Nr. 21 der ,, Gleichheit" gelangt am 19. Oktober 1892 zur Ausgabe.
füllung die Uebersiedlung des Königs nach Paris . Der Einfluß der Königin verhinderte in den Augen des Volkes die Verwirk lichung dieser Forderung, er verhinderte eine Umgestaltung der Verhältnisse zum Bessern. So kam es, daß am Morgen des 6. Oktober Volkshaufen in die Gemächer der Königin eindrangen. Erschreckt und um ihr Leben bangend flüchtete diese in die Zimmer des Königs, der, um die Menge zu beruhigen, sich auf dem Balkon zeigte, wo ihn der Ruf umbrauste:„ Nach Paris , nach Paris !" Dem Verlangen des Volks entsprechend mußte auch die Königin
auf dem Balfon erscheinen. Sie fam mit ihren beiden Kindern, und der Anblick bewirkte einen vollständigen Umschwung in der Stimmung der Menge. Zumal die Frauen sahen in Marie Antoinette nicht mehr die verhaßte, mit dem Auslande komplottirende Königin, sondern nur noch die Frau, die Mutter. Die ausgestoßenen Schimpfreden, Verwünschungen und Drohungen verstummten, die erhobenen Fäuste sanken herab, die eben noch leidenschaftlich zürnende Menge flatschte gerührt Beifall.
Nachdem das Ansinnen des Königs, die Nationalversammlung solle im Schloß weitertagen, mit Recht als eine Demüthigung der Volfsvertretung und Volksrechte zurückgewiesen worden war, gab endlich Ludwig XVI . dem ungestümer werdenden Drängen der Pariser nach und willigte in seine sofortige Abreise nach der Hauptstadt. Der Siz der Nationalversammlung ward daraufhin gleichfalls nach Paris verlegt. Die Menge begrüßte beide Entschlüsse mit ungeheurem Jubel.
Von hundert Abgeordneten, einem ganzen Heer von Soldaten und Nationalgarden und den fröhlich aufgeregten Volkshaufen um= geben, zog der König mit seiner Familie Paris zu. Auf der von strömendem Regen aufgeweichten Straße bewegte sich die königliche Karosse nur langsam vorwärts, einem Leichenwagen gleich. Und in der That, sie führte auch einen Leichnam, den Kadaver der alten absolutistischen Monarchie. Der Zug des Königs nach Paris bedeutete, daß Volkswille stärker war als Königswille.
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Trotz des schlechten Wetters herrschte rings um die Karosse ein gar bewegtes, heiteres Treiben. Zu Fuß, zu Pferd, in Wagen, auf Karren, auf Kanonen ſizend führten Pariser und Pariserinnen den„ guten Papa" in hellem Jubel nach der Hauptstadt zurück. Viele Frauen trugen Laibe Brot für die Daheimgebliebenen an der Spize ihrer Bife, andere wieder hatten dort herbstlich gefärbte Pappelzweige befestigt. Wir bringen den Bäcker, die Bäckerin, den Bäckerjungen," so tönte es fröhlich aus dem Haufen, wir bringen Brot für die hungernden Brüder." Nach der naiven Ueberzeugung des Volks zog mit dem König auch der Ueberfluß in Paris ein. Die nächste Zeit schon zeigte, wie irrthümlich diese Ansicht war. Nicht die Rückkehr des Königs, auch nicht die Zertrümmerung der alten feudalen Gesellschaftsordnung vermochte die Noth der Massen zu bannen. Mit der Umgestaltung der Gesellschaft, wie sie die Revolution bewirkte, hatte nicht die Ausbeutung des Volks ein Ende, nur in den Personen der Herrschenden und Ausbeutenden trat ein Wechsel ein.
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Die Fabrikbarone und Schlotjunker verstehen es ebenso gut, bielfach noch besser, als der mittelalterliche Raubadel, die breiten Schichten der Bevölkerung bis aufs Blut auszubeuten. So ist der Hunger deren Schicksal geblieben. Und nicht blos der Hunger nach Brot.„ Der Mensch lebt nicht von Brot allein," zumal der moderne Mensch nicht. Nicht blos der Magen, auch der Geist, auch das Herz der Mühseligen und Beladenen verlangt laut nach Befriedigung. Die Magenfrage," die gebieterisch ihre Lösung verlangt, ist zugleich eine Kulturfrage von höchster Tragweite. Die in materieller und geistiger Noth Darbenden unserer Zeit wissen sehr wohl, daß keine Kopie des Zugs nach Versailles , keine gute Absicht, kein starker Wille eines Mächtigen ihr Elend zu wenden vermag. Nur eine Umgestaltung der Gesellschaft aus einer kapita listischen in eine sozialistische kann ihnen die Erlösung aus Elend und Knechtschaft bringen, nur das klassenbewußte, organisirte, fämpfende Proletariat kann diese Umgestaltung vollziehen. Auf, Ihr proletarischen Frauen! Denkt Eurer Entbehrungen, denkt der Entbehrungen Eurer Lieben, zumal Eurer Kinder, schließt Euch den Schaaren an, welche im heraufdämmernden Morgen einer neuen Zeit entgegenziehen. Thut thatkräftig das Eure, wie Eure Schwestern des Pariser Volts das ihre gethan haben.
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Der Parteitag der deutschen Sozialdemokraten.
