26 Allerlei aus dem Reichstage. Vor 13 Jahren, nämlich 1882, hat in Deutschland   die letzte Berufs- und Gewerbezählung stattgefunden. Dieser Umstand wird peinlich empfunden von den Sozialpolitikern, die für ihre Arbeiten der Grundlage zuverlässigen Zahlenmaterials bedürfen. Vielfachem Drängen nachgebend, trat endlich die Regierung an den Reichstag mit einer Vorlage heran, die Vornahme einer Berufs- und Gewerbe­zählung im Sommer 1895 betreffend. Dem halbabsolutistischen und bureaukratischen Charakter der deutschen   Regierungsmaschinerie ent­sprechend, gestand die Vorlage dem Reichstage großmüthig das Recht zu, die Mittel für die Erhebung zu bewilligen. Dagegen enthielt sie kein Wort über die Methode, die Formulare, auf Grund deren die Zählung erfolgen soll. Daß die Volksvertreter in der Beziehung die Vorlage mit Sachkenntnis beurtheilen konnten, ist nur einem Zufall zu verdanken. Ein günstiger Wind hat ein Exemplar der einschlägi­gen Formulare auf den Redaktionstisch der sozialdemokratischen Leip­zigerVolkszeitung" geweht, welche für seine Veröffentlichung sorgte. Genosse Schönlank unterzog das Säumen der Regierung und ihr Vorgehen einer scharfen, glänzenden Kritik, die sich mit gründlicher Sachkenntniß noch auf die Methode und die Formulare der geplanten Erhebung erstreckte. Daß die Regierung die Zählung so lange hinaus­geschoben, so betonte er, erkläre sich durch zwei Gründe: durch den Widerwillen des Militärstaats gegen Kulturausgaben und durch die Furcht vor der Sozialdemokratie. Eine streng wissenschaftliche Er­hebung über die wirthschaftliche Entwicklung Deutschlands   bestätige durchaus die sozialpolitischen Theorien. Freilich die Methode, nach welcher die Regierung die Zählung vornehmen lassen wolle, gebe ein trügerisches Bild der einschlägigen Verhältnisse. Deshalb müsse der Reichstag durch ein Gesetz das Wann, Wie und Was der Erhebung festlegen. Dieselbe werde dann für die bürgerliche Gesellschaft zu einer Generalbeichte, in der sie ihre Gebreste enthülle, für die Sozial­demokratie zu einer Vogelschau, welche erkennen läßt, daß die sozia­listische Gesellschaft immer näher kommt. Vergebens bemühte sich der Unterstaatssekretär v. Rottenburg  , durch Witzeleien die scharfen sozial­demokratischen Hiebe zu pariren. Die Vorlage, welche noch von dem Nationalliberalen Hasse und dem Zentrümler Hitze kritisch zerzaust wurde, ging an eine 14gliedrige Kommission, der Genosse Schönlank angehört. Das Schaumgericht der Fürsorge für den Mittelstand seitens der Regierung, Konservativen und Ultramontanen verschwindet kaum noch aus den Auslagefenstern der Reichstagsverhandlungen. So mußte sich der Reichstag mit einer Vorlage der Regierung und einem Antrage des Zentrums befassen, welche die Rettung des seßhaften Kleingewerbes durch die Beschränkung des Hausirhandels erstreben. Die Regierung will, wie auch der Staatsminister Berlepsch ausführte, nur dieAuswüchse" des Hausirhandels beseitigen. Das Zentrum möchte dagegen dem Hausirhandel mit einer Eisenbartkur zu Leibe gehen, die zu seinem schleunigen und unsanften Ende führen würde. Unter anderen diesbezüglichen Bestimmungen fordert das Zentrum auch den Ausschluß der Frauen vom Hausirhandel. Schädler und Hitze warteten mit der Erklärung auf, daß die Frau in die Familie gehöre uud daß ihnen der Hausirhandel ebensogut wie die Fabrik­arbeit verboten werden müsse. Ob alle Frauen einer Familie