seiner Zeit wieder eine Agitationskommission wählte. Verkehrt sei es, Genossin Gerndt gegenwärtig Vorwürfe darüber zu machen, wie sie gewählt worden sei. Es könne sich nur darum handeln, wie sie ihr Amt verwaltet habe, und in dieser Beziehung sei keine Beschwerde gegen sie erhoben worden. Man solle mit der Neuwahl einer Vertrauensperson warten, bis die Männer wieder ihre Vertrauenspersonen wählen. Im weiteren Verlauf der Debatte vertraten die Genossinnen Leuschner, Greifenberg , Gubela, v. Hofstetten und Wengels den gleichen Standpunkt. Letztere betonte, daß die Versammlungsanzeige im Vorwärts" eine große Taktlosigkeit sei. Wollte man die Wahl beanstanden, so hätte das in den nächsten Tagen nach ihrer Vornahme geschehen oder die endgiltige Entscheidung des Prozesses gegen die Agitationsfommission abgewartet werden müssen. Genossin Baader erklärte, daß sie die Versammlung weder veranlaßt noch einberufen habe, sie jedoch für gut halte und ganz damit einverstanden sei. In dem gleichen Sinne äußerte sich Genossin Fahrenwald. Genossin Schädlich betonte, daß der Auftrag zu der Versammlung von etwa 30 Genossinnen ausgehe. Mit 37 gegen 35 Stimmen gelangte darauf folgende Resolution zur Annahme:„ Die von etwa 200 Personen besuchte Volksversammlung verurtheilt das Vorgehen gegen die als Vertrauensperson rechtmäßig gewählte Genossin Gerndt und beschließt, derselben das Amt als Vertrauensperson, dafern sie es noch bekleiden will, zu belassen." Beschlossen wurde ferner, nach dem Parteitag die Wahl mehrerer weiblicher Vertrauenspersonen zu erledigen und die Wahlen vorzunehmen, wenn die Genossen die Neuwahl ihrer Vertrauensleute vornehmen. Die Versammlung bestimmte noch die Genossinnen Luz, Wengels und Fahrenwald zu Revisorinnen für sämmtliche, die Beerdigung der Genossin Wabnitz betreffenden Geldangelegenheiten, die Denkmalsetzung inklusive. Bericht darüber soll in öffentlicher Volks versammlung erstattet werden.
Wir wissen, wie ungemein schwierig es ist, bei persönlichen Reibereien, wie sie unseres Erachtens zwischen den Berliner Genossinnen vorliegen, aus der Form ein richtiges Bild, ein sicheres Urtheil zu gewinnen. Es liegt uns auch durchaus fern, die Berliner Genossinnen hofmeistern zu wollen: sie sind keine Kinder und müssen wissen, was sie thun können und was sie zu verantworten haben. Aber im Interesse der proletarischen Frauenbewegung fühlen wir uns zu der Bemerkung verpflichtet, daß die Versammlung vom 21. August besser unterblieben wäre. Wie fast stets in solchen Streitfällen scheint uns, daß auf jeder Seite etwas Recht und etwas Unrecht miteinander verquickt ist. Wir sind ebenfalls der Ansicht, daß seiner Zeit die
" Ich schwöre es."
" Ich bin seine Schwester!"
Wider Willen stieß er den Namen hervor:„ Franziska?"
Sie sah ihn wieder starr an, dann flüsterte sie, von einem wahnsinnigen Schrecken, einem tiesinnerlichen Entsetzen erfaßt, ganz leise, dicht an seinem Munde:" D, o, bist Du es wirklich, Gölestin?" Sie regten sich nicht, Auge in Auge gebannt.
Um sie herum johlten die Kameraden noch immer!
Das Klirren der Gläser, das Dröhnen der Fäuste und der Absätze, welches den Refrain ihrer Lieder begleitete, mischte sich mit den schneidenden Stimmen der Frauen in die lärmenden Gesänge.
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Er fühlte sie an seiner Seite, von seinen Armen umschlungen, so heiß und so vom Schrecken überwältigt seine Schwester! Da sagte er ihr aus Furcht, daß einer sie hören könnte, ganz leise, so leise, daß sie selbst ihn kaum verstehen konnte:„ Welch' Unglück!"
Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Thränen, und sie stammelte:„ Ist es meine Schuld?"
Aber er fiel ihr plößlich ins Wort:„ So sind sie also todt?" ,, Sie sind todt."
,, Vater, Mutter und der Bruder?"
"
Alle drei in einem Monat, wie ich Dir sagte. Ich blieb allein zurück und hatte nichts weiter als meine wenigen Lumpen, denn ich hatte den Apotheker, den Arzt und das Begräbniß der drei Todten mit dem Erlös aus den Möbeln bezahlen müssen.
" Dann ging ich als Dienstmädchen zu Herrn Kacheur, Du weißt wohl noch, zu dem, der hinkte. Ich war damals gerade fünfzehn Jahre alt. Als Du abreistest, war ich erst vierzehn. Ich habe mich mit ihm vergessen. Man ist ja so dumm, wenn man jung ist. Dann bin ich als Kindermädchen zu dem Notar gegangen, der sich auch mit mir abgab und mich dann in Havre in einem Zimmer unterbrachte. Bald kam er nicht mehr wieder. Drei Tage lang hatte ich nichts gegessen, weil ich keine Arbeit fand. Da bin ich, wie so viele andere, in ein Haus wie dieses hier gegangen. Ich habe manchen Ort gesehen, ja, und ach! manchen schmutzigen Ort! Rouen , Evreux , Lille , Bordeaux , Perpignan , Nizza , dann Marseille , und da bin ich jetzt!"
