen Form des Zusammenlebens der Geschlechter bemühte sich der wissenschaftliche Sozialismus von jeher um den geschichtlichen Nachweis, daß vor der heutigen Form der Monogamie bereits andere Formen des geschlechtlichen und familiären Beisammenseins der Menschen bestanden haben. Besonders August Bebel legte in seinem berühmten Werke ,, Die Frau und der Sozialismus" Wert auf diesen Nachweis, indem er einen kurzen Abriß von der Entwicklung der Ehe gibt, soweit sie nach dem damaligen Stande der Wissenschaft bekannt war. Bor ihm hatte sich bereits Bachofen in feinem 1861 erschienenen Werke über Mutterrecht mit dieser Materie befaßt. Die 1871 erschienenen Forschungen von Morgan, die von Engels in seinem Buche ,, Der Ursprung der Familie " verwertet wurden, sind auf diesem Wege in verkürzter Form in das Wert Bebels und damit rasch in das Bewußtsein breitester Massen, namentlich Frauen, gelangt. Morgan führt nicht mehr, wie Bachofen , die Entstehung der Eheformen auf religiöse Einflüsse, sondern in Uebereinstimmung mit der Mary- Engelsschen Lehre auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse zurück. In jahr zehntelangem Zusammenleben mit dem Indianerstamme der Trofesen in seiner amerikanischen Heimat fand Morgan als die herrschende Form die mehr oder weniger lose Paarungsehe, bei der ein Paar sich auf fürzere oder längere Zeit, zum mindesten bis zur Entwöhnung des Kindes, zusammenfindet.
Als ältesten Typus des Zusammenlebens der Geschlechter innerhalb einer Horde bezeichnet Morgan die volle Promisfuität, d. h. den schrankenlosen geschlechtlichen Ver tehr zwischen den Angehörigen der verschiedenen Generationen, auch zwischen Eltern und Kindern, sodann die Trennung nach Generationen, die Blutsverwandtschaftsfamilie, und späterhin bie Trennung zwischen Bruder und Schwester. Der über das Biel hinausschießende Aberglaube des primitiven Menschen hat es nicht beim Verbot der einfachen Geschwifterehe bewenden lassen, sondern aus religiösen Gründen das Verbot auf Bettern und Basen mehrerer Grade ausgedehnt; bei einigen australischen Stämmen galten sogar in diesem Sinne alle Angehörigen einer Horde als verwandt. Dadurch haben fich für die jungen Leute feste Bezauberungs-, Entführungsund Fluchtgebräuche herausgebildet, über die A. W. Nieuwenhuis in dem im vorigen Jahre erschienenen ,, Ehebuch" berichtet. Eine eingehende Kritik des Morganschen Verwandtschaftssystems erfolgte durch Genossen Professor Heinrich Cunow in seinem 1921 erschienenen Werke ,, Die Marrsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie". Cunow sezt die Paarungsehe, die nach Morgan erst ein fortgeschrittenes Entwicklungsstudium darstellt, an den Anfang der menschlichen Entwid fung und wirft Morgan vor, die indianischen Verwandtschaftsbezeichnungen europäisch mißdeutet zu haben. Mit den Ausdrücken Bater", Kind", Großmutter" usw. sollen teine Verwandtschaftsgrade bezeichnet werden, sondern lediglich Generationsunterschiede. Die Promistuität als Ausgangsstufe für die menschliche Entwicklung lehnt Cunow ab, da doch schon höhere Tierarten in mehr oder weniger fester Baarungsehe leben. Eine Generationstrennung ergab sich bei den anfänglich sehr kleinen Horden von 15 bis 20 Personen ganz von selbst, indem die jüngeren Männer naturgemäß den älteren die jungen Weiber nicht überlassen wollten, und in folgedessen ihrer größeren Wichtigkeit bei der Nahrungs
