Frauenstimme
Nr.23-47.3ahraang
Beilage zum Vorwärts
19. November 1930
3m Kampf gegen das Elend.
Fern vom Lärm des Tages fämpft eine festgeschlossene Front unermüdlicher Menschen gegen die grauenhaftesten Exzesse der Armut und des Elends, fucht mit unzureichenden Mitteln wenigftens die heranwachsende Jugend aus der schlimmsten Not zu reißen, vor Verwahrlojung und Verbrechen zu retten. Das sind die Pflegerinnen und Pfleger der Jugendämter, Menschen, die ihr Leben bazu nügen, gefährdete Leben zu bewahren, Licht zu bringen in die büsteren Stätten, in die teine Sonne dringt. Groß wie die Not ist das Feld der Arbeit dieser Pfleger; am größten naturgemäß da, wo die Armut vorwiegend ihre Quartiere hat. In Berlin beifpielsweise hat es zu Zeiten allein im Bezirk Wedding vierzig tausend Arbeitsloje gegeben.
Sechsunddreißigtausend Schulkinder gehören in den Bereich dieses Jugendamtes.
Bie groz die Not hier ist, das mag allein die Tatsache beweisen, daß in der Zeit der Inflation jeder zweite Mensch hier aus öffentlichen Mitteln unterstützt wurde. Noch vor einiger Zeit gab es hier eintausend erwerbslose Jugendliche.
Dreißig Pfleger und Pflegerinnen arbeiten in diesem Bezirk. Jebe Pflegerin hat durchschnittlich dreihundert Familien zu betreuen. Was sie zu leisten hat, fann man sich erst dann ungefähr vorstellen, wenn man sie einmal auf einem ihrer allzeit schwierigen Gänge begleitet.
In jeder Wohnung, in jeder düsteren Stube hat die Pflegerin ein anderes Stüd Elend zu bekämpfen. Da gehen die Kinder nicht zur Schule; dort sind Familienstreitigkeiten zu schlichten, hier Berbrechen zu verhüten oder ihre Folgen zu tragen; dort muß man die Kinder den Eltern abnehmen und da wiederum sind
die ttlichen Zustände grauenerregend.
Oft ist der Anblick der helfenden Frau nicht beliebt. 3war gibt es Leute, bie fie mit dankerfüllten Augen freundlich grüßen; oft aber auch mintt ihr ein drohendes Rüchenmeifer, und nicht felten folgt unfrommen Abschiedswünschen ein Kübel Falten Waffers hinterher. Besonders, wenn den Eltern wegen Unzuverlässigkeit das Gorgerecht über ihre Kinder entzogen werden muß, dann seht es Dit recht schwere Kämpfe mit rabiaten Bätern und hysterischen Müttern.
Hier", sagt die freundliche Pflegerin, die ich begleite, vor einer triften, schmutzigen Wohnung, hier hätte ich beinahe einmal ordentlich mit einem Krüdstod abbekommen. Hier hauste ein Kriegs. beschädigter, schwer tuberkulos. Mit seiner Stieftochter hatte er drei Kinder. Alles hauste in einem Zimmer. Die Kleinste brachte ich in Fürsorgeerziehung. Das wäre mir fast schlecht bekommen. Aber ich war stärker als der Mann."
Ich habe sogar zwölfjährige Mätter.
Und was ich bitte Sie foll einmal aus den Kindern dieser Rinder werden?"
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Wir kommen an einem Milchladen vorbei. Da arbeitet ein Kleines Wejen.- ,, Das ist auch ein Mündel von mir. Neunzehn Jahre alt und wiegt fünfundfiebzig Pfund. Durch Zufall habe ich festgestellt, daß es schwere morphinistin ist. Sie muß irgend wo einen Apotheker haben. Aber ich kann den Menschen nicht aus. findig machen." Weiter geht es Haus um Haus, Not an Not. ,, Hier wohnte eine Familie mit acht Kindern. Kinder aus der ersten Ehe des Mannes, Kinder aus der ersten Ehe der Frau, Kinder aus der Ehe der Beiden. Was die alles angestellt haben, das fönnen Sie sich gar nicht vorstellen. Das Gericht hat Strafen gefällt wegen HomoTochter, wegen Kuppelei, wegen Abtreibung. Und da wuchsen tie Jerualität, wegen Bergehens des Vaters an seiner unmündigen
Kinder auf.
