Nr. 26.

Die Gleichheit

2. Jahrgang.

Beitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen.

Herausgegeben von Emma Ihrer in Velten ( Mark).

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr 2564 a) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.

Stuttgart

Mittwoch, den 28. Dezember 1892.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Einladung zum Abonnement.

Mit vorliegender Nummer schließt die Gleichheit" den 2. Jahr­gang ihres Erscheinens ab.

Wir ersuchen die Leserinnen und Leser, ihr Abonnement mög lichst bald zu erneuern, damit in der Zusendung des Blattes keine Unterbrechung eintritt. Wir ersuchen sie ferner, dafür zu wirken, daß sich der Leserkreis der Gleichheit" mehr und mehr erweitere, damit in immer breitere Schichten der proletarischen Frauenwelt die von dem Blatt vertretenen sozialdemokratischen Ueberzeugungen getragen werden und festen Fuß fassen.

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Die Gleichheit" wird wie bisher fortfahren, mit aller Ent­schiedenheit für die gesammten Interessen der Frauen des Prole­tariats einzutreten. Ihre Haltung wird sein, wie sie gewesen, und wie sie durch die Thatsache vom Kampfe der Klassen bedingt wird, an dem Theil zu nehmen die Pflicht und das Interesse der Ar­beiterinnen und Arbeiterfrauen erheischt.

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Redaktion und Verlag werden wie seither Alles aufbieten, was in ihren Kräften steht, damit die Gleichheit" ihrer Aufgabe eine Ruferin zu sein im Streit möglichst gerecht werde. Wir hoffen, daß sich das Blatt im neuen Jahrgang die alten Sympathien erhalten und neue Sympathien gewinnen wird.

Die Redaktion und der Verlag.

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Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiterin. Seitdem die Sozialdemokratie eine Macht geworden, welche mehr und mehr die Führung der Arbeitermassen übernimmt, wendet man auch in den bürgerlichen Kreisen den Lebens- und Arbeits­verhältnissen des Proletariats größere Aufmerksamkeit zu. Besonders in lezter Zeit ist es hier eine Art Mode geworden, sich in mehr oder minder guter Absicht, mehr oder minder ernst mit der sozialen Frage" zu beschäftigen. In der Mehrzahl der Fälle gehen die betreffenden Versuche über den Rahmen einer gutgemeinten, aber herzlich belanglosen Spielerei nicht hinaus. Sie verdienen Beachtung als Zeichen der Zeit, aber weit weniger als Beiträge zur Kenntniß der Lage des Proletariats und zur Anbahnung besserer Arbeits­und Lebensverhältnisse desselben. Das Gesagte gilt in seiner schärfsten Form für das kürzlich erschienene Buch einer Frau Dr. Minna Wettstein- Adelt.*)

Die Verfasserin ist eine bürgerliche Frauenrechtlerin, welche sich von vielen ihresgleichen vortheilhaft durch die Einsicht unter­scheidet, daß die Gleichberechtigung mit dem Manne nicht erreicht werden kann, so lange Tausende und aber Tausende von Frauen in Elend, Knechtschaft und Verrohung schmachten," daß man ein festes Fundament aufgebaut haben müsse, ehe man daran gehen fönne, den schlanken Kirchthurm der Kultur" zu errichten. Sobald es sich aber um Mittel und Wege handelt, wie den unwürdigen,

Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiterin." Eine praktische Studie von Frau Dr. Minna Wettstein- Adelt . Berlin , Verlag von J. Leiser.

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart , Rothebühl­Straße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

fulturwidrigen Verhältnissen der breitesten Kreise der Frauenwelt. abgeholfen werden könne, da entpuppt sich Frau Dr. Wettstein- Adelt als eine Frauenrechtlerin allerplattesten Schlages, da zeigt sich, daß sie bis über die Ohren in den vorurtheilsvollsten bürgerlichen An­schauungen steckt und Hilfe von der Philanthropie der oberen Zehn­tausend erwartet.

Die Forderungen, welche die Verfasserin im Interesse der Arbeiterinnen erhebt, sind durchaus halb und nichtig. Das muß um so mehr überraschen, als sie die Schlußfolgerungen sind der " praktischen Studien," welche Frau Dr. Wettstein- Adelt persönlich über die Verhältnisse der Proletarierinnen anstellte. Eine gründliche und unbefangene Prüfung der Frage, wie unsere Arbeiterinnen leben und arbeiten, müßte aber unseres Erachtens zu ganz anderen Schlußfolgerungen führen als die sind, zu denen die Frau Doktor gelangt. Sie müßte von dem Wie auf das Warum zurückgehen, die wahren Ursachen aufdecken der erbärmlichen Lebensverhältnisse, damit auch der Verwilderung, Rohheit, Unsittlichkeit, welche die Verfasserin vielfach in Arbeiterinnenkreisen gefunden hat. Der Ur­sache müßten auch die vorgeschlagenen Heilmittel entsprechen, sie müßten ganze sein, die gekennzeichneten Uebel an der Wurzel packen, nicht bloß an den Erscheinungsformen derselben herumfurpfuschen. Frau Dr. Wettstein- Adelt nagelt in ihrem Buche Mißstände feſt, welche im materiellen, geistigen und sittlichen Leben der Arbeiterinnen grell hervortreten, aber sie erhebt nicht die Frage nach dem Grunde dieser Mißstände, sie kann folglich auch nicht die geeigneten Mittel zu ihrer Besserung vorschlagen.

Die Ergebnisse ihrer praktischen Studien" lösen sich in einer Reihe von Augenblicks- und Stimmungsbildern auf, von dem Werth der Momentphotographien. Gewiß, auch solche haben ihren Werth, das sei unbestritten. Gerade eine Schnellaufnahme giebt oft ein treueres Abbild der Wirklichkeit, als eine mit allen Kunstkniffen retouchirte und verschönerte Photographie. Aber sie giebt uns keinen Aufschluß darüber, wie das, was als Wirklichkeit vorliegt, ent= standen, warum es ist und sein muß, wie es ist, und wie es sich bestimmten Entwicklungsgeseßen folgend verändert.

Wenn das Buch der Frau Dr. Wettstein- Adelt eine Beachtung gefunden hat, welche in feinem Verhältniß zu seinem Werthe steht, so ist dies eine Folge des Umstandes, daß die Verfasserin den romantischen Einfall hatte, zum Zweck ihrer praktischen Studien" etliche Zeit lang in die Kleidung einer Arbeiterin zu schlüpfen. Als solche hat sie in fünf verschiedenen Fabrifen gearbeitet, um dem Beispiel des Kandidaten Göhre folgend aus eigener, persön­licher Anschauung über die Lebensverhältnisse der großen Masse der Frauenwelt berichten zu können. Daher der pomphafte, lockende, etwas nach Reflame riechende Titel des Buches:" Dreieinhalb Monate Fabritarbeiterin."

Frau Dr. Wettstein- Adelt ist nun allerdings nicht dreieinhalb Monate als Fabrikarbeiterin thätig gewesen, wohl aber hat sie dreieinhalb Monate auf das Studium der einschlägigen Verhältnisse verwendet. verwendet. Wenn uns die Frau Doktor auch versichert, daß sie in der Zeit mehr gesehen und gelernt, als andere in einem Jahre," so will uns doch bedünken, daß diese ihre Studienzeit äußerst kurz bemessen war. Um so weniger konnte sie genügen, einen klaren Ueberblick über die Verhältnisse der Arbeiterinnen zu geben, wenn