muhungen, Erleichterung zu schaffen, dem Tropfen Wasser auf einem heißenStein glichen, daß sie in derlleberzeugung von derNothwendigkeit einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung bestärkt wurden. All den Mädchen und Frauen, die„unter das Volk" gingen, war mithin die Propaganda der sozialistischen Idee die Hauptsache, von ihr erwarteten sie eine gesellschaftliche Wiedergeburt des Landes. In der Stube, wo sie ihr Quartier aufgeschlagen, in der sußigen Hütte eines Bauem, oft auch auf einem freien Platz mitten im Dorfe sammelten sie Leute aus dem Volke um sich, lasen sie ihnen sozialistische Broschüren vor, erklärten sie diese, suchten sie durch Lieder und Gedichte die frohe Botschaft von der Berufung Aller zum Glück in einer umgestalteten Gesellschaft in Herzen und Köpfe der Armen und Elenden zu tragen. Sie kannten bei ihrem Propagandawerk keine Ermüdung, keine Entbehrung war ihnen zu groß, kein Opfer zu schwer. Um des Volks, um ihrer Mission willen gaben sie mit freudiger Genugthuung Alles preis, was ihnen im Leben früher lieb und theuer gewesen war, sie fanden nur in Einem Befriedigung: in dem Bewußtsein, ihre Pflicht den Mühseligen und Beladenen gegenüber gethau zu haben. Und die Erfüllung dieser ihrer Pflicht war oft sehr schwer. Der Boden, den sie für den Sozialismus bestellen wollten, war in Folge Jahrhunderte langer Vernachlässigung meist rauh und hart. Der russische Bauer hoffte nicht mehr auf Erlösung, er mißtraute den„Herren" und„gnädigen Frauen," die zu ihm kamen, er brachte ihren Bestrebungen Gleichgiltigkeit und Stumpfsinn entgegen. Die Pro- pagandistinnen lernten die Bitterniß vergeblichen Mühens und Ringens, des Verkanntwerdens der edelsten Absichten kennen, sie wurden von denen, die sie retten wollten, oft mit Feindschaft, mit Denunziation gelohnt. Dies Alles vermochte nicht ihren Eifer zu lähmen, ihre Begeisterung erkalten zu machen, sie setzten ihr Werk mit der Ueberzeugungstreue, dem Entsagungsmuth von Aposteln fort. Als die Regierung voller Furcht vor den Wirkungen der »sozialistischen Pest" Propagandisten und Propagandistinnen in den Riesenprozessen der 50 zu Moskau , der 193 zu Petersburg vor Gericht stellte, als hier die Einzelheiten über Leben und Wirken der jungen Mädchen und Männer bekannt wurden, als diese mit Worten voll flammender Begeisterung ihre Ueberzeugungen und Ziele darlegten, da hatte die bürgerliche Presse und Gesellschaft Rußlands nur ein Urtheil:„Das sind keine Missethäter, das sind Heilige." Die despotische Regierung des Zaren ging von da an mit steigender, unerhörter Brutalität und Grausamkeit gegen die durchaus friedliche Propaganda und ihre Träger vor. Hunderte von jungen Leuten und jungen Mädchen wurden ohne Prozeß, ohne Ver- urthcilung in die scheußlichsten Gefängnisse geworfen, nach Sibirien geschleppt, in die öden nordischen Provinzen verbannt, ihren Familien und Freunden entrissen, unter Polizeiaufsicht gestellt, gemiß- handelt, wie nie gemeine Verbrecher gemißhandelt worden waren. Spitzel und Polizisten hefteten sich an die Fersen der Propagandisten und Propagandistinnen, machte ihnen das Wirken unter dem Volk geradezu zur Unmöglichkeit. Unter solchen Verhältnissen sahen die russischen Revolutionäre ein, daß sie die Form des Kampfes für eine neue Gesellschaft ändern mußten. Sie wurden von ihrem übermächtigen Gegner gezwungen, auf den Druck durch Gegendruck Zu antworten. Waren die Polizisten, hohe wie niedere, ihre unversöhnlichen Feinde, die sie zu Tode hetzten, so mußten auch sie zu keinen Pardon kennenden Gegnern der Polizisten werden. Die wilde Hätz gegen die idealen, friedlichen Propagandisten riefen die Attentate gegen Spione, Gensdarmen und deren Chefs hervor. Auf den weißen Schrecken seitens der Regierung folgte der rothe Schrecken seitens der Revolutionäre, der zuletzt, wie dies dem persönlichen, absolutistischen Regiments des Zaren gegenüber uahe lag, in einen Kampf gegen die Person des russischen Selbstherrschers gipfeln mußte. So trat unter dem Gebot der Nothwehr der Terrorismus an Stelle der Propaganda. Auch an den terroristischen Kämpfen der russischen Revolutionäre uahmen die Frauen einen hervorragenden Antheil, setzten sie Leib und Leben für ihre Ideen aufs Spiel. Frauen streiften als Sendboten der revolutionären Organisationen unter tausenderlei Gefahren' und Schwierigkeiten durch das Land, vermittelten den Verkehr von Gruppen und Personen miteinander, gewannen neue Anhänger,. sammelten Mittel, schloffen