Nr. 18 der ,, Gleichheit" gelangt am 7. September 1892 zur Ausgabe.
Publikum der sozialistischen Prinzipienerklärung, der ersten, welche in Rußland vor der Deffentlichkeit formulirt wurde, und die so wenig den Angaben entsprach, welche die Regierung im Betreff des Sozialismus verbreitet hatte. Die Seelengröße, der schrankenlose Idealismus der Angeklagten trugen das Ihrige dazu bei, diesem und der Bewegung Sympathien zu gewinnen. Sogar die Richter schienen von der Haltung und den Worten Sophie Bardina's und ihrer Genossen ergriffen und unschlüssig mit dem Urtheilsspruch zu zaudern, als das junge Mädchen seine Rede mit folgenden Worten geschlossen hatte:
„ Nachdem ich alle Verbrechen untersucht, deren ich angeklagt werde, finde ich, daß ich mich keines einzigen derselben schuldig gemacht habe. Wie dem aber auch sei, welch Loos mir auch bevorstehen mag, ich bitte, meine Herren, nicht um Gnade, ich will keine Gnade von Ihnen. Verfolgen Sie uns, wie Sie wollen, Sie haben ja die materielle Macht, meine Herren! Aber wir besigen für uns die sittliche Macht, die Macht des geschichtlichen Fortschritts, die Macht der Idee, und Ideen- oh!- Jdeen lassen sich nicht mit Bajonetten niederstechen!"
Sophie Bardina wurde zu 9 Jahren Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken verurtheilt und später zu lebenslänglicher Deportation nach Sibirien „ begnadigt." Sie ward nach Ischim in Sibirien verschickt. Während der ersten Zeit der Verbannung schien sich ihr Leben leidlich gestalten zu wollen, aber bald bot die Polizei des Ortes Alles auf, das junge Mädchen zu chikaniren, von den Menschen, von der ganzen Welt abzuschließen. Vier Jahre lang führte Sophie Bardina unter Entbehrungen, Mühsalen, Kümmernissen, deren größte war, daß sie nichts für die Sache wirken konnte, ein
freudeloses Dasein, welches ihre ohnedies schwache Gesundheit gänzlich
untergrub. Ihre feurige, energische Natur fonnte schließlich das Leben fern von dem Kampf, fern von der Bewegung, nicht länger ertragen. Sie machte deshalb im Jahre 1880 einen Fluchtversuch,
welcher glückte.
Kaum war Sophie Bardina nach dem europäischen Rußland zurückgekehrt, so warf sie sich sofort in den Strom der Bewegung. Allein bald machte sie eine furchtbare, geradezu niederschmetternde Entdeckung: die Kräfte ihres Körpers waren aufgebraucht, gehorchten ihrem Willen nicht mehr, sie mußte sich eingestehen, daß sie, schwach und kränklich, nicht im Entferntesten zu leisten vermochte, was sie leisten wollte, und was die Freunde von ihr erwarteten. Vergebens riefen sie die Gesinnungsgenossen nach Petersburg , sie verbarg sich in einem entlegenen Nest, um ihre Gesundheit wieder herzustellen. Wie aber sollte sie hier, vereinsamt, frant, ohne Mittel, ohne Unterstützung und in verzweifelter Stimmung gesunden und zu förperlicher und geistiger Kraft erstarken? Anderthalb Jahre wanderte sie durch Ruß land hin und her, sich in dem Bemühen verzehrend, mit der alten Energie in den Kampf für die Befreiung des Volkes einzutreten. Als sie sich von der Aussichtslosigkeit ihres Ringens überzeugt hatte, gab sie dem Drängen ihrer Freunde nach und ging zu ihrer Wiederherstellung ins Ausland, in die Schweiz . Nur als ein Schatten ihrer selbst kam sie hier an. Die von hochgradigster Blutarmuth herrührende Schwäche und Nervenzerrüttung war so groß, daß sie beim Lesen auf den ersten Seiten eines Buches einschlief. Sophie Bardina mußte sich sagen, daß ihr Leben für die Sache verloren sei, daß sie nie wieder für diese wirken könne. So blieb ihr, ihrem Charakter entsprechend, nur eins zu thun übrig: den Platz zu räumen, der für sie nicht mehr ein Arbeitsplatz, ein Kampfplatz sein konnte. In diesen Schlußfolgerungen war der unvermeidlich tragische Ausgang der Frau gegeben, deren ganzes Leben, von dem Augenblicke an, wo sie selbstständig zu denken angefangen, selbstloses Wirken für Andere gewesen.
Am 25. April versuchte Sophie Bardina in Genf ihrem Leben durch Erschießen ein Ende zu machen. Zweimal versagte ihr der Revolver den Dienst, zum dritten Mal traf die Kugel, tödtete aber nicht, sondern drang nur bis ans Herz. Die Verwundete lebte noch fast zwei Wochen unter den entsetzlichsten Qualen, die sie ohne einen Laut der Klage, mit stoischer Ruhe und Geduld ertrug. Nur der Wunsch kam über ihre Lippen,„ daß es schneller zu Ende gehen möge." Nach 13tägigem furchtbaren Todeskampf hatte endlich die edle Kämpferin für Volksfreiheit ausgelitten. Sie starb, wie sie gelebt, in der festen Ueberzeugung von dem endgiltigen Sieg der Sache, der sie den besten Theil ihrer Kräfte geweiht hatte, und für die sie nicht vergeblich gelitten und gewirkt hat.
