ihnen leidet entsetzlich. Tausende leben geradezu am Rande des Ver­hungerns. Arbeiten sie außerhalb des Schutzes der Fabrikgesetze, so wird die Arbeitszeit bis zur äußersten Anspannung ihrer Kräfte in die Länge gezogen.

Nach wenigen Stunden eines unerquicklichen Schlafes erheben sie sich Tag für Tag, jahraus, jahrein zu demselben Tagwerk einer abtödtenden, physischen Kräfteanspannung, und dies für einen Lohn, der kaum hinreicht, um sie am Leben zu erhalten. Ersparnisse zu machen, welche ihnen über Krankheitsfälle hinweghelfen oder ihnen jene Gemüthsruhe verschaffen könnten, die das tröstliche Bewußtsein des Besitzes eines kleinen Reservefonds verleiht, ist eine Unmöglichkeit für sie. Dies gilt für die Arbeiterinnen, die nur für sich selbst zu sorgen haben; die Lage derjenigen indessen, welche für Andere sowohl als für sich selbst nach Broterwerb gehen müssen, übersteigt jedes Maß des Erträglichen.

Ich weiß jedoch sehr wohl, daß in Bezug auf die harten Be­dingungen, unter welchen so viele Frauen ihr färgliches Brot erwerben, England nicht allein dasteht... Die Thatsache, daß die größere Anzahl der Arbeiterinnen Hilfe dringend nöthig hat, erfährt in feinem Lande Widerspruch. Es handelt sich nur darum, wie diese Hilfe zu leisten ist, oder wie wir Frauen von größerer Erfahrung, besserer Erziehung und mehr Muße, Mittel und Wege ausfindig machen können, durch welche die Arbeiterinnen sich selbst zu helfen vermögen.

Ein kurzer Bericht über die Thätigkeit des Verbands der Frauen­Gewerkvereine" in den 22 Jahren seines Bestehens ist eine theilweise Antwort auf diese Frage... Seit die sogenannte industrielle Umwälzung in der Baumwollenindustrie in Lancashire am Ende des letzten Jahrhunderts die Arbeit aus dem Hause des Handwebers hin­wegnahm und in die Fabriken verlegte, haben Frauen ebenso gut wie Männer in den letzteren gearbeitet. Sowie die Männer begannen, durch Organisationen ihre Interessen zu vertheidigen, scheinen die Frauen nicht ausgelassen worden zu sein. Aber Lancashire war eine Ausnahme. Das stolze Wort der Lancasterarbeiter jedoch: Was wir heute thun, thut das übrige England morgen", ist in Bezug auf das Gewerkvereinswesen der Frauen in gewisser Weise bewahrheitet worden.

Im Jahre 1874 faßte Mrs. Emma Paterson den Entschluß eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, deren Zweck es sein sollte, den Arbeiterinnen aus allen Industriebezirken zu helfen, Gewerkvereine zu gründen. Mrs. Paterson war selbst, streng genommen, feine Ar­beiterin, obwohl sie als zu der Arbeiterklasse gehörig gerechnet werden muß. Sie war eine Zeit lang Sekretärin des Arbeiterklubs und Instituts, und ihr Mann, ein Buchdrucker, hat mit unermüdlicher Energie und Begabung für die Sache der Arbeiter gewirkt. Mrs. Paterson verfügte deshalb über gründliche Einsicht in die Sache.

Sie ging von der Thatsache aus, daß Frauen vielleicht mehr als Männer unter dem Einfluß der Ansichten des Mittelbürgerthums stehen; dieses aber stand zur Zeit der Sache des Gewerkvereinswesens völlig gleichgiltig gegenüber. Ihrer Meinung nach mußte daher der erste wichtige Schritt sein, die Ansichten der Mittelklassen zu erziehen; außerdem brauchte sie Geld für Führung ihrer Propaganda. Sie brachte daher zu ihren Arbeiterfreunden noch ein Komite von Gönnern beider Geschlechter aus den Mittelklassen zusammen. Die Organisation nannte sich Verband zum Schutz und zur Fürsorge für Frauen". Der Name Gewerkverein", so meinte man, hätte für den Augenblick die Sache geschädigt. In den ersten achtziger Jahren, als ihr viele in der Arbeiterbewegung hervorragende Männer Aufmerksamkeit zu­wendeten, nahm sie den Titel an, Frauengewerkverein und Fürsorge­verband", um anzuzeigen, daß man keine Wohlthätigkeitsbestrebungen verfolge. Als Fürsorgeverband" ward die Organisation bezeichnet, weil sie Gönner hatte, die besonders Gewicht darauf legten, daß die Mitglieder in Fällen von Krankheit und Arbeitslosigkeit Unterstützung erhielten. Erst von 1890 ab lautete der offizielle Name Verband der Frauen Gewerkvereine". Als Grundsatz wurde festgestellt, daß ein Gewerkverein je nach den Erfordernissen jedes besonderen Falles Unter­stützung gewähren kann oder nicht.

Mrs. Paterson begann nun, in London verschiedene Vereine ins Leben zu rufen. Einer derselben, der Verein der Buchbinderinnen, besteht noch. Doch kann derselbe als warnendes Beispiel dienen, in Bezug auf den Erfolg der in der gleichen Richtung sich bewegenden Arbeit nicht zu sanguinisch zu sein.

Der Verein bewilligt seinen Mitgliedern in Fällen von Krank­heit und Arbeitslosigkeit Unterstützung und hat in dieser Beziehung gute Dienste geleistet. Er ist jedoch unbedeutend geblieben, zählt nur ungefähr 200 Mitglieder und hat nach gewerblicher Richtung hin gar feine Leistungen zu verzeichnen, troß der hingebendsten und unermüd­lichsten Thätigkeit der Sekretärin, einer Arbeiterin von großer Fähig feit und Kraft selbständigen Handelns.

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Eine große Anzahl anderer Vereine mit gleichen Statuten sind in Frauengewerben und für Frauen allein gegründet worden, haben aber meistens dasselbe Schicksal getheilt. Wenige sind alt geworden, viele sind nach kurzen Monaten eines fümmerlichen Daseins dahin­gesiecht. Dennoch ist ihre Arbeit nicht ganz umsonst gewesen. Sie haben die Arbeiterinnen zusammengebracht, sie zum Ueberlegen ge­zwungen und sie gelehrt, daß sie wegen der Bedingungen, unter welchen sie gemeinschaftlich arbeiten müssen, einander zum Beistand verpflichtet sind. Außerdem waren sie Mittelpunkte, von welchen Mittheilