Nr. 9 der ,, Gleichheit" gelangt am 2. Mai 1894 zur Ausgabe.
Die Sterblichkeit in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft ist eine sehr verschiedene. Im Durchschnitt erreicht der Wohlhabende ein höheres Alter als der Arme. Nach Casper's Untersuchungen leben von 1000 zu gleicher Zeit geborenen Menschen
Wohlhabende Arme
nach 5 Jahren noch 943
655
10
938
598
"
"
"
20
866
566
"
"
"
30
796
486
"
" 1
"
40
695
396
"
"
"
50
557
283
"
"
"
60
398
172
"
"
"
"
70 80
235
65
"
"
57
9
" 1
"
"
70
Die durchschnittliche Lebensdauer stellt sich danach bei den Reichen auf 50, bei den Armen nur auf 32 Jahre. Diese Zahlen sind eine treffliche Illustration zu Heine's Vers:
Wenn Du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse Dich begraben. Denn ein Recht zum Leben, Lump, Haben nur, die etwas haben."
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Wohlthätigkeitssport der feinen Damen. Die Damen des Pariser Adels, der Schlotjunker und Börsenjobber haben eine neue Art des Wohlthätigkeitssports in die Mode gebracht. Nachdem sie ,, für die Armen" getanzt, musizirt, bankettirt, gemimt und Verkäuferin gespielt haben ,,, arbeiten" sie neuerdings für die Armen".„ Gräfin Y. bittet Mme. X. für morgen Nachmittag um die Ehre ihres Besuches. Es wird für die Armen gearbeitet", so lauten die Einladungskarten, welche die noblen geschäftigen Müßiggängerinnen zu diesem Zweck versenden. Der Andrang zu diesen Empfangstagen ist ein sehr großer, denn es mangelt nicht an Frauen, welche die gähnende Langeweile ihrer unnüßen Existenzen gern durch einen neuen Sport ausfüllen, der für„ chic" gilt. Gearbeitet werden meist künstliche Blumen aus Seide, Sammt und anderen Stoffen. Ein bekannter Fabrikant hat die noblen„ Hände" bereits kontraktlich" an sich gebunden, zahlt ihnen glänzende Preise und macht troßdem ein noch glänzenderes Geschäft, denn Jeder, der zur„ Gesellschaft" gehören will, kauft eine Blume, welche Frau Baronin Rothschild" oder" Frau Gräfin Beaulincourt" höchst eigenhändig angefertigt hat. In den Schaufenstern des Fabrikanten prangen natürlich die Blumen mit den Namen ihrer ,, wohlthätigen" und„ fleißigen" Verfertigerinnen. Diese werden gehörig beweihräuchert ob ihrer Geschicklichkeit, ihres Geschmacks und ihres " guten Herzens", der Fabrikant streicht schmunzelnd fette Profite ein, die Blumenarbeiterinnen aber klagen, daß ihnen in Folge der noblen Schmutzkonkurrenz die Arbeit entgeht, und daß ihr Verdienst sinkt. Giebt es überhaupt eine drastischere, hohnvollere Illustration des Wahnsinns der kapitalistischen Gesellschaftsunordnung als diese faul lenzenden Damen der Aristokratie und Plutokratie, welche wöchentlich etliche Stunden als Sport von„ ,, Wohlthätigkeits wegen" für die Armen arbeiten, während die Klasse, der diese Damen angehören, durch ihre Ausbeutung der proletarischen Arbeitskraft Arme und Armuth schafft, während Hunderte, Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen tagaus, tagein von früh bis spät von„ Rechts wegen" rackern müssen für den Reichthum der Reichen, für ihr Wohlleben, ihre Tagdieberei und ihren Luxus!
Erweiterung des Arbeiterschutzes in England. Der eng lische Minister des Innern, Asquith , erklärte den Abgeordneten John Burns, Wilson und Fenwick, daß er im vorigen Jahre 15 neue Fabrikinspektoren ernannt habe. Seine Wahl sei auf praktische Arbeiter gefallen, welche bis jetzt in Werkstätten thätig gewesen, denn diese könnten den besten Aufschluß erlangen über die Mißstände der Schwitzarbeit, welche gerade in kleinen Werkstätten in Blüthe stehe. Asquith erklärte ferner, daß er die Genehmigung des Schatzkanzlers für die Ernennung von zehn weiteren Fabritinspektoren und zwei Inspektorinnen erhalten habe. Demnächst würden auch die Docks und Werften unter staatliche Beaufsichtigung fommen. Die Einführung des Achtstundentags in staatliche Betriebe wirkt bereits auf die Privatindustrie zurück. In vier großen Privatfabriken ist der Achtstundentag eingeführt worden, 15 000 Arbeiter in chemischen Fabriken arbeiten wöchentlich nur noch 50 statt 56 Stunden. So in England. Anders in Deutschland , dem Lande der einzig echten, patentirten Sozialreform. In Deutschland wurde zwar die Zahl der Gewerbeinspektoren etwas vermehrt, aber dafür wurden die Aufsichtsbeamten mit der Kesselrevision beauftragt. Diese nimmt ihre Zeit und Kraft derart in Anspruch, daß sie den Pflichten der eigentlichen Fabrikinspektion nur in ganz ungenügendem Maße nachkommen fönnen. Die Gewerbeinspektoren von Kassel , Köln- Koblenz und Düsseldorf erkennen die Thatsache an und beklagen sie. Und wer die Duckmäuferei
