Nr. 19.

Die Gleichheit.

5. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Herausgegeben von Emma Ihrer in Pankow bei Berlin .

Die ,, Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro . 2756) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.

Stuttgart

Mittwoch, den 18. September 1895.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Papiernes Arbeiterinnenrecht.

Unter dem Nachhall der traumhaften Augenblicksstimmung bom sozialen Königthum, die in den Februarerlassen ihren Aus­bruck fand, wandelte die deutsche Gesetzgebung 1891 die Pfade der sozialen Reform, des Arbeiterschußzes. Gar verschämt und zaghaft, wie dies sich für die Gesetzgebung eines Reiches schickt, in welchem neben den strohdächerflickenden Jhenplizen und Köferigen die schienenflickenden Baare und die ordnungsflickenden Stumm und Stimmchen zwar nicht regieren, aber herrschen. Kein Wunder also, daß das Beste, was die Gesetzgebung der Arbeiterschaft in jenem Augenblick bot der Arbeiterinnenschutz wenn schon mit Haß" servirt, noch lange nicht ein gemästeter Ochse" war, sondern blos ein recht dürftig Gericht Kraut".

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Den Klarsten Ausdruck hat die profitfromme Halbheit des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes gefunden in Absatz 5 des§ 137 der Gewerbeordnungsnovelle. Derselbe bestimmt, daß Arbeiterinnen über 16 Jahre, die ein Hauswesen zu besorgen haben, auf ihren Antrag eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu entlassen sind, insofern dieselbe nicht mindestens 11/2 Stunden beträgt". Welch beißende Satire auf den freien Arbeitsvertrag". Der freien Arbeiterin" muß das Gesetz das Recht zubilligen, eventuell eine halbstündige Mehrpause zu Mittag beantragen zu dürfen!

Ueber den grünen Klee wurde die Bestimmung gepriesen von den Ausbeutern und den ihnen Versippten und Verkauften. Sie bedeutete nach ihnen die Wiedergeburt des Familienlebens für viele Zehntausende, den Wiederaufbau jener Sphäre der weiblichen Thätig keit, die einzig und allein im Zeichen des Kochlöffels, des Stopf­pilzes und Fingerhuts stand. Hosiannah! Der proletarischen Haus­frau und Mutter war Heil widerfahren! Ihr wurde das Recht zuerkannt, in 1/2 Stunden an Familienleben zusammenzuklauben, was die kapitalistische Profitgier in elf Stunden und länger täg­lich zerstört.

Wer aber das Wesen des freien Arbeitsvertrags" kannte, d. h. das Wesen der Lohnsklaverei, der mußte die Bestimmung durchaus anders bewerthen. Die Sozialdemokratie hat denn auch bon Anfang an behauptet, daß das Recht der Arbeiterinnen auf eine verlängerte Mittagspause ein papiernes bleibt, so lange die 1/2 stündige Unterbrechung ihres Schaffens nicht gesetzlich festgelegt ist. Die Thatsachen haben ihre Voraussage bewahrheitet, das geht aus den Berichten der Fabrikinspektoren für 1894 hervor, wie auch der Grund, weshalb das betreffende Arbeiterinnenrecht ein papiernes bleibt.

Der Fabrikinspektor für Baden, Wörishoffer, der trefflichste seiner deutschen Kollegen, erklärt in seinem Bericht, daß die Arbei­terinnen meist den Antrag auf die verlängerte Mittags­pause nicht stellen aus Furcht vor Entlassung. Aehnlich lauten die diesbezüglichen Mittheilungen zahlreicher anderer deutscher Gewerbeaufsichtsbeamten. Besonders wuchtig zeugen die Berichte der sächsischen und preußischen Fabrikinspektion von dem papiernen Arbeiterinnenrecht und der soliden Unternehmermacht.

