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Ver Verzicht Die Geburtenbeschränkung, die ursprünglich bei den wohlhabenden Schichten ansetzte, hat nunmehr, wie die deutsche   und internationale Geburtenstatistik deutlich genug beweist, einen Massencharakter angenommen. Wie sehr der ungeheure wirtschaftliche Druck und die Wohnungsnot der Nachkriegsjahre dem Geburtenrückgang als Massenerfcheinung Vorschub leistete, leuchtet von selbst ein. Hierüber besteht auch in zahlreichen Untersuchungen, die in den letzten Jahren über Bevölkerungsbewegung und Be* völterungspolitik veröffentlicht wurden, keine Meinungsver- schiedenheit. Selbst diejenigen Forscher, die zu besonders pessimistischer Einschätzung des Geburtenrückganges gelangen, indem sie für die Zukunft eme Entvölkerung Deutschlands  bzw. Europas   befürchten, verweisen mit Nachdruck darauf, daß die wirtschaftliche Not der Gegenwart den Kindersegen für die breiten Schichten der Bevölkerung in einen Fluch ver- wandle, und drängen daher auf eine von sozialen Gesichts- punkten getragene Bevölkerungspolitik. So wenig man als modern denkender Mensch den einzelnen Ehepaaren das Recht auf weitgehende Einschränkung der Kinderzahl absprechen wird, so kann man sich doch der Erkenntnis nicht verschließen, daß durch diese persönlich noch so gerechtfertigte Handlungs- weise ein für die Allgemeinheit wichtiges Gedurtenproblem erwächst, das manche Gefahren für die Zukunft in sich birgt. Der Verzicht auf Kinder unter dem Druck der Wirtschaft- lichen Not kann aber auch vom Standpunkte der persönlichen Lebens st«igerung nicht als Ideal angesehen werden. Man braucht sich nur vorzustellen, daß die Zahl der Ehepaare, die sogar auf das einzig« Kind verzichten, zunehmen wird, um einzusehen, durch welch hohen Einsatz an persönlichen Lebenswerten das leichtere Leben ohne Mutterschaft und Vaterschaft erkauft wird. Wer bei der Beurteilung des Geburtenrückganges bei der Arbeiterschaft die wirtschaftliche Not als aus- s ch l i e ß l i ch e Ursache gelten läßt, übersieht, daß die Ge- burtenbeschränkung gerade bei den besitzenden Schichten ihren Anfang nahm. Angesickts der grundverschiedenen wirt- schaftlichen Lage, die den Geburtenrückgang bei den ver- schiedenen Bevölterungsschichten in steigendem Maße bewirkt, müssen offenbar auch gewisse gemeinsame Berührungspunkte vorhanden fein, die die Abnahme der Geburtlichkeit als Kulturerscheinung unserer Zeit erscheinen lassen. Es ist ein Verdienst des bekannten Forschers Julius Wolf  , daß er in seinem neuesten WerkDie neue Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage"(Verlag von Gustav Fischer, Jena  ) diesen Zusammenhängen nachspürt. Der Verfasser tritt zunächst begreiflicherweise sehr energisch der sogenannten Wohlstandstheorie entgegen, wonach der Geburtenrückgang in Anlehnung an die Vorkriegsveniältnisse vorwiegend als Begleiterscheinung der Wohlhabenheit an- gesehen wurde. Es wird die Arbeiterlestr, die heute aus naheliegenden Gründen den Geburtenrückgang nur aus der wirtschaftlichen Not ableiten, sehr überraschen, daß man die Geburteneinschränkung gerade auf zunehmenden W�o h l- stand zurückführen konnte. Demgegenüber vertritt Julius Wolf den Standpunkt, daß der Wandel der Sexualmoral das Entscheidende für den Geburtenrückgang gewesen sei und daß dieser Wandel mit der Wohlhabenheit nur insofern zu- sammenbänge. als er bei den Begüterten begonnen, aber immer größere Massen, gleichgül'ig. ob begütert oder' nicht begütert, erfaßt habe. Diele Feststellung, die Wolf bereits im Jahre 1912 in seiner SchriftDer Geburtenrückgang, die