an­gehören, in der sie zu essen finden, darnach fragte keiner der ultra­montanen Herren. Konservative und Antisemiten hieben natürlich zusammen mit Regierung und Zentrum in die Kerbe der Mittelstands­rettung, nur forderte der Antisemit noch Maßregeln gegen die Kon­kurrenz des Großhandels. Die Freisinnigen dagegen wollten nichts wissen von einem staatlichen Eingreifen in das Spiel derfreien Kräfte". Klar und bestimmt zeigte Genosse Robert Schmidt die prak­tische Wirkungslosigkeit der geforderten Maßregeln, weil das Klein­gewerbe nicht der Konkurrenz des Hausirhandels erliege, sondern der­jenigen des kapitalkräftigen Großbetriebs und Großhandels. Mache die Gesetzgebung durch die geplanten Bestimmungen Tausende existenz­los, so müsse sie ihnen auch einen anderen Wirkungskreis anweisen. Wolle man den Ausbau der Gewerbeordnungsnovelle fördern, so möge man den gesetzlichen Schutz auf das Theaterpersonal ausdehnen, welches geradezu meuterisch von Agenten und Direktoren ausgenutzt werde. Vorlage und Antrag wurden einer Kommission überwiesen. Hochinteressante und äußerst lebhafte Debatten knüpften an zwei Anträge an, welche die Aufhebung der Diktatur in Elsaß-Lothringen  forderten. Einer derselben war von der Sozialdemokratie eingebracht, der andere von den Vertretern Elsaß  -Lothringens  . Bebel   begründete die sozialdemokratische Forderung in einer nach Inhalt und Form gleich meisterhaften Rede. Gestützt auf ein ungemein reiches that- sächliches Material schilderte er mit der ihm eigenen Schärfe, daß im Lande derwiedergewonnenen Brüder" ein Ausnahmezustand herrsche, an dessen Ungeheuerlichkeiten das Sozialistengesetz nicht hinan reiche. Veraltete, erzreaktionäre französische   Gesetze seien in Kraft und würden gehandhabt mit der Schneidigkeit des preußischen Polizei­regimes. In Elsaß-Lothringen   giebt es kein Vereinsrecht, kein Ver­sammlungsrecht, die Preßfreiheit ist eine Phrase. Die Behörden sind geradezu allmächtig. Es fehlt ein Beschwerdegericht, welches die Be­völkerung gegen Uebergriffe der Beamten schützt. Der Landesausschuß, dasRentnerparlament" genannt, ist zusammengesetzt aus Besitzenden und abhängigen Beamten. Aber allerdings seien gegenwärtig gewisse Kreise eher für eine Ausdehnung der Diktatur über Deutschland   bereit, als zu ihrer Aufhebung für Elsaß-Lothringen  . Der Umstand sei kenn­zeichnend für den Tiefstand des politischen Lebens in Deutschland  . Der Fortbestand der Diktatur werde in nichts gerechtfertigt durch die Haltung der ruhigen, friedliebenden Bevölkerung. Er müsse die Elsaß- Lothringer Deutschland entfremden und führe nur der Sozialdemo­kratie neue Anhänger zu, obgleich man diese mit der Diktatur beson­ders treffen wolle. Genosse Bueb unterstützte sehr wirksam Bebel's Ausführungen. Auf Grund seiner persönlichen Erfahrungen entwarf er ein lebhaftes Bild der Verhältnisse, welche die Diktatur zeitigt, durch die man die Bevölkerung sicher nicht für deutsche   Art gewinnt. Aber offenbar handle es sich nicht um eine Verdeutschung der Elsaß- Lothringer, sondern um ihre Verpreußung. Mehrere Vertreter Elsaß  - Lothringens   forderten eindringlich die Aufhebung der Diktatur. Ihrer­seits kritisirte Preiß in vorzüglich scharfer und rückhaltsloser Weise das über seine Heimath verhängte Regime. Freisinnige und Zen­trümler erklärten sich für die eingebrachten Anträge, Konservative und Nationalliberale dagegen, weil die