Für unsere Kinder
Nr. 12 ooooooo Beilage zur Gleichheit ooooooo 1909
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Inhaltsverzeichnis: Strenge Barmherzigkeit. Bon Abraham Emanuel Fröhlich.( Gedicht.) Einer, der start werden wollte. Von Rob. Größsch. Am Fuchsbau. Von einem westfälischen Arbeiter. Schwere Pflicht. Von G. W.( Gedicht.) Die Korallen. Von Karl Ewald. ( Fortsetzung.) Die Prinzessin, die immer das letzte Wort haben wollte. Hör zu!( Gedicht.)
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Strenge Barmherzigkeit.
Bon Abraham Emanuel Fröhlich.*
Das Tal schreit auf zum Föhn: Was wirft dein wild Gestöhn Lawinen ab den Höhn, Die Bäche zu empören, Die Matten zu zerstören? Kannst du denn nicht gelind Den Winterschnee zertauen?"
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Nein," ruft der Frühlingswind, Tief liegen noch die grauen Schneewolten in dem Land; Groß ist der Widerstand, Mit dem die Norde kämpfen. Wollt' ich sie gütlich dämpfen, Und sollte nur gemach, Tropfweise nach und nach
Der Schnee geschmolzen werden, Würd's maien nicht auf Erden. Des Kampfgetümmels Spuren Dec' ich mit grünen Fluren!"
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Einer, der stark werden wollte.
Alois Steinbeiß hatte wirklich kein angenehmes Los. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung mußte er an einer hohen Steinwand sitzen und mit Fäustel und Meißel Steine losbrechen. Und wenn die Sonne sich wieder nach Westen hinuntersenfte, wurde Alois Steinbeiß meist so müde und schwach, daß ihm sein eisernes Werkzeug aus der entTräfteten Hand fant.
Niedergeschlagen machte er sich allabendlich auf den Heimweg und fürchtete sich vor den Anstrengungen des nächsten Tages. Manch mal auch flagte er leise seines Wegs dahin: „ Wenn ich nur wüßte, wie ich stark werden
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tönnte!"
Und als er eines Abends so jammernd mit matten, frummen Gliedern nach seiner Woh nung wanfte, sah er am Waldesrand unter Erlengebüsch einen Menschen liegen, der war groß, rund und besaß volle, breite Schultern. Wenn ich werden könnte wie der, dachte Alois, und stieß den Schlummernden leicht mit dem Fuße.
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" Dooaaääb," gähnte der Dice unheimlich, verzog den breiten Mund und lallte: Laẞt mich schlafen, Kreuzteufel noch einmal!"- Alois jedoch gab teine Ruhe, sondern schrie dem Dicken ins Ohr:" Sag' mir, wie ich so start werden kann, wie du bist!"- ,, Dooaaääh! Schlafen, schlafen," meinte der faul, drehte sich auf die andere Seite und schnarchte, daß die Erlen zitterten.
Alois ging erleichtert nach Hause und schlief seit diesem Begebnis, wann immer er fonnte. Er dehnte sich oft daheim noch auf dem Stroh sack, wenn andere Leute sich bereits das Whittag essen erarbeitet hatten. Oder während der Arbeit legte er plötzlich das Werkzeug bei seite, streckte sich auf die Steine und schlief. Er wurde dicker, runder und konnte die Ars beitshose bald nicht mehr über dem Bauche zuknöpfen, aber träftiger wurde er trok allem nicht. Der Steinhaufen, den er täglich von der Wand zu brechen hatte, wurde immer fleiner, die Steinstücke wurden immer winziger. Herr Steinbruch, bei dem Alois in Lohn stand, sagte deshalb einmal vorwurfsvoll:„ Aber Steinbeiß! Jezt hauen Sie ja täglich gar nur eine Viertelwagenladung von der Wand!"
Als Alois einige Stunden später mit betrübt hängendem Kopfe nach Hause ging, gewahrte er einen Mann, der mit vorgestrecktem Leib einen schweren Wagen die Landstraße entlang zog." Hör mal," sprach Alois den an, sag' mir, wie ich so start werden kann, wie du bist."
Da hielt der Mann im Ziehen inne, setzte
* Der Schweizer Dichter Fröhlich lebte von 1796 sich auf die Wagendeichsel, hob seine rote Nase
bis 1865.
schmunzelnd in die Luft, zog ein gefülltes