Für unsere Kinder

Nr. 18 ooooooo Beilage zur Gleichheit ooooooo 1909

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Das Wild­

Inhaltsverzeichnis: Waldeslehre. Von Robert| die Eltern unserer Liesel wohnten. Der Bater Seidel.( Gedicht.)- Der erste Kampf ums Recht. litt an einer unheilbaren Lähmung. Er konnte Von Emma Döly. Eine Floßfahrt auf dem nicht arbeiten, fonnte nichts verdienen und Main  . I. Würzburg. Von Heinr. Wandt. Das brauchte fortwährend Pflege. Die Mutter Kind. Von Fr. Hebbel.( Gedicht.) weiblein. Von Jan Herben  . Aus dem Tschechischen mußte für alles sorgen, was die Familie übersetzt von Otto Pid.( Schluß.) Das Liebes- brauchte. Von der Gemeinde erhielt sie nichts als das kleine Stübchen im Armenhaus. Da paar. Ein Märchen von H. C. Andersen. Tanzlied. Von Franz Mäding.( Gedicht.) schaffte denn die Mutter Werktags und Sonn­tags, schaffte, kaum daß die Sonne über den Wald emporstieg und wenn schon längst die Sterne am Himmel zum Giebelfenster hinein­blinkten.

Waldeslehre.*

Uon Robert Seidel.

Was der Einheit Kraft vermag, Wenn die Donner krachen, Lehrt der Wald bei Nacht und Tag Allen Kleinen und Schwachen.

Steht ein Baum allein im Feld, Kann er Stand nicht halten, Doch vereint im Waldeszelt Trotzt er Sturmsgewalten.

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Der erste Kampf ums Recht. Frühling war's wieder. Die Sonne schien so hell und warm. Man fonnte sich gar nicht denten, daß vor wenigen Wochen noch Schnee gelegen hatte und der talte Nordwind durch die Kleider bis auf die Haut gefahren war. Alles hatte jetzt ein vergnügtes Gesicht. Die junge Saat streckte ihre Halme freudig empor; an den Zweigen sprangen die ersten Blatt tnospen auf, und darüber jubelten die Lerchen. Auch Liesel freute sich, und sie hatte wohl die meiste Ursache dazu. Ihre Kleider waren abgenutzt und dünn, so daß Frost und Wind den mageren Körper ungehindert schütteln konnten, und wie oft war ihr ein Holzpantoffel im tiefen Schnee stecken geblieben! Liese! hatte einen weiten Schulweg. Eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt, draußen beim Kirchhof, lag das Armenhaus, in dessen Giebelstube die

* Aus Lichtglaube und Zukunftssonnen". Ge­dichte von Robert Seidel, Zweiter Band. Verlag: Buchhandlung Vorwärts, Berlin  . Das Buch ent­hält viel Gutes, das aus der Gedankenwelt des

tämpfenden Proletariate emporgeblüht ist

Was unter ihren fleißigen, flinten Fingern entstand, war ganz dazu angetan, Kinder­herzen zu erfreuen. Liesels Mutter fleidete Puppen an, niedliche hübsche Büppchen mit Lockenköpfen und Schließaugen: Knaben in Matrosenanzügen, Stadtdamen und Bäuerin nen in Tracht. War das eine bunte Herrlich­feit! Wie gern hätte Liesel ein solches Püpp­chen genommen und damit gespielt, und ihre Schwester auch. Aber die beiden durften nicht spielen, sie mußten der Mutter bei der Arbeit helfen.

Die Mutter überbürdete sich selbst und die Kinder, um nur die größte Not abzuwehren. Trotzdem war oftmals Schmalhans Küchen­meister, das könnt ihr euch denken. Daher fam es wohl auch, daß die elfjährige Liese wie eine Neunjährige aussah. Aber wenngleich fie so mager war, daß die Leute sagten, sie bestände nur aus Haut und Knochen, war sie doch fräftig und gewandt. Mehrmals in der Woche, bei Regen, Sturm oder Sonnenschein, mußte fie in einem hochbepackten Tragforb die fertige Arbeit der Mutter zwei Stunden weit nach der Stadt tragen. Das hatte ihr eine zähe Kraft gegeben. Die Kälte des Winters hatte ihr arg zugesetzt. Doch jetzt war Frühling, die Sonne schien, und die Liefe lachte.

Ungefähr in der Mitte zwischen Dorf und Armenhaus lagen vereinzelt drei Gehöfte. Ge­wöhnlich legten die Kinder, die dort wohnten, den Weg zur Schule und von da nach Hause zusammen mit den Mädchen und Jungen aus dem Gemeindehaus zurück. Im Sommer

haschten und neckten sich die Kinder, im Winter drängten fie fich aneinander, unwillkürlich eins beim anderen Schuh suchend. So war es ge­

wesen, allein jetzt war es anders geworden.