11 marschirten: König Stumm, der Polizeiminister im Bunde mit Geheimrath Nieberding und der Kriegsminister. Großkapital, Polizei und Militär, das sind die drei Gewalten, die in holder Wahlverwandtschaft die armseligen deutschen Volksrechte umzustürzen suchen. Wir haben König Stumm's ebenso verständnißlose als unverschämte Ausführungen bereits an anderer Stelle gebührend gekennzeichnet. Als Pertreter der Regierung kramte Geheimrath Nieberding bereits in der letzten Sitzung des Reichstags vor Weihnachten behufs Begründung der Vorlage den nachgelassenen Zitatensack des verflossenen Putt- kamer aus.„Olle Kamellen", wie sehr richtig ein Zwischenruf aus bürgerlichem Lager besagte. Nieberding tischte Zitate aus anarchistischen Schriften auf, die vor 2S Jahren verfaßt worden und der Polizei besser bekannt sind, als sonst wem. Dazu Mittheilungen über die drohende anarchistische Gefahr, wie sie ebenfalls der Polizei bekannt und von ihr zum Theil schon sorgsamst gepflegt worden ist. Das Ganze servirt mit bemerkenswerthem Ungeschick und in einer Sauce, die dünn, kraft- und salzlos war. Auch der Justizminister wandelte bei Unterstützung seines Untergebenen die von Putty bereits so ausgetretenen Pfade. Bemerkenswerth, aber nicht neu war seine Aeußerung, das Gesetz richte sich nicht gegen die Arbeiterklasse, nur gegen die bösen„Agitatoren", welche die guten Arbeiter gegen die noch viel besseren Arbeitgeber aufhetzen. Kurz, die Begründung und Vertheidigung der Vorlage durch die Regierungsvertreter war eine ungeschickte Umschreibung der Thatsache, daß man das Gesetz wolle, weil es den gewalthabenden Mächten so beliebe. Mit der rüden Schneidigkeit, welche dem höheren Militär und Junker von Berufsund Geburtswegen der„zivilen Kanaille" gegenüber geziemt, warf sich der Kriegsminister für die Vorlage ins Zeug. Dem Inhalt nach streiften seine Ausführungen zum Mindesten die direkte Aufreizung der Sozialdemokratie zu Gewaltthaten, vom Bürgerkrieg sprach der Mann als von einem„heiteren Bilde". So unverfroren und zynisch wie diesmal sind die auf Säbelhauen und Flintenschießen bezüglichen Herzenswünsche gewisser Kreise im Reichstag noch nicht zum Ausdruck gekommen. Recht lichtvoll wirkte es, daß der Herr Kriegsminister den sozialdemokratischen Abgeordneten gegenüber einen Ton annahm, wie ihn die Unteroffiziere in den Ferienkolonien belieben, der aber Volksvertretern gegenüber am wenigsten am Platze ist. Wenn jemals, so wäre es diesem Ton gegenüber die Pflicht des Präsidenten gewesen, «die Würde des Hauses zu wahren", und das mit aller Energie. Der Vertreter des Zentrums gab, der Politik des Kuhhandels entsprechend, keine bestimmte Erklärung über das Verhalten seiner Partei zur Vorlage ab. Er zerzauste sie hie und da. ließ dann wieder die Möglichkeit einer Verständigung durchblicken— den richtigen Preis dafür vorausgesetzt-, lobte die christliche Wohlthätigkeit über den grünen Klee, griff das liberale Professorenthum an als Vorfrucht der Sozialdemokratie, empfahl die Religion als Allheilmittel gegen die Umsturzgefahr und trat schließlich ab, ohne Ja oder Nein gesagt zu haben.