Wir haben sie schließlich alle acht in Fürsorgeerziehung geben müssen."
Unendlich viel Schuld trägt die her geradezu grauenhafte Wohnungsnot. Ganze Familien, mehrere Generationen oft, hausen in einem Zimmer, in einem Bett. Wenn man das mit anJehen muß, dann wundert man sich über nichts mehr.
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,, Und doch", ergänzt meine Führerin, gibt es auch Fälle, in denen die Wohnungsnot nicht verantwortlich zu machen ist. Ich will Ihnen einen Fall erzählen, der mir viel Arbeit gemacht hat.
Die fünfzehnjährige Tochter eines hochgeachteten Rettors stahl in Nachhilfestunden, die sie gab. Um die Fürsorgeerziehung zu vermeiden, gab der Bater fie in ein Schweizer Ben-. fionat. Auch da tat sie nicht gut. Ging fort. Sam aber nicht wieder heim. In Freiburg fanden wir ihre Spur. Die Fünfzehnjährige, die außerordentlich start entwickelt, mindestens wie neunzehn, zwanzig Jahre alt aussieht, hatte nachgewiefenermaßen mit mindestens fünfzehn jungen Leuten gegen Entgelt verfehrt, mehrere angesteckt und lag ein halbes Jahr schwer frant in Freiburg . Eine Pflegerin brachte sie zu uns.
Kaum war sie da, so rückte sie wieder aus. In der Friedrichstadt lebte sie als Prostituierte. Ich machte das Café ausfindig, in dem sie verkehrt, und ging mit einem Bileger bin. Eine Kollegin von mir rief uns auf die Straße heraus und übergab uns einen Zettel von Ilse. Sie täme nicht in das Café, da sie uns gesehen habe. Ich suchte sie in verschiedenen Raschemmen. Sie ließ mir sagen, daß sie sich die Haare babe schneiden und färben laffen und meine Bemühungen zweckles feien. Die Polizei fucht fie. se ist nicht zu finden."
,, Unsere Arbeit hat Grenzen,"
Sittlichkeitsverbrechen find hier eins der traurigften, leider nicht feltenen Kapitel. ,, Neulich hatten wir in einer einzigen Woche zehn Fälle von Gittliteitsverbrechen an fagt die Pflegerin mit einer gewiffen Resignation. Bir können
fleinen Kindern, allein in meinem Bezirk."
Jedes Haus, jede schmukige Mauer erinnert die Frau an irgendeinen traurigen Fall.
fange nicht so viel tun, wie wir wollen, und wie notwendig wäre. Zu allererst aber müßten menschenwürdige Wohnungsverhältnisse de sein. Dann würde vieles nicht geschehen. Das Traurigste aber ist, daß auch dann, wenn wir diese armen Kinder in Fürsorge bringen, erst der fleinste Teil getan ift. Mit einundzwanzig Jahren werden alle wieder der Gesellschaft
Sehen Sie, hier wohnt ein Trunkenbold. Seine erste, ordentliche Frau ging von ihm fort. Das Kind blieb bei ihm Er beiratete wieder eine ordentliche Frau, die früh arbeiten ging. Er selbst war arbeitsunfähig. Das zwölfjährige Mädchen schlief in der Rize zwischen| zurückgegeben. Wir Fürsorger schreien nach einem Be.
den Betten der Beiden. Nach zwei Jahren bekommt das Mädchen ein Kind. Zwei Jahre lang hat es ein Verhältnis mit dem eigenen Bater gehabt. Es fonnte selbst nicht unterscheiden, was väterliche Liebe, was Trieb war, Sie hat ihren Vater sehr gern gehabt. Jetzt ift fie in Gürsorgeerziehung. Es ist leider nicht die einzige vierzehnjährige Mutter, die ich in meinem Bezirk habe.
wahrungsgeseh, das die Gesellschaft vor asozialen Elementen
schützt."
Aber, das ist die bittere Frage, die einem auf den Lippen lastet: Sind denn die Asozialen aus freien Stücken so geworden? Hat sie nicht grenzenloses Elend erst bahin gebracht?.. M. Mohr,