Nr. 20.

Die

Gleichheit.

2. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Herausgegeben von Emma Ihrer in Velten ( Mark).

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr 2564 a) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.

Stuttgart

Mittwoch, den 5. Oktober 1892.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Mene Mene Tekel.

Die Cholera, das schwarze Gespenst, ist in Europa erschienen, und unsäglicher Jammer, unbeschreibliches Elend bezeichnet ihren Weg. In den und jenen Städten und Gegenden verhältnißmäßig mild auftretend, haust der unheimliche Gast seit langen Wochen am furchtbarsten in Hamburg . In der großen, reichen, vom cchten fapitalistischen Prozenthum beherrschten Handelsstadt hat die Seuche Zustände geschaffen, so grausiger Art, wie sie uns bisher nur aus Schilderungen der Pest im Mittelalter bekannt waren. Die düsteren Bilder, welche der italienische Dichter Manzoni in seinem geschicht lichen Roman Die Verlobten " mit überwältigender Naturtreue gemalt hat, sie erstehen in Hamburg zu lebensvoller, entseßlicher Wirklichkeit, wir finden sie daselbst sozusagen zu Fleisch und Blut verkörpert. Und im Gefolge des Massensterbens unter den schau­rigsten Umständen schreitet ehern das bitterste Massenelend daher, Hand in Hand mit der Cholera marschirt der Hunger.

All die moderne Wissenschaft, all die Errungenschaften der Stultur haben nicht vermocht, das Unheil zu bannen. Man fennt Man kennt heutzutage die Ursache der tückischen Seuche, man fennt Mittel, fie zu verhüten, ihrer Weiterverbreitung entgegen zu treten, man weiß, welche Umstände ihre Entwicklung begünstigen, ja geradezu heraus­fordern, und trotz alledem ist es möglich geworden, daß die Cholera in Hamburg wüthet, wie um Jahrhunderte zurück der schwarze Tod" gehaust.

Warum? Weil die heutige kapitalistische Gesellschaftsordnung dem weitaus größten Theil der Bevölkerung die Früchte der Kultur und Wissenschaft vorenthält, weil die werkthätige Masse in Arbeits­und Lebensverhältnissen dahinkümmert, welche im höchsten Grade gesundheitsgefährlich sind, und welche das Auftreten und die Ver­breitung der Seuche fördern mußten. Die Choleraepidemie in Hamburg gehört zu jenen Anzeichen, welche unseren gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen, welche der Bourgeoisie als herrschenden und ausbeutenden Klasse das Mene Mene Tekel schreiben.

Die ureigenste Lebensbedingung der kapitalistischen Gesellschaft, das ist die Ausbeutung der Masse: zu dem höheren" Zweck, etliche, rohe und halbgebildete Barvenüs in hervorragende Spinnerei­befizer, einflußreiche Schuhwichsfabrikanten und sehr große Wurst­macher" zu verwandeln. So hat der märchenhafte Reichthum der einigen Wenigen die ufernlose, trostlose Armuth der Vielen zur unvermeidlichen Voraussetzung. Die Leistungen des Gelehrten, des Arbeiters kommen nur als Waaren in Betracht, welche auf dem Markt mit möglichst hohem Profit in Geld umgemünzt werden können. So bleiben die Forderungen der Wissenschaft auf verbesserte hygienische Lebensbedingungen der Allgemeinheit todter Buchstabe, leerer Schall, so dienen die Kulturfortschritte nur der Millionärzüchterei. Die fapitalistische Gesellschaft erzeugt derart den Boden, auf welchem sich die Seime ansteckender Seuchen üppig entwickeln müssen.

