Ein Kind wird vermist!
Ich entsinne mich einer Episode aus früher Kindheit: ein fünf jähriger Nachbarsbub wurde vermißt. Er hatte in der Nähe der Wohnung auf der Landstraße vor dem kleinen Städtchen gespielt. Auf einmal war er verschwunden. Große Aufregung bei Eltern und Geschwistern. War er in den Fluß gefallen, der in der Nähe vorbei floß? Hatte er sich vertret? Hatten ihn Zigeuner mitgenommen? Die tollsten Vermutungen wurden lebendig. Wer Zeit hatte, suchte die Umgebung ab. Nichts war zu finden. Die Angst der Eltern stieg immer höher. Da, gegen Abend, zeigt sich in der Ferne auf der Landstraße ein fleines schwarzes Pünktchen, das näher kommt und größer wird: der verschwundene Hans ist es, der da in Seelenruhe herangetippelt kommt und damn stolz verkündet, daß ihn der Milchwagen mitgenommen habel"
Die vergebliche Angst der Eltern löste sich in einer Tracht Brügel auf, die verständnislos hingenommen wurde und die doch nichts half. Denn furz darauf war der kleine Mann wieder auf und davon gelaufen diesmal hatte ihn der Blerkutscher mitgenommen..
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In einem Kinderheim in Berlin spielen die Kleinkinder im Garten, der durch ein Tor mit ber Straße in Berbindung steht. Plöß lich verkünden die Kinder:„ Der Karle is fort!" Die Kindergärtnerin, die 15 Kinder zu betreuen hat, ist bestürzt; sie hat die Kinder in Sicherheit geglaubt und das Verschwinden, da sie sich mit einem neu eingetretenen Kind zu beschäftigen hatte, nicht bemerkt. Sofort werden die nächsten Straßen abgesucht. Bergeblich! Das Polizeirevier wird benachrichtigt. Schließlich läuft von einem Revier hoch im Norden das Kinderheim liegt im Westen die Nachricht ein, daß Karl dort aufgegriffen wurde. Er hat dort auf der Straße herumgestanden und nicht gewußt, wohin er sollte. Als Karl in der Folgezeit öfters ausreißt, geht man der Sache auf den Grund. Der Arzt stellt fest, daß er zu den hemmungslosen Psychopathe n" gehört, also zu den Menschen, die einfach ihren starten Trieben gehorchen müssen und die daher für ihre Handlungen nicht voll verantwortlich sind. Ein solcher Wandertrieb macht sich am stärksten im Frühjahr bemerkbar. Die Unruhe des Werdens in der Matur verstärkt die Unruhe bes Kindes.
Dagegen lag im Falle des verschwundenen Hans die seelische Situation anbers: Hansens Sehnsucht war, Rutscher" zu werben wie dies in einen gewissen Alter bei vielen Rindern so ist und blefer glühende Wunsch ließ ihn alles andere, auch die elterlichen Verbote, vergessen.
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Ein ähnliches Erlebnis erzählt H. Bertsch in seinen„ Bilder: bogen aus meinem Leben": Der Schulmeister, sein Bater, schildert ,, ble Schrecken, Wunder und Rätsel des hohen Nordens" in solcher llebertreibung und Begeisterung, daß das Herz des kleinen Büble" ganz sehnsuchtsfrant wird und es sich eines Tages auf den Weg macht, um den Nordpol zu suchen". Es füllt sich unter wegs das Hosenfäcle" mit Steinen zum Eisbärentotwerfen" und fäuft schließlich dem Schmied im Nachbarort und seiner gutmütigen Chehälfte Mariann' in die Hände, die ihn, der schon oft der Zukunft in tausend Aengsten lebt, anhalten, mit freundlichen Worten trösten, ihm die Tasche mit föstlichen Birnen füllen statt der Steiner" und wieder heimschicken.