— Geistreiche und zum Theil vernichtende Kritik wurde an der Vorlage geübt seitens der Vertreter der Freisinnigen, der freisinnigen Vereinigung und der süddeutschen Volkspartei(Munckel, Barth und Kröber). Wer diese Kritik liest und den zwieschlächtigen Charakter der bürgerlichen Demokratie nicht kennt, die nicht Vogel, nicht Maus ist, kann die Abstimmung der betreffenden Fraktionen schlechterdings nicht begreifen. Die kleinen Fraktionen des Reichstags— Polen, Welsen, Elsässer, Antisemiten, erklärten sich mehr oder weniger scharf gegen die Vorlage in ihrer jetzigen kautschukähnlichen Fassung. Daß der lebenslängliche„kommende Mann", der die Regierung in der Rolle des werbenden Ritters Toggenburg anschwärmende Bennigsen, der Vorlage den Segen der Nationalliberalen er- theilte, versteht sich am Rande. Seine Rede zeigte, daß die Nationalliberalen ganz und gar auf den oben gekennzeichneten Polizeistandpunkt gesunken sind, sie wollen den Gang der Geschichte nicht begreifen, sondern ihn aufhalten zu Nutz und Frommen der kleinen Kapitalistensippe. Weit über den Leistungen der bürgerlichen Parlamentarier und Staatsmänner auf hohen Befehl stand die dreistündige Rede des »ehemaligen Sattlergesellen" Auer. Von beißendem Humor durchtränkt, kraftvoll, ohne in hohles Pathos zu verfallen, von proletarischem Klassenbewußtsein und Klassenstolz getragen, war sie, dem Inhalt und der Form nach, ein Meisterstück. Schonungslos wies er uach, wie geradezu frivol die Begründung der Umsturzvorlage war. Wie Geißelhiebe trafen seine Worte die Heuchler der„staatserhaltenden Parteien", die nach Bekämpfung des Umsturzes, nach dem Schutz der Monarchie rufen, während vor Kurzem die Agrarier mit sozialer Revolution drohten, weil die Getreidezölle um 1 Mk. 50 Pfg. herabgesetzt wurden, und die Nationalliberalen aus Aerger über eine in Aussicht stehende Vermögenssteuer erklärten, aus„Vernunftmonarchisten" eventuell wieder zu„Jdealrepublikanern" werden zu können. Gebührend kennzeichnete Auer die Gewaltpolitik, die dazu führe, daß der Soldat auf Vater und Mutter schießen, also das größte Verbrechen begehen müsse. Wie die Ehe der oberen Zehntausend im Heirathsbureau geschlossen wird; wie der Kapitalismus die Familie des Arbeiters zerstört; wie die Roth der Prostitution in die Arme treibt; wie die Arbeiterinnen unsittlichen Angriffen ihrer Arbeitgeber ausgesetzt sind; wie das Eigenthum oft nur dadurch erworben wird, daß der Erwerbende das Zuchthaus mit dem Aermel streift; kurz eine Reihe von Mißständen, welche durch das Umsturzgesetz der Kritik entzogen werden sollen, schilderte Auer mit scharfen Worten, welche die Möchtegern-Attentäter auf Volksrechte kräftig trafen.— Recht gut war auch die Rede, in welcher Frohme im Namen der Fraktion auf die Angriffe der Gegner antwortete. König Stumm bekam in derselben ebenso sein Theil, wie der verkommene Liberalismus, das schachernde Zentrum und die reaktionäre Regierung. Trefflich waren Frohme's Ausführungen über die sozialdemokratische Auffassung der Monarchie. Die Umsturzvorlage wurde mit allen gegen die Stimmen der Sozialdemokraten an eine Wgliedrige Kommission überwiesen. Der bürgerliche Liberalismus im weitesten Sinne, von den verwaschenen Nationalliberalen an bis zu den rosenrothen süddeutschen Hofdemokraten hat sich mit diesem Beschluß seine Grabschrift geschrieben, und keine Grabschrift in Ehren, sondern in Schmach. Die ehemals vom Bürgerthum vielbesungenen politischen Freiheiten haben in Deutsch land einer kurslosen, selbstherrlichen Gewaltpolitik gegenüber nur noch einen zuverlässigen Vertheidiger: das klassenbewußte