Der Parteivorstand macht bekannt, daß mit Rücksicht auf die zur Zeit noch herrschende Choleragefahr, welche in einer Reihe von Wahlkreisen die Beschickung des Parteitages unmöglich macht, beschlossen worden ist, den auf 16. Oktober d. J. nach Berlin be
rufenen Parteitag zu vertagen. Der Zusammentritt des Parteitages erfolgt, sobald in allen Wahlkreisen die Möglichkeit gegeben ist, Delegirte zu wählen und zu entsenden, und werden die Genossen hiervon rechtzeitig benachrichtigt werden.
Den Arbeiterinnen ist mithin noch weiter Gelegenheit geboten, sich über die auf der Tagesordnung stehenden Fragen zu belehren, bezw. mit eigenen Anträgen hervorzutreten. Wir veröffentlichen in der folgenden Nummer drei Anträge, welche der Verein sozialistischer Frauen und Mädchen Mannheims einzubringen beabsichtigt.
Kleine Nachrichten.
Nach den„ Statistischen Erhebungen über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Maurer Deutschlands für das Jahr 1890" - nebenbei gesagt, einer sehr tüchtigen, fleißigen Arbeit- mußten in 856 Maurerfamilien von 5800 die Frauen und Kinder zur Erschwingung des Lebensunterhaltes beitragen. In 833 Haushaltungen war die Existenz nur möglich, weil Landwirthschaft, in 385, weil ein anderes Nebengewerbe betrieben ward. Das heißt, daß von 100 Maurern 36 nicht mehr genug verdienen, um auf Grund ihrer Berufsarbeit eine Familie erhalten zu können. Wenn ein Nebenerwerb nicht Zuschuß liefert, so muß die Frau, so müssen die Kinder zum Erwerb heran. So zwingt das Kapital sämmtliche Glieder der Proletarierfamilie in seinen Dienst, um ihnen Mehrwerth auszupressen, und indem es die Frau aus einer Hauswirthin in eine Industriearbeiterin verwandelt, schafft es eine weitere jener revolutionären Kräfte, welche seiner Herrschaft ein Ende bereiten werden.
Die Arbeitslehrerinnen der Stadt Bern richteten kürzlich an die Gemeindebehörden ein Gesuch um Gehaltserhöhung. Gegenwärtig erhalten dieselben für ca. 170 jährliche Unterrichtsstunden nur 150 Frs. Gehalt, während ein Fachlehrer für Zeichnen 2c. wohl das Doppelte bezieht. Mag ein Privatunternehmer, mögen Staat oder Kommune in der kapitalistischen Gesellschaft weibliche Arbeitskraft ausbeuten, so wird diese stets als billigere, unterbezahlte Arbeitskraft verwendet, denn das Profitmachen auf Kosten der Arbeitsbienen bleibt hier wie da das Losungswort. Wollen die Lehrerinnen wirklich ihre Lage verbessern, wirthschaftlich ihre Lage der ihrer Kollegen gleichgestellt sehen, so müssen sie begreifen, daß sie Proletarierinnen sind, so müssen sie sich organisiren. Organisiren allerdings nicht blos in Unterſtützungsvereine und in allerunterthänigst verharrende" Petitionskränzchen, vielmehr in Kampfgenossenschaften, welche bessere Gehaltsbedingungen zu erzwingen verstehen.
Die bekannte französische Bildhauerin Frau Léon Bertaux hat sich um einen leer gewordenen Sitz im Institut de France beworben. Obgleich die Künstlerin alle Auszeichnungen der Salons und auf der Ausstellung von 1889 die goldene Medaille erhalten hat und einen wohlbegründeten Ruf genießt, wird ihre Kandidatur als Anmaßung gedeutet und wird kaum Erfolg haben, weil sie eine Frau ist. Frau Bertaux wollte dem Institut de France Gelegenheit geben, die Frage der Zulassung von Frauen zu den akademischen Ghren wenigstens zu erörtern. Das Reglement verbietet dieselbe nicht. Frau Bertaux hätte sich auf Präcedenzfälle berufen können. 1663 wurde die Frau des Bildhauers Girardon , selbst Bildhauerin, Katharina Duchemin, 1716 die als Graveurin ausgezeichnete Sophie Chénois und 1783 die bekannte Malerin Vigée Lebrun in das Institut de France aufgenommen. Damals machten die Herren Künstler und Gelehrten aus der Frage feine Prinzipienfrage, weil sie durch dieselbe nicht in ihren materiellen Interessen berührt wurden. Damals handelte es sich um die Thätigkeit ganz vereinzelter Frauen auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst, nicht wie heute um das Eindringen von Hunderten, bald von Tausenden, welche durch ihr Schaffen den Männern Konkurrenz machen, deren Berufsverhältnisse verschlechtern. Seitdem unter dem Druck der„ Magenfrage" Männer und Frauen der bürgerlichen Kreise einander in den Haaren liegen, ist die Frage der Zulassung des weiblichen Geschlechts zur künstlerischen und wissenschaftlichen Thätigkeit eine Haupt- und Staatsfrage geworden. Erst seit jener Zeit bedeutet das Eindringen der Frau in die Sphäre der Kunst und Wissenschaft den Ruin„ der edelsten Errungenschaften unserer Kultur, Sittlichkeit" und Ehlichem mehr.
Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin ( Eißner) in Stuttgart . Druck und Verlag von J. H. W. Dieg in Stuttgart .
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