des deutschen Beamten kennt, der weiß, daß Uebelstände sehr hochgradige geworden sein müssen, ehe dieser submissest zu klagen wagt. In Deutschland setzt die Regierung der Forderung der Arbeiterinnen auf Anstellung von Fabrikinspektorinnen hochmüthiges Schweigen entgegen. Die Majorität der„ Volksvertreter" beantworten sie durch Ausframung alter, bemooster Vorurtheile. In Deutschland wird das Personal der Gewerbeinspektion meist aus siebenmal gesiebten Kreisen geholt, damit es dem Unternehmerthum angenehm sei. Der Fabrikinspektor, welcher sich mit den organisirten Arbeitern in Verbindung setzt, wird in Acht und Bann erklärt, eventuell gemaßregelt. Die Heranziehung von Arbeitern zur Fabritinspektion gilt als der Greuel aller Greuel. Die staatlichen Betriebe sind für die Privatindustrie Vorbilder der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter. In Deutschland wird der bestehende armselige, gesetzliche Arbeiterschutz nicht erweitert, sondern durchlöchert, wo und wann es nur geht. Und angesichts dieser Thatsachen soll der Arbeiter im Bunde mit Schlot und Krautjunkern noch singen:" Deutschland , Deutschland über Alles!" Merkt's Euch, Ihr Frauen. Deutschland hat vom 1. Januar 1872 bis 1. April 1894 rund 12410 Millionen für sein herrliches Kriegsheer und seine nicht minder herrliche Marine verausgabt. Rechnet man für Deutschland eine Durchschnittsbevölkerung von 46 Millionen, so hat eine fünfköpfige Familie zu dieser Riesensumme 1349 Mark beitragen müssen. Diese 1349 Mark für eine Arbeiterfamilie ein ganzes Vermögen sind ihr zum größten Theil abgezwackt worden durch indirekte Steuern, d. h. durch Steuern auf Verzehrungsgegenstände. Brot, Reis, Butter, Schmalz, Zucker, Kaffee, Petroleum, furz alle„ Lurusgegenstände der großen Masse", um mit Bismarck zu reden, wurden erheblich vertheuert, damit Unsummen in buchstäblichem Sinne des Wortes verpulvert" werden konnten. Die proletarische Frau, welche sich das Hirn zermartern muß, um mit ihrem winzigen Wirthschaftsgelde auszukommen, wird sich diese Zahlen, diese Thatsachen hinter die Ohren schreiben und zusammen mit der Sozialdemokratie die Forderung erheben: ,, Nieder mit dem Militarismus!"
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Gegen das Stimmrecht der Frauen hat das Landsthing ( das Herrenhaus) in Dänemark einen Beschluß gefaßt. Der vom Folkething angenommene Gesetzentwurf, nach welchem das kommunale Wahlrecht und die Wählbarkeit zugestanden werden sollte, veranlaßte eine lebhafte Erörterung. Entscheidend wurde die Ausführung des Ministers des Innern, daß das kommunale Wahlrecht volle Mündigfeit voraussetze, und daß die verheirathete Frau nach dem dänischen Gesetz immer unmündig sei. Schließlich wurde folgende motivirte Tagesordnung mit 27 gegen 12 Stimmen angenommen:„ Da das Landsthing an der Meinung festhält, daß es weder im Interesse der Gesellschaft noch der Frauen ist, daß diesen das Wahlrecht sowie die Wählbarkeit verliehen wird, geht das Thing zur nächsten Frage der Tagesordnung über." Die„ entscheidenden Ausführungen" des Herrn Ministers sind jedenfalls nichts als formale Wortklauberei. Das dänische Herrenhaus ist nicht geaicht auf seine Kunst zu entscheiden, was im Interesse der Gesellschaft und der Frauen liegt. Und die Letzteren werden das aktive und passive Wahlrecht früher oder später erhalten müssen, gerade weil die politische Gleichberechtigung im Interesse der Frauen und der Gesellschaft liegt.
Weibliche Aerzte in der Türkei . Der Sultan hat die Erlaubniß gegeben, daß Frauen Medizin studiren dürfen. Man findet deshalb in letzter Zeit auf fast allen französischen Universitäten türtische Studentinnen. In Deutschland hat man sich noch nicht so weit aufgeschwungen, den Frauen ein Recht einzuräumen, welches ein selbstverständliches ist. Deutschland marschirt eben in Sachen der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts an der Spitze der Kultur nach
rückwärts.
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Berichtigung. In dem Artikel„ Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Mannheimer Fabrikarbeiterinnen", Nr. 6 der„ Gleichheit", S. 46, Zeile 13 und ff. von oben, muß es heißen: In der Gummifabrik" arbeiteten z. B. nach Wörrishofer Ende 1890 157 Frauen und Mädchen, heute dagegen sind 50 Arbeiterinnen weniger daselbst beschäftigt( statt: heute dagegen nur noch 50),
Wegen Raummangels mußten Korrespondenzen zurückgestellt werden aus Köln , Nezschkau, Altenburg und Braunschweig . Die Redaktion.
Quittung.
Zu Agitationszwecken von den Hamburger Genossinnen 20 Mark erhalten zu haben bescheinigt dankend
Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin ( Eißner) in Stuttgart . Druck und Verlag von J. H. W. Dieg in Stuttgart .
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