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Auch der Maler Ludwig Richter ist einmal als Drei jähriger aus bem Großelternhaus davongelaufen. Weshalb? Auf dem Hinweg zum Besuch der Großeltern war man an einem Rasen play, mit vielen blauen Gloden- und weißen Sternblumen" vorbeigetommen. Die hatten es dem Ludwig angetan, und so trippelt er los, verläuft sich und wird erst um Mitternacht vor dem Rathaus
vom Ratswächter aufgegriffen und seiner Mutter wiedergebracht.
Bei älteren Kindern hat das Fortlaufen noch andere Ursachen. Unser Leben ist so arm an Romantik, selbst an wirklichem Erleben geworden, daß die Kinder zu Detektivgeschichten, Räuberromanen und Karl- May - Erzählungen greifen, um ihren Lebenshunger zu befriedigen. Und diese Geschichten machen nun einen solch starken Eindruck auf die Kindesseele, daß die Kinder den Entschluß faffen, bie gelesenem Erlebnisse in die Wirklichteit umzusehen. Sie laufen von zu Hause weg, schließen sich in Banden zusammen, führen irgendwo in Höhlen, auf Bauplätzen oder in einem andern Bersted ein abenteuerliches Dasein, das oft genug gesellschaftsfeindlich wird und zum Endspiel vor den Jugendrichter führt.
Noch schlimmer fällt das Drama aus, wenn Furcht vor Strafe das treibende Motiv zur Flucht ist. Da hat ein Junge seiner Mutter ein paar Pfennige entwendet, um sich Obst zu kaufen. Es kommt heraus. Die Mutter droht mit einer schweren Züchtigung burch den Vater, wenn er abends von der Arbeit heimkommt. Abends ist der Junge verschwunden. Erst nach mehreren Tagen und Nächten wird er, ganz heruntergekommen und halb verhungert, aufgegriffen und den Eltern zurückgebracht. In diesem Fall hat noch eln Funfen Lebensfraft bas Stind vor dem legten Schritt zurückgehalten.
Ich denke weiterhin an fene Kinder, die, hübsch von Gestalt und Gesicht, Verführern in die Hände fallen. Arbeitereltern müssen beide arbeiten, häufig außerhalb des Hauses. Die Wohnung wird zugeschlossen. Die Kinder müssen, wenn sie nicht zufällig von Kindergarten oder Hort aufgenommen werden, sich auf der Straße umhertreiben. Selbst wenn die Mutter zu Hause arbeitet, wird sie ihre Kinder, damit sie an die frische Luft kommen, auf die Straße und auf Spielplätze schicken. Hier zeigt sich dann der Unhold, der das Sind weglect, um sich schändlich an ihm zu vergehen.
Häufig treibt auch eine gewisse sexuelle Neugier das Kind einem verbrecherischen Menschen in die Arme. Es hat dunkle Andeutungen vernommen, sinnt ihnen nach, seine Phantasie arbeitet, schließlich fiegt die Gier über die Furcht und wieder hat die Zei tung die alarmierende Nachricht zu bringen:„ Ein Kind wird vermißtt" Und wieder stellt sich eine Schändung des Kindes und gar sein Tob heraus.
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Kindertragödien! Was haben sie uns zu sagen? Kinder gehören nicht in die Großstadt. Rinder brauchen ein Jugendland, fernab der Hetze und Zerrissenheit städtischen Lebens. Sie brauchen eine Stätte der Freude, die ihnen erlaubt, findgemäß unb jugendgemäß zu leben, produktiv zu spielen und zu schaffen, ohne daß eine fapitalistische Wirtschaft sie zu Erwachsenen formt, längst ehe sie erwachsen sind.
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Henny Schumacher.
Die Negersteuer der Heimarbeiterin.
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Ferientage im Thüringer Wald . In einem Glasmacherdörschen Geiersthal heißt das Nest- haben wir ein Zimmer gemietet. Das Dörfchen ist umgeben von herrlichen Waldungen. Spaziergänge und ausgedehnte Wanderungen bringen Erholung und Freude.