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Wahl der Genossin Gerndt auf nicht ganz regelmäßige Weise erfolgt ist. Aber in Anbetracht dessen, daß die Wahl unter schwierigen Umständen geschah, und daß gegen die Amtsführung der Genossin Gerndt in der Deffentlichkeit keine Vorwürfe erhoben worden sind, erscheint es uns als kleinlich und taktisch durchaus verfehlt, fünf Monate post festum gegen das Wie der Ernennung zu protestiren. Dieser Protest ist unserer Ansicht nicht geeignet, das einige Zusammenarbeiten der Genossinnen zu fördern und das Ansehen der proletarischen Frauenbewegung bei den Genossen und den Gegnern zu stärken. Gegenwärtig, wo der kapitalistische Staat die proletarische Frauenbewegung in brutalster Weise bekämpft, wo er sich nicht damit begnügt, ihr gegenüber die Geseze möglichst scharf anzuwenden, sondern dieselben möglichst unerhört interpretirt: ist es eine ernste Pflicht der Genossinnen, die schwierigen inneren Verhältnisse nicht noch freiwillig durch innere Wirren und Zerwürfnisse schwieriger zu gestalten. Die schätzenswerthe Kraft jeder Einzelnen von uns hat sich an anderen Aufgaben zu erproben, als an kleinlichen Formfragen.
Krankenhauswohlthätigkeit der Bourgeoisie.
In einem früheren Artikel:„ Etwas von der Proletarierkrankheit", haben wir gezeigt, wie die kapitalistische Wirthschaftsordnung viele Tausende fleißiger Proletarier der Schwindsucht überliefert. In Folgendem ein Streiflicht auf das Loos, welches die bürgerliche Gesellschaft den Lungenkranken bereitet, falls diese nicht versichtig genug waren, mit respektablen Renten geboren zu werden, sondern wenn sie sich als arme Teufel auf Grund ihrer Arbeit durchs Leben schlagen. Ein hochangesehenes französisches ärztliches Fachblatt:„ La semaine médicale"( Medizinische Wochenschrift), trat in den letzten Jahren eifrig für die Errichtung besonderer Asyle für Lungenkranke ein. Behufs Unterstützung der Forderung schilderte es u. A. das Geschick der mittellosen Leidenden folgendermaßen:
In der Wirklichkeit sind die chronisch schwindsüchtigen Kranken der Spitäler wenn man den Standpunkt der Humanität bei Seite läßt schädliche Eindringlinge für die Krankenhäuser. Der Schwindsüchtige ist ein Kranker, welcher, wenn einmal aufgenommen, das in den Spitälern so dringend benöthigte Bett für lange Zeit besetzt hält. Man muß nur sehen, mit welchem Schrecken man den Lungenleidenden auf mancher Krankenabtheilung aufnimmt, wenigstens zu gewissen Zeiten des Jahres, nachdem er Mittel und Wege gefunden hat, seinen
Die Thränen rannen ihr aus den Augen, netten ihre Wangen und flossen über den Mund herab.
Sie begann wieder:" Ich glaubte, Du wärest auch todt, mein armer Cölestin."
Er sagte:„ Ich hätte Dich nicht wieder erkannt, Du warst ja noch so klein, als ich fortging, und jetzt bist Du so groß und stark! Aber wie hast Du mich nur nicht wieder erkannt? Sag!"
Sie machte eine verzweifelte Geberde.
,, Ach, ich sehe ja so viele Männer, daß sie mir alle gleich scheinen!" Er sah ihr noch immer tief in die Augen, von einer unklaren, aber so mächtigen Erregung erfaßt, daß ihm war, als müsse er laut schreien wie ein Kind, das Schläge bekommt. Noch immer hielt er sie in den Armen, und nachdem er sie lange betrachtet hatte, erkannte er sie endlich, die kleine Schwester, die er verlassen hatte sammt allen Theueren, die sie sterben sehen mußte, während er das Meer befuhr. Da nahm er plötzlich das Köpfchen der Wiedergefundenen zwischen seine großen Seemannsfäuste und küßte es brüderlich. Dann stiegen Seufzer, tiefe Seufzer, langgedehnt wie die Wogen des Meeres, aus der Kehle des Berauschten schluchzend empor.
Er stammelte:" Da hab' ich Dich, da hab' ich Dich wieder, Franziska, meine kleine Franzista...."
Dann stand er plötzlich auf, begann mit furchtbarer Stimme zu fluchen und schlug mit solcher Gewalt auf den Tisch, daß die Gläser umfielen und zerbrachen. Er that drei Schritte vorwärts, wankte, breitete die Arme aus und stürzte auf das Gesicht. Schreiend wälzte er sich auf dem Fußboden, schlug mit Händen und Füßen um sich und stieß Seufzer aus, die dem Röcheln eines Sterbenden glichen.
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Die Kameraden betrachteten ihn lachend.
,, Er ist nur betrunken", sagte einer von ihnen.
Da Cölestin noch Geld in den Taschen hatte, bot die Wirthin ihm ein Bett an, und die Kameraden, die selbst so betrunken waren, daß sie sich nicht auf den Füßen halten konnten, schleppten ihn die schmale Treppe empor nach Franziskas Kammer. Hier saß das Mädchen zu Füßen des Lagers und weinte mit dem Bruder bis zum Morgen.