Seit Jahrzehnten pfiffen es die Spaßen von allen Dächern, baß in Hamburg bezüglich der Wohnungsverhältnisse, der Wasser­leitung, der Kanalisation die schreiendsten Mißstände existirten. Die hochmögenden Pfeffersäcke, in deren Händen die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten ruht, hielten es nicht der Mühe werth,

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Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Fr. Klara Zetkin ( Eißner), Stuttgart , Rothebühl­Straße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

den ärgsten Uebeln ernstlich zu Leibe zu gehen. Hamburgs Ver­hältnisse den Anforderungen der Hygiene gemäß umzugestalten, für breite Straßen, gesunde, luftige Wohnungen, reines Trinkwasser und gute Kanalisation zu sorgen, das war den Herren nicht Es lebe unser Profit, wenn auch die halbe Be­profitabel. völkerung der Stadt an einer Epidemie zu Grunde geht," so dachten sie und ließen es hübsch beim Alten. Daß ferner die schlecht behausten, gekleideten und ernährten Volksmassen weit eher der Gefahr einer Seuchenansteckung ausgesezt sind, weit eher der­selben erliegen, ist männiglich bekannt. Wie hätte man aber den Hamburger Plusmachern zumuthen dürfen, mit Rücksicht auf diese Thatsache die Arbeitsbedingungen ihrer Lohnsklaven zu verbessern, sie weniger lang und weniger angestrengt arbeiten zu lassen, sie aber besser zu bezahlen? Die Vorbedingungen für die Ausbreitung der Cholera waren gegeben.

Als das schwarze Gespenst vor den Thoren der Stadt lauerte, da bewies die Bourgeoisie ihre ganze Unfähigkeit, die von ihr in blinder Profitwuth heraufbeschworene Gefahr zu bekämpfen, ihrer Herr zu werden. Aus elender Knauserei wurden die russischen Schiffe, von denen eine Ansteckungsgefahr drohte, nicht unter die nöthige Quarantäne gestellt. Aus främerhafter Rücksicht auf die Handelsinteressen ward die Thatsache zu verheimlichen gesucht, daß die Cholera in Hamburg wüthete. Und als die furchtbare Wahr­heit nicht länger vertuscht werden konnte, als die Menschen wie die Fliegen dahinstarben, da zeigte es sich erst recht, daß die über Wohl und Wehe der Stadt entscheidenden Vertreter der Bourgeoisie ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren.

Engherzig und furzsichtig beurtheilten sie die Situation unter dem Gesichtswinkel der kapitalistischen Interessen, nahmen sie zu kleinlichen Maßnahmen ihre Zuflucht. Sie wollten den Pelz des Kapitalismus von seinen Begehungs- und Unterlassungssünden waschen, ohne ihn naß zu machen. Die Seuche mußte bekämpft werden, ist sie ja respektwidrig genug, nicht immer vor den Palästen der Reichen achtungsvoll Halt zu machen; die Seuche mußte be= fämpft werden, schädigt sie ja wegen der mit ihr verbundenen Ansteckungsgefahr die Handelsbeziehungen, mithin die Profite der großen Kipper und Wipper. Aber diese Bekämpfung sollte mit möglichst geringem Kostenaufwand, unter Beobachtung weisester Spar­samfeit" geschehen. Sie sollte vor sich gehen, ohne daß das Progen­thum in erheblicher Weise zu Opfern" herangezogen wurde, d. h. ohne daß es in die Lage gerieth, einen winzigen Theil dessen fahren zu lassen, was es der Arbeiterklasse im Laufe der Zeit geraubt hat.

Der Senat glaubte damit ein Uebriges gethan zu haben, daß er 500 000 Mark zur Bekämpfung der Cholera bewilligte. Aerzte sind nicht entfernt genug vorhanden," heißt es treffend in einem Artikel der Neuen Zeit"*)," Wärter sind nicht entfernt genug vorhanden, Transporteure und Wagen sind nicht entfernt genug vor­handen, Krankenhäuser und Baracken sind nicht entfernt genug vorhanden, Desinfektionsmannschaften sind nicht entfernt genug vor­und handen, Polizeibeamte sind nicht entfernt genug vorhanden 500 000 Mart! Mit lobenswerther Beharrlichkeit wird gewarnt vor dem Genuß ungekochter Milch, ungekochten Wassers und unge­

*) Nr. 51, Die Cholera in Hamburg ."

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