Aber inmitten landschaftlicher Schönheiten hodt in dem Dörfchen graues Elend.
Glashütte schwer arbeiten. Der Cohn ist tnapp. Sein Berdienst Wir wohnen bei einem Glasmacher . Der Mann muß in einer reicht faum aus, die Familie zu ernähren. Für ihn ist erst Feierabend, wenn die Dunkelheit hereingebrochen ist. Auf armfeligen Feldern, vor Jahren dem Wald enfrissen, wachsen fümmerlich Born und Kartoffeln. Die Frau des Hauses muß unermüdlich auf den Beinen sein, um das Haus in Ordnung zu halten. Damit nicht genug. Sie muß Ziegenfutter holen, Holz aus dem Walde schleppen und zerkleinern usw., turz: ein ruhelofes Schaffen. Schulden laften auf dem fleinen Häuschen. Wenn Krankheit einzieht, ist die Not dq. Nur harte Fron hält Frau Sorge fern.
machers. Eine Frau, die durch schwere Arbeit schon früh altert. In dieser Familie lebt eine alleinstehende Verwandte des GlasSie arbeitet in einer Glaswarenfabrik. Berdient etwa 2,50 m. pro Tag. Das ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Nach Feierabend verrichtet fie Heimarbeit. Kleine Glaskugeln find mit zierlichen Drahtfäden zu versehen. Fleißige Hände schaffen unermüdlich. Die Frau schuftet bis in die tiefe Nacht hinein, bis förperliche Erschlaffung ein Ende macht.
Und der Lohn? 144 Stüd Glaskugeln find an Drähtchen zu hängen; dafür werden 5( fünf!) Pfennig gezahlt. Wenn man sehr fleißig ist, fann man 5 Pfennig in einer Stunde verdienen. Kann man sich vorstellen, was das bedeutet?
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Während unserer tutzen Ferientage flogen in diese Familie Steuerzettel. Aufforderungen zur Zahlung der Kopfiteuer. Pro Kopf 6 M. Der Arbeiter bezahlt genau soviel wie der Mühlenbefizer! Die Heimarbeiterin soviel wie der Industrielle! Sechs Mart! Sie müssen binnen weniger Wochen gezahlt werden. Die Zahlung wird durch einen eventuellen Einspruch nicht auf
gehoben. Wer nicht zahlt, der hat unweigerlich Pfändung zu er
warten.
Für diese armen Menschen war das ein schwerer Schlag. Für sechs Mart muß diese Heimarbeiterin 120 Stunden arbeiten. Sie nicht allein! Tausende Frauen und Mädchen in dieser Glasmachergegend teilen das gleiche Schicksal.
Die Frau war völlig niedergedrückt. Wir besprechen im Familienkreise die Sache. Und sie brachten die Rede auf den Mann, der die Negersteuer in Thüringen auf dem Gewissen hat: Minifter Frid, glorreicher Führer der Nationalsozialiffen, die diesen verzweifelten Menschen vor der Wahl die arößten Versprechungen machten. Minister Frid, Bahnbrecher der Negersteuer, der gemeinften und brutalffen Steuerreform in Deutschland . Jetzt verlangt auch Brüning die Kopffteuer.
Am 14. September wird abgerechnet! Mit dem Nazi- Frid, mit dem Zentrums- Kanzler Brüning, mit dem Demofraten Dietrich, mit allen, die das Cehte aus einem hungernden und darbenden Bolte auspressen, um den Besitz zu schonen. Paul Franken ( Zeitz ).
Eine für beide Geschlechter geltende Junggesellensteuer ist in Frankreich bereits seit 1920 eingeführt, um die Ehescheu zu betämpfen mit dem Erfolg, daß die Zahl der Junggesellen und Junggesellinnen ständig zunimmt!
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