So sagt der sattsam bekannte Dresdener Fabrikinspektor Siebdrat: Es ist mit großer Sicherheit anzunehmen, daß eine

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , Rothebühl­Straße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

nicht geringe Anzahl von Unternehmern diejenigen Arbeiterinnen, welche den erwähnten Antrag stellen, ohne Weiteres entlassen wür den. Die Arbeiterinnen wissen dies und sehen auch in den meisten Fällen ein, daß die Durchführung einer zeitigeren Entlassung vor der Mittagspause Störungen und Umständlichkeiten im Betrieb ver­ursachen und ihre Mitarbeiter eventuell zwingen würde, die Arbeit ebenfalls mit ihnen zu beendigen. Aus diesem Grund verzichten die Arbeiterinnen vielfach auf Stellung des Antrages, da im All­gemeinen der Vortheil einer verlängerten Mittagspause nicht im Verhältniß zu dem Nachtheil steht, der ihnen aus der Kündigung oder bei der Bewerbung um Einstellung aus der etwa geforderten Erklärung, ob sie den Antrag zu stellen gedenken, im bejahenden Falle erwachsen würde."

Die Kollegen des Herrn Siebdrat in den Inspektionsbezirken Chemniz, Zwickau , Leipzig , Meißen , Plauen , Zittau , Aue konstatiren die gleichen Thatsachen, nur in besserem Deutsch, dafür aber ohne Herrn Siebdrat's dichterisches Talent, das Unter­bleiben des betreffenden Antrags im verklärenden Lichte der Ein­sicht und Verständnißinnigkeit der Arbeiterinnen für die Störungen und Umständlichkeiten im Betrieb" zu erblicken. Ohne Siebdrat'sche Feinfühligkeit der Unternehmerwirthschaft gegenüber anerkennen sie vielmehr mit dürren Worten, daß hier und da der Antrag der Arbeiterinnen mit Entlassung geahndet wurde, daß er dort unterblieb, weil der Verlust der Stellung angedroht war oder die Zuweisung, minder beliebter Arbeit" befürchtet ward, daß in den und jenen Betrieben die kapitalistischen Herren erklärten, Arbeiterinnen nicht einzustellen, welche eventuell von dem ihnen gesetzlich zuerkannten Rechte Gebrauch machen würden. Und mehrere der sächsischen Fabrik­inspektoren, welche von nachtheilsloser Durchführung der 11/2 stündigen Mittagspause für Arbeiterinnen berichten, fügen ihrer Mittheilung dem Sinne nach wie der Gewerberath für Leipzig hinzu, daß die größere Mittagspause nur dann gern gesehen wird", wenn für den Fabrikbetrieb keinerlei Ungelegenheiten aus dem früheren Aufgeben der Thätigkeit entstehen", lies: wenn für den Kapitalisten so wie so die Möglichkeit ausgeschlossen ist, während der halben Stunde Mehrwerth aus den Arbeiterinnen herauszupressen.

Daß die kapitalistische Uebermacht, die unbedingte Abhängig­keit der Arbeiterinnen von ihr, die in Frage kommende Gesetzes= bestimmung in den weitaus meisten Fällen todten Buchstaben bleiben läßt, bestätigen auch, wie bereits erwähnt, die Berichte preußischer Fabrifinspektoren.

Nach dem Wissen der Aufsichtsbeamten für Westpreußen und Trier ist in ihren Bezirken der Antrag auf längere Mittags­pause seitens der Arbeiterinnen niemals gestellt worden; aus Furcht vor Entlassung, giebt der Inspektor für Trier zu. Aus den Inspektionsbezirken Koblenz, Düsseldorf , Potsdam , Berlin , Hildesheim - Lüneburg , Magdeburg , Merseburg , Pommern und Liegnis berichten die Gewerbeinspektoren, daß die Fabrikanten erklärten, sie würden die Arbeiterinnen ent­lassen, welche den Antrag auf die um eine halbe Stunde verlängerte Mittagspause stellten. Dies wüßten die Arbeiterinnen, und deshalb unterblieben die Anträge. In den Regierungsbezirken Erfurt und Hildesheim - Lüneburg kamen in einzelnen Fabrik­