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gewinnung ihren Willen auch durchsetzten. Wie entsteht nun das Verbot der sogenannten Geschwister ehe", die nach Cunow nur mehr ein Verbot der Heirat zwischen Hordenangehörigen ist? Rechnet man bei der kleinen Zahl der Hordenangehörigen Kinder und Alte ab, so war die Auswahl der Lebensgefährtin so gering, daß die Not zu Frauenraub und tausch oder kauf zwischen den Horden führte, regünstigt noch durch die größere Macht des Mannes über die stammesfremde Frau. Bald wurde die Ehe mit der Stammesfremden, die sogenante Erogamie, religiös geheiligt, und toraus entstanden die uns heute widerfinnig erscheinenden Gbehindernisse innerhalb der entferntesten Verwandtschaftsgrade. Es ist weiterhin das Verdienst Cunows, betont zu haben, daß Mutterrecht und weibliche Namensfolge fich feineswegs decken. Zwar ist die weibliche Namenfolge vom Mutterrecht unzertrennlich, aber sie allein ist noch fein Beweis für Mutterecht. Bei den australischen Stämmen r hielt die Frau den Totem namen( Bezeichnung eines Stammes nach einem Tier, einer Pflanze usw.) einfach deshalb, weil die Frau es war, die von Stamm zu Stamm durch Raub, Tausch oder Kauf hinüberwechselte und Ehen ihrer Nachkommenschaft untereinander vermieden werden sollten. Die weibliche Namensfolge ist hier mit der größten Knechtung und Ausbeutung der Frau vorhanden. Als Extrakt der Cunowschen Richtigstellungen von Morgan- Engels- Bebel ergibt sich, daß nicht Promistuität, d. h. hemmungsloser Bielverkehr, am Anfang der Menschheitsentwicklung gestanden hat, sondern die Paarungsehe. Diese war bei ihrer Loderheit natürlich gleichfalls weit entfernt von der strengen Einehe der biblischen Schöpfungsgeschichte.
Aber noch später, als die dauernde Lebensgemeinschaft eines Paares, die ,, monogamische" Ehe, einzig die Weihe eines Saframentes erhalten hatte und damit im Rangwert über alle anderen Formen des Gemeinschaftslebens gestellt war, finden wir doch noch mannigfaltige andere Arten des Zusammenlebens zwischen Mann und Weib. Neben der offiziellen, einzig fanttionierten Ehe beſtand sowohl leichte Lösbarkeit als Probeehe, Verstoßung, Verlassen, ja war auch noch vielfach die Mehrehe gestattet. Ob dabei der Mann oder die Frau mehr der leidende Teil war, entschied sich aus der sonstigen Machtverteilung der Geschlechter. Wahre, nicht nur formale und scheinbare Einehe ist einzig bei der Gleichberechtigung der Geschlechter bisher erwiesen und möglich. Der Sozialismus steht heute im Kampfe darum, die wirtschaftliche und kulturelle Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen. Er will damit nicht die Einehe auflösen, sondern die Bedingungen schaffen, unter denen allein sie sich zu ihrer vollen Bedeutung und Würde entfalten kann. Er versucht dabei aber zugleich, durch Erleichterung der Scheidung die menschlichen Paarungsverhältnisse, die zwar für die Dauer geplant waren, aber für die Dauer nicht Stand hielten, im Interesse der Partner und ihrer Kinder zu lösen. Damit sollen Bindungen fallen, die zu Fesseln werden. Gleichzeitig kämpft er darum, der Mutter, die ein Kind außerhalb der Ehe empfing, um ihres und um des Kindes willen eine rechtliche und gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zu geben. Das Wissen um die mannigfachen Urformen der Ehe dient dabei den sozialistischen Kämpfern dazu, ihnen die Gewißheit zu geben, daß die heutige Privilegierung der monogamischen Ehe entwicklungsgeschichtlich bedingt und es möglich ist, die soziale Entehrung, die mit anderen Gemeinschaftsformen verknüpft ist, zu überwinden. H. S.