Nr. 10 der ,, Gleichheit" gelangt am 15. Mai 1895 zur Ausgabe.

Kleine Nachrichten.

Ueber die Wirkung des Achtstundentags äußerte sich der Fabrikbesitzer Freese- Berlin in der günstigsten Weise. In seinem Betrieb herrschte früher ganz ungeregelte Arbeitszeit, die nicht selten 16-17 Stunden betrug. Vom Jahre 1888 an schaffte er stufenweise die diesbezüglichen Mißstände ab und führte stufenweise einen fürzeren Arbeitstag ein. Im Winter 1892 trat an Stelle des 9stündigen ver­suchsweise der 8stündige Arbeitstag, um 5 Uhr Nachmittags wurde die Fabrik geschlossen. Der Betrieb regelt sich damit vorzüglich. Nicht die geringste Minderleistung ergab sich, wie die Lohnziffern ( es herrscht Akkordarbeit) beweisen. Durch die konzentrirte Thätigkeit wurde die kürzere Arbeitszeit ausgeglichen. Die bei längerer Arbeits­zeit unvermeidlichen Pausen famen in Wegfall. Das Bewußtsein, ,, um 5 Uhr bist Du Dein freier Herr", wirkte anspornend auf die Arbeiter. Der Betrieb ersparte erheblich an Dampf, Gas, Heizung 2c. Die Produkte litten in keiner Weise, im Gegentheil, denn die Arbeiter gingen mit mehr Lust und Liebe als früher an die Arbeit heran. Der Achtstundentag sei also ohne Schädigung für die Industrie möglich, und er sei nothwendig im Interesse der Gesundheit unseres Volkes, an der die Industrie keinen Raubbau treiben dürfe. Die kurze Arbeits­zeit wirke außerdem moralisch sehr günstig auf den Arbeiter ein. Ein Arbeiter, der von 9-5 Uhr geschafft habe, sich dann seiner Familie widmen könne; bedeute mehr für Staat und Gesellschaft, als ein Arbeiter, der ein Familienleben nur vom Hörensagen kenne. Herr Freese erklärte auf Grund seiner mehrjährigen Erfahrungen: Alle Gründe der Staatsraison und der Humanität sprechen für die gesetzliche Einführung des Achtstundentags."

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Das dringende Interesse der Frauen an der Einführung des Achtstundentags beweisen die Beobachtungen des Schweizer Fabrikinspektors Dr. Schuler. Nach ihm ist die Kränklichkeit und Sterblichkeit der Fabrifarbeiterinnen größer als die der Fabritarbeiter. In der Schweiz wurden für die Arbeiterinnen anderthalb mal mehr Tage der Arbeitsunfähigkeit verzeichnet, als für die Männer. Die Sterblichkeit der Arbeiterinnen überstieg die der Arbeiter um 27 Pro­zent. In der Schweiz verhielt sich die Zahl der Erkrankungen weib­licher Arbeiter zu derjenigen der männlichen Arbeiter der nämlichen Berufsart wie folgt:

in der Baumwollweberei

Baumwollspinnerei

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Färberei, Bleicherei , Appretur. Stickerei..

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wie 139 zu 100

128

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100 113 100

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111

100

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Die Zahl der Krankheitstage der Arbeiterinnen und Arbeiter verhielt sich in der

Stickerei

Baumwollspinnerei

Baumwollweberei.

Seidenwinderei, Zwirnerei und Weberei. Papierfabrikation.

wie 125 zu 100

100 100

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133 100 161

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165

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180"

100

Das Kapital pfeift auf die Thatsache, daß es Gesundheit und Lebenskraft seiner Lohnsklavinnen zerstört, es kennt keine anderen Rücksichten, als die auf seinen Profit.

Der Achtstundentag eine hygienische Nothwendigkeit. Auf dem VIII. internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie, welcher im Sommer 1894 in Budapest tagte, sprachen sich in der vierten hygienischen Sektion die meisten Vertreter für die Nothwen­digkeit einer Verkürzung der Arbeitszeit auf höchstens 8 Stunden sehr entschieden aus. Dr. Jules Felix aus Brüssel gelangte z. B. in Betreff des Einflusses der Länge der Arbeitszeit auf das physische, intellektuelle und moralische Befinden der Arbeiter zu nachfolgenden Schlußfolgerungen:

,, 1. Die Begrenzung der Arbeitszeit ist für alle Arbeiter noth­wendig und muß proportionell sein der Intensität, der Dauer und der Gesundheitsschädlichkeit der Arbeit. 2. Für die Großindustrie und speziell für die Bergbauarbeit muß die berufliche Arbeitsdauer 8 Stunden durchschnittlich betragen und darf nie 10 Stunden über­schreiten, wenn der Arbeiter seine physische, geistige und moralische Kraft nicht verlieren soll, auf welches jedes menschliche Wesen einen begründeten Anspruch hat. 3. Der zivilisirte Mensch hat unter allen sozialen Verhältnissen nicht nur das Recht auf durchschnittlich 8 Stun den Schlaf zur Nachtzeit da der Schlaf am Tage durchaus nicht die Kräfte erneuert- sondern er hat auch das Recht auf eine aus­reichende Muße, um seine Mahlzeiten einzunehmen, für seine per­sönliche Gesundheit und Reinlichkeit zu sorgen, seine geistige Aus­bildung zu pflegen und seine Gemüthsempfindungen durch die Aus­übung seiner Pflichten gegen die Familie, die Gesellschaft und das Vaterland zu erhöhen. Diese Bedingungen erscheinen uns unerläßlich

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für das Glück der Menschheit und sind die sichersten Bürgschaften für das Gedeihen der Völker, den sozialen Frieden und die allgemeine Brüderlichkeit."