Regierung von einer Aufhebung der Diktatur nichts wissen will. Zu einer unfreiwilligen Befürwor­tung der Aufhebung der Diktatur gestaltete sich die Erklärung des Reichskanzlers Hohenlohe  , des ehemaligen Statthalters von Elsaß- Lothringen  . Dieselbe gipfelte darin, daß die Elsaß-Lothringer Gesetz und Ordnung liebende Leute seien, so daß der Diktaturparagraph nur theoretische Bedeutung habe und nichts sei als eine Warnungs­tafel! Unterstaatssekretär v. Puttkamer   dagegen suchte die Diktatur dadurch zu retten, daß er den Wauwau der französischen   Patrioten­liga in den grellsten Farben malte. Gleichzeitig wendete er sich gegen Bebel'sKrimskrams" in einem Ton, in welchem sich Puttkamer'sche Junkeranmaßung paarte mit der Bakelseligkeit eines aus dem Unter­offizier herausgewachsenen Schulmeisters altpreußischen Stils. Herr v. Köller beschwor durch sein Eintreten für die Diktatur die heiterste Erinnerung der Zeit herauf, wo es hieß:Herr v. Köller, es wird immer töller." Er hat sich jedenfalls um das Zwerchfell der Reichs­tagsabgeordneten hochverdient gemacht. In seinem Schlußwort rech­nete Bebel   gründlich mit dem hochfahrenden Herrn v. Puttkamer ab und betonte, es sei noch nicht der Schatten eines Beweises erbracht worden für die Nothwendigkeit des Fortbestandes der Diktatur. Die Abstimmung über die Anträge soll nach einer zweiten Lesung erfolgen. Aus den stattgehabten Verhandlungen erhellt deutlich, daß die über­wältigende Mehrzahl der Abgeordneten für die Aufhebung der Diktatur ist, und daß der neue Kurs nur durch die Peitsche regie­ren will. Die letztere Thatsache wird auch mit herzerquickender Deutlich­keit bestätigt durch die Debatten über die Interpellation Hitze: in welcher Form die Regierung eine Arbeitervertretung zu schaffen ge­denke, die in den kaiserlichen Erlassen vom Februar 1890 verheißen worden sei.Der Noth gehorchend, nicht dem eignen Trieb" hatte sich das Zentrum offenbar zu dieser Anfrage entschlossen. Dieselbe sollte sozialreformatorischen Sand in die Augen der katholischen Ar­beiterschaft werfen, welche hörbar murrt, daß die Ultramontanen durch ihren Umfall in der Umsturzkommission der Reaktion bei der politi­schen Vergewaltigung der Arbeiterklasse Hand- und Spanndienste leisten. Um gleichzeitig die katholischen Großgrundbesitzer und Schlot­junker, sowie die Regierung nicht zu verschnupfen, kümmerte sich das Zentrum nur um die VerwirNichung eines winzigen Bruchtheils der kaiserlichen Verheißungen. Bescheidentlich unterließ es die Anfrage nach vollständiger Sonntagsruhe, Normalarbeitstag und Gleichberech­tigung der Arbeiter. Hitze trat im Namen seiner Partei blos ein für die Schaffung einer besonderen Arbeitervertretung, Arbeiterkammern oder Arbeiterausschüsse, Organisation des Arbeitsnachweises und gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine. Der Reichskanzler verlas zur Antwort, daß die Regierung an den Verheißungen der kaiserlichen Erlasse festhalte, daß aber das preußische Ministerium in Sachen der fraglichen Maßregeln seine Vorarbeiten noch nicht bis zu einer Be­schlußfassung geführt habe. Im weiteren Verlaufe der Debatten, die sich durch drei Tage zogen, erklärte Minister v. Berlepsch das Nämliche. Groß sei der Wille der Regierung zu arbeiterfreundlichen Sozial­reformen. Aber die Bethätigung dieses Willens hänge von dem Ver­schwinden der Sozialdemokratie ab. Denn wie jedes Gesetz, so müsse