auf das Kind. Rationalisierung des Sexuallebens unserer Zeit" macht«, wurde seiner Ansicht nach durch die Erfahrungen der folgen- den Jahre durchaus bestätigt, und er läßt sich dementsprechend in seinem neuen, oben erwähnten Werke zu der Behauptung verleiten, daß esfür die Geburtlichkeit nichts Bedeutsameres als die jeweilige Sexualmoral" gebe. Wenn man auch den Wandel der Geschlechtssitten als mitbestimmenden Faktor der Geburtenbeschränkung durchaus berücksichtigen muß, so kann man dem Verfasser in seiner Ueberspitzung des ideologischen Moments nicht beistimmen, weil die jeweilige Sexualmoral an sich in entscheidendem Maße durch die jeweiligen sozial- ökonomischen Wandlungen bedingt wird. Sie kann also nicht unseres Erachtens als primärer, alsbedeutsamster" Faktor der Geburtlichkeit angesehen werden. Es stimmt freilich, daß die Lockerung der Traditionsgebundenl>eit, wie der Verfasser mit Recht hervorhebt, die Loslösung von der gott- oder natur- gegebenen Zeugung und dieRationalisierung der Zeugung" begünstigt, es scheint uns aber fraglich, ob man in all den Fällen, wo der Bruch mit der traditionellen Zeugung zum Vorschein tritt, eine neue Sexualmoral, das heißt ein von ethischen Gesichtspunkten bestimmtes Verhalten voraus- setzen darf. Läßt sich etwa die Eebärunlust des Luxusweibchen auf verantwortungsbewußte Zeugung zurückführen, oder kann man angesichts der Vorliebe auch der französischen   Bauern für das Zweikindersystem behaupten, daß diese Bauern sich dabei von einer ihnen bewußten, neuen Sexualmoral leiten lassen? Den Bruch mit der traditionellen Moral kann man im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung, die den Zeitgeist so sehr bestimmt, auch unbewußt vollziehen, die 5?eraus- kristallisierung einer neuen Moral, in diesem Falle einer neuen Scxualmoral, setzt aber eine mehr oder minder zielbewußte ethische Aktivität ber einzelnen und der Massen voraus. Nach Wolf manifestiert sich die neue Sexualmoral in der N a t i o- n a l i s i e r u n g. Die Tatsache, daß der Geschlechtsverkehr in zunehmendem Maße rationalisiert wird, läßt sich eben- sowenig auf das Vorhandensein einer neuen Sexualmoral schließen, als etwa die Rationalisierung des Wirtschafts  - lebens zur Annahme einer neuen Wirtschaftsmoral berechtigt. Es kommt letzten Endes darauf an, aus welchen Motiven und zu welchem Zweck die Befreiung aus der Naturgebunden- heit erfolgt. Infolgedessen kann die Geburtenbeschränkung nur in den Füllen, wo es sich um h ö ch st e V e r a n t w o r t- lichkeit gegenüber der eigenen Nachkommenschaft und der Allgemeinheit handelt, als ethisches Verhalten gewertet werden. Dagegen wird man dem Zweikindersystem. wo es sich ans Abneigung gegen Besitzzeriplitterunq oder aus Bequemlichkeit einbürgert, oder dem völligen Verzicht auf Kinder, wo er aus dem Hang nach Geschlechtsgenuß ohne jegliches Risiko �md Verontwortunq erfolgt, kaum eine neue Scn-almoral unterstellen dürfen. Tut man das, so kann man d'e Träger.dieserneuen" Sexualmoral in einer weit zurück- liegenden Vergangenheit entd''cken. nämlich bei der kleinen Oberschicht der Herrichenden Klassen, die vor vielen Jahr- Hunderten bereits Gcburtenverhütung praktizierte. Die Besitzlosen werden bn der von ihnen geübten Ge- burtenbeschränkung n'cht von der Sexualmoral der Begüter- ten erfaßt, die mir allni oft ein ethisches Verhalten verinissen lassen, sondern fh entlehnen den bemittelten Schichten ledig- lich die t e ch iu j ch e n Vräoentivmittel, die früher das Monopol der herrschenden Klasse bildeten. Die fort- schreitende I n t e l l e k t u a l i s i e� u il g und T e ch n i s i-