Nach jahrelanger Unterbrechung sind die russischen Proletarier wieder an die Aufgabe herangetreten, an deren Lösung Sophie Bardina mit gearbeitet hat, zu deren Lösung sie Arbeiter und Arbeiterinnen heranziehen und erziehen wollte. Rüstig schreiten sie auf dem Weg vorwärts, den ihnen die ideale Propagandistin mit zuerst gezeigt, und der durch Wissen und Macht, durch Aufklärung und Organisation in
144
das Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit führt, das durch die wirthschaftliche Entwicklung vorbereitet ist. Schulter an Schulter mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder, mit dem internationalen Proletariat, marschiren sie dahin, wie dies die Feier zu Gunsten des Achtstundentages seitens Petersburger Arbeiter am 1. Mai 1891 bewiesen. Sophie Bardina werden sie, werden die Proletarier aller Länder immer als eine selbstlose Vorkämpferin für die Interessen und die Befreiung der enterbten und versflavten Masse ehren. A. Issajew.
In den Tagen vom 16. Oftober ab findet in Berlin der diesjährige sozialdemokratische Parteitag statt. Auf seiner Tagesordnung stehen folgende Punkte:„ Geschäftsbericht des Parteivorstandes; Bericht der Kontroleure; Bericht über die parlamentarische Thätigkeit der Reichstagsfraktion; die Maifeier 1893; der internationale Kongreß in Zürich ; das Genossenschaftswesen; die wirthschaftliche Krise und ihre Folgen; der allgemeine Nothstand; der Antisemitismus und die Sozialdemokratie; Berathung derjenigen Anträge der Parteigenossen, welche bei den voraufgehenden Punkten der Tagesordnung nicht bereits ihre Erledigung gefunden haben; Wahl der Parteileitung und Bestimmung des Orts, wo sie ihren Siz zu nehmen hat."
Bei der großen Wichtigkeit, welche ein sozialdemokratischer Parteitag für die Arbeiterinnen hat, werden wir uns noch eingehend mit den bevorstehenden Kongreß beschäftigen. Es wäre wünschenswerth und nothwendig, daß sich Deutschlands Arbeiterinnen recht rege an demselben betheiligten.
Kleine Nachrichten.
Der Berg des bürgerlichen Sittlichkeitsgefühls ist nach langem, schwerem Kreisen wieder einmal mit einem gar winzigen Mäuslein niedergekommen. In Berlin sind die Lokale mit Damenbedienung von der Polizei reglementirt worden. Natürlich respektiren die betreffenden Vorschriften Bordellwirthe, Kuppler und Kupplerinnen, denn diese sind sämmtlich Leute, die etwas vor sich gebracht haben." Dagegen sind die polizeilichen Maßregeln hauptsächlich gegen die armen Mädchen gerichtet, welche im Kellnergewerbe beschäftigt sind. Dieselben sind u. a. auch einer Art Kleiderordnung unterstellt worden. Ihre Kleider ,, müssen insbesondere am Halse geschlossen sein und mindestens bis zum Fußgelenk herabreichen," damit die so wackelige Tugend der Söhne und Väter angesehener Familien" nicht allzu leicht über den Haufen purzelt. Gewiß, den Vorschriften liegt eine löbliche Absicht zu Grunde. Warum aber kommt die nämliche
löbliche Absicht nicht zum Ausdruck gegenüber den Frauen und Töchtern unserer hohen Bourgeoisie und Aristokratie, die auf Festen und Bällen in Toiletten erscheinen, im Vergleich zu denen das bekannte Feigenblattkostüm unserer Stammmutter Eva als ein recht schützendes Kleidungsstück erscheint. Und warum greift man die Hebung der Sittlichkeit nicht beim rechten Ende an, bei einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Frauen des werkthätigen Volks? Um Antwort wird gebeten.
In Budapest beschloß anfangs Juli eine im Abgeordnetenhaus tagende Gesellschaft von Professoren und Schriftstellern die Gründung eines ungarischen Mädchengymnasiums. Das Gymnasium soll durch 9jährige Kurse auf das Studium an Hochschulen, besonders an den medizinischen und philosophischen Fakultäten vorbereiten, überhaupt die Grundlage einer guten, allgemeinen, modernen Bildung für Mädchen schaffen. Die erste Klasse der geplanten Schulanstalt wird in diesem Herbst eröffnet, sämmtliche Lehrkräfte, bekannte und zum Theil bedeutende Männer, haben sich für das erste Lehrjahr gänzlich unentgeltlich zur Verfügung gestellt.
Der serbische Finanzinspektor hat eine halbe Kompagnie weiblicher Zollbeamten angestellt. Dieselben sind als Beobachtungsposten an der österreichisch- ungarischen Grenze Serbiens aufgestellt und gehen als Schleichpatrouillen nach Semlin, um ein wachsames Auge auf die dortigen Damenhut, Gold- und Silbergeschäfte zu haben. Interessant wäre, zu erfahren, ob die weiblichen Zollbeamten die gleiche Besoldung wie ihre männlichen Kollegen erhalten, oder ob die Frauen nach echt kapitalistischer Weise als unterbezahlte Arbeitskraft verwendet werden. Wir möchten wetten, daß das Letztere der Fall ist.
-