Auf dem Kongreß hat sich auch nicht eine Stimme gegen die Verkürzung der Arbeitszeit erhoben.

Der Achtstundentag in Rußland . Die Dobroduschaer Papier­fabrik bei Gomel ist der erste russische Betrieb, welcher den Acht­stundentag eingeführt hat. Früher arbeiteten zwei Schichten von Arbeitern je 12 Stunden, gegenwärtig drei Schichten je 8 Stunden. Der Leiter der Fabrik schreibt über die Wirkungen der verkürzten Arbeitszeit: Nach den Erfahrungen, die ich in den verflossenen fünf Monaten gemacht habe, muß ich gestehen, daß die Arbeiter seit der Einführung des Achtstundentages voll und ganz ihren Pflichten nach­kommen. In technischer Hinsicht geht die Arbeit, wenn nicht besser, so doch in keinem Falle schlechter als früher. Der Fabrik kommt diese Reform nur auf ein Prozent des Arbeitslohnes zu stehen, auf die Arbeiter aber hat sie trotz der verhältnißmäßig sehr kurzen Zeit ihres Bestehens eine wohlthuende Wirkung ausgeübt. Unsere Arbeiter sehen schon jetzt frischer aus, und die frühere Schlappigkeit ist gänzlich geschwunden. Gute Resultate sind bei den Arbeitern auch in wirth schaftlicher Beziehung bemerkbar. Diejenigen Arbeiter, die ein Fleckchen Land besitzen, ließen im vorigen Frühling dasselbe nicht mehr von Lohnarbeitern bestellen, sondern sie thaten es selbst. Die landlosen Arbeiter blieben auch nicht zurück und sind um ihre Häuslichkeit besorgt. Sie führen Baumaterial auf die von der Fabrik für eine ganz geringfügige Entschädigung abgetretenen Plätze zusammen, ein Dutzend Häuser befinden sich schon im Bau. Und bald bildet sich rings um die Fabrit ein ganzes Dörfchen mit Krautäckern um die Häuser." Und zum Schluß seiner Bemerkungen meint der Fabrik­leiter: Alle diese Resultate sind aber nichts im Vergleich damit, was von der Verkürzung der Arbeitszeit nach Ablauf von 10-20 Jahren zu erwarten ist."

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Steigende Verwendung der Frauenarbeit. Nach den Be richten der deutschen Fabrikinspektoren für 1893 waren in der deutschen Textilindustrie nicht weniger als 305 175 Arbeiterinnen beschäftigt gegen 283 017 im Jahre 1892. Binnen zwölf Monaten ist mithin die Zahl der Textilarbeiterinnen um 22 158, also um etwa acht Prozent, gewachsen. Und dies in einer Zeit, in der man bezüglich der Textil­industrie von Geschäftsstockungen, Arbeiterentlassungen, Beschränkung des Betriebs 2c. genug hörte. Die kapitalistische Wirthschaftsweise bethätigt einen wahren Heißhunger nach weiblichen Arbeitskräften, als den billigeren und willigeren Arbeitskräften, deren Ausbeutung profitabler ist, als die der theueren und widerspenstigen" Männer.

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Daß die übermäßig lange und starke Ausbeutung der proletarischen Frau Tausende proletarischer Kinder frühem Tode überantwortet, steht seit langem ziffernmäßig fest. In Eng­land kamen z. B. 1864 nach dem Sechsten Bericht über den Stand der öffentlichen Gesundheit"( zitirt in Mary' ,, Kapital") in 16 Distrikten auf je 100 000 lebende Kinder unter einem Jahr im Durchschnitt nur 9000 Todesfälle; in den Industriezentren Hoo, Wolverhampton , Ashton- under- Lyne und Preston über 24.000 und in Manchester , der Königin der englischen Fabrikstädte, gar 26 125. Wie eine offizielle ärztliche Untersuchung nachwies, sind, von Lokalumständen abgesehen, die hohen Sterblichkeitsraten der Proletarierkinder vorzugsweise der außerhäuslichen Beschäftigung der Mütter geschuldet und der daher entspringenden Vernachlässigung und Mißhandlung der Kinder u. a. unpassender Nahrung, Mangel an Nahrung, Fütterung mit Opiaten u. s. w." Die Britische Medizinische Gesellschaft" machte im ver gangenen Jahr die Regierung auf die steigende Kindersterblichkeit in den Industriestädten aufmerksam. Von je 1000 Kindern im Alter unter einem Jahre starben 1885 in London 148, im Jahre 1893 je doch 164, in einem Induſtriedistrikt der Hauptstadt betrug die Sterb lichkeitsziffer sogar 208. Nach sehr sorgfältigen statistischen Erhebungen über die Kindersterblichkeit sind von je 100 000 Geburten am Leben geblieben: in den rein ländlichen Distrikten 90 283; in den gemischten Distrikten 83 081; in den Industrieſtädten 78.197. Auf je 10 Todes: fälle auf dem Lande kommen 12 in der Industriestadt. Als Ursache der Erscheinung bezeichnet es die Medizinische Gesellschaft", daß dem Kinde durch die Industrie die Mutter zu früh entzogen wird. Der Achtstundentag giebt etwas mütterliche Pflege und Fürsorge den proletarischen Kindern zurück, welche die kapitalistische Profitgier mit der Ausbeutung der Frau dem Verkommen und dem Tode überant­wortet. Die kapitalistische Gesellschaft aber, welche den Schutz der Familie auf den Lippen führt, sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen, dem Proletariat in Gestalt kürzerer Arbeitszeit die Möglich­feit eines Familienlebens zu schaffen. Ihre Heuchelei hat nur ihr Gegenstück in ihrem Mehrwerthhunger.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Settin( Eißner) in Stuttgart . Druck und Verlag vov J. H. W. Diez in Stuttgart .