sich monatelang in den ungesunden, oft in Kellern gelegenen geheimen Druckereien ein, wo sie die revolutionären Propagandaschriften, die Proklamationen des revolutionären Exekutivkomites herstellten, nahmen an den gefährlichsten Berathungen Theil, forderten bei den schwierigsten, anstrengendsten, Körper und Geist verzehrenden Unternehmungen ihren Platz, waren oft Kopf und Arm, leitender Gedanke und ausführende Kraft der revolutionären Streiter. Was sie auch thaten, sie thaten es einfach und schlicht, ohne Aufhebens, ohne Rühmens, wie etwas Alltägliches und Selbstverständliches, wie eine Pflicht, deren Erfüllung Herzenssache ist. Dutzende um Dutzende von ihnen fielen den polizeilichen Schergen in die Hände, wurden moralisch und körperlich zu Tode gemartert und starben am Galgen, aber Kämpferinnen um Kämpferinnen drängten sich in die gerissenen Lücken und füllten die Reihen. Frauen wie Perowskaja, Helfmann, Sassulitsch , Aigner, Bardina, Subotina und andere haben als Vorkämpferinnen der Volksfreiheit in Rußland gelebt und gehandelt, sind als Märtyrerinnen derselben gefallen und verdienen dankbare Erinnerung, wo immer auch für die Befreiung der unteren Klassen gekämpft werden mag. Ein so guter Kenner der russischen revolutionären Bewegung wie Stepnjak bemerkt treffend, daß diese ihren fast religiösen Charakter den Frauen verdankt, die an ihr Antheil nahmen, die heilige, läuternde Flamme der Begeisterung in sie hineintrugen. Als nach der Hinrichtung Alexander II. und nach etlichen anderen, meist verunglückten Attentaten, die Zeit des Terrorismus ihren Abschluß fand, als die revolutionären Streitkräfte erschöpft waren, sich wieder sammeln und zählen mußten, da blieben die Frauen nach wie vor der Bewegung treu und stellten ihr Sein und Können in deren Dienst. Das Heldenmädchen Sophie Günzburg, das im letzten Jahre in einem der höllischsten Gefängnisse des Zarenreichs unter Aufbietung ungewöhnlicher Energie durch Selbstmord endete, um nicht in Augenblicken geistiger Umnachtung die Kameraden den Henkern auszuliefern, ist der beste Beweis dafür, daß die russischen Frauen nicht darauf verzichtet haben, in dem Kampf für die Freiheit in den vordersten Reihen zu stehen. Wenn heute in Ruß land der Despotismus fällt und politische Bewegungsfreiheit gegeben wird, da wird man in Rußland eine Frauenbewegung, eine An- theilnahme des weiblichen Geschlechts an der Ausgestaltung des öffentlichen Lebens sehen, wie in keinem zweiten Lande. Es sei noch bemerkt, daß sich die russischen Revolutionärinnen mit wenig Ausnahmen, wie Jessa Helfmann und etliche Andere, aus den Schichten der Besitzenden und Gebildeten rekrutirten. Dieser Umstand erklärt sich aus den politischen Verhältnissen des Landes. Sie haben zur Folge, daß nicht nur die breiten Massen des Volks, sondern auch die Klassen der Reichen und Gebildeten unter dem Drucke des Despotismus, der Selbstherrschaft des Zaren seufzen. Nun stehen Erstere unter einem doppelten Joch, dem wirthschaftlichen, das noch härter auf ihnen als auf ihren proletarischen Brüdern Westeuropas lastet, und unter dem der politischen Tyrannei, die ihnen den Kampf so gut wie unmöglich macht. Letztere dagegen sind in Gestalt ihrer Bildung, einer Folge ihrer größeren wirthschaftlichen Unabhängigkeit, mit einer dem Volke mangelnden Waffe ausgerüstet, die ihnen ermöglichte, bisher im Kampfe gegen den Despotismus eine hervorragende Rolle zu spielen. Anders liegen die Dinge in Deutschland , in Westeuropa . Hier haben die sogenannten gebildeten Klassen, Adel und Bürgerthum, alles Interesse an der Fortdauer der bestehenden politischen Verhältnisse. Hier liegt weder für deren männliche noch weibliche Angehörige ein Grund vor, das Proletariat in seinem Kampfe gegen die herrschende Gesellschaftsordnung zu unterstützen, im Gegentheil haben sie alles Interesse daran, diesen Kampf zu hindern. Die deutschen Proletarierinnen werden nicht das Schauspiel erleben, daß Hunderte und Tausende der Frauen der Oberen Zehntausend in ihre Reihen treten und ihnen durch ihr Beispiel nicht nur zeigen, wie man für eine Idee mit Würde stirbt, sondern auch— was oft weit schwerer— wie man tagaus tagein für eine Idee lebt und kämpft, wie dies die russischen Revolutionärinnen gethan. Die deutschen Proletarierinnen sind für ihren Befreiungskampf— von Ausnahmen abgesehen— einzig und allein auf ihre Klassengenossen und Klassengenossinnen angewiesen.
Ausgabe
2 (11.1.1892) 1
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