Proletariat, die Sozialdemokratie. Und unter der Führung der Sozialdemokratie wird die deutsche Arbeiterklasse vertheidigen und wahren, was das Bürgerthum in kurzsichtigstem Klasseninteresse preisgiebt und mit Füßen tritt. Arbeiterinnen-Bewegung. — In der Zeit vom 15. Dezember 1894 bis 15. Januar 1895 fanden öffentliche Versammlungen statt in: Bergedorf , öffentliche Volksversammlung:„Die Tabakfabrikatsteuer"(Reichstagsabgeordneter Förster); Berlin , öffentliche Versammlung der Schneider und Schneiderinnen:„Die Verhältnisse der Arbeiterschaft in der Konfektion und die Haltung der Rostocker und Braunschweiger Kollegen"(Gen. Timm); öffentliche Versammlung aller in der Schuhindustrie beschäftigten Personen:„Der Streik in der Filzschuhfabrik von Simon St Wong"; öffentliche Versammlung der Büglerinnen und Mäntelnäherinnen:„Die Lage im Gewerbe und die demnächst zu stellenden Forderungen"(Genossin Ihrer); Bürgel,„Die wirthschaftliche Lage der Arbeiterinnen und die Nothwendigkeit der Organisation"(Genossin Opificius); Dresden , öffentliche Versammlung des Arbeiterinnen-Bildungsvereins: „Die Frauenkrankheiten als Folge unserer sozialen Verhältnisse"(Genosse Wolf); Friedrichshagen , öffentliche Volksversammlung:„Die politische Lage"(Reichstagsabgeordneter Rob. Schmidt); Glienicke , öffentliche Volksversammlung:„Die Nothwendigkeit der Organisation". Die Versammlung beschloß die Gründung eines Bildungsvereins für Arbeiter und Arbeiterinnen. Köln , öffentliche Versammlung der Schneider und Schneiderinnen:„Die Stellung der Frau zur Gewerkschaftsbewegung"(Genossin Gotthusen-Düsseldorf); Leipzig , öffentliche Versammlung des Bildungsvereins für Frauen und Mädchen: „Die Frau in der neueren Dichtung"(Gen. Wittich); Mülheim , öffentliche Versammlung für Frauen und Männer:„Die wirthschaftliche Lage der Arbeiterinnen und die Nothwendigkeit der Organisation" (Genossin Opificius); Nieder-Zieder, öffentliche Versammlung für Männer und Frauen:„Die gegenwärtige politische Lage"(Genosse Or. Winter-Breslau ); Sprendlingen , öffentliche Volksversammlung: „Die wirthschaftliche Lage der Arbeiterinnen und die Nothwendigkeit der Organisation"(Genossin Opificius); Rummelsburg , öffentliche Versammlung des Bildnngsvereins für Frauen und Mädchen:„Die Frau und der Kapitalismus "(Genossin Mesch). — Vereinsversammlungen fanden in der nämlichen Zeit statt in: Barmbeck: Mitgliederversammlung des Verbands der Fabrik-, Land-, Hilfsarbeiter und-Arbeiterinnen:„Robert Blum und seine Zeit"(Genossin Kühler); Berlin , Mitgliederversammlung des Verbands der in Buchbindereien, der Papier - und Ledergalanteriewaaren-Jndustrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen:„Die Arbeitslosigkeit und ihre Ursachen"(Gen. Sailer); Mitgliederversammlung des Bildungsvereins für Frauen und Mädchen:„Die Frau im Dienst kirchlicher und kapitalistischer Interessen"(Gen. Schöpslin); Generalversammlung des Verbands der Vergolder und Vergolderinnen und verwandten Berufsgenossen:„Berichterstattung, Verbandsangelegenheiten"(Gen. Höpfner); Döhlen, Mitgliederversammlung des Arbeitervereins:„Die Frauenarbeit im Gegensatz zur Männerarbeit auf gewerblichem Gebiete"(Genossin Eichhorn); Dresden . Mitgliederversammlung des Vereins zur Wahrung der in der Stroh- und Filzhutindustrie beschäf-
Ausgabe
5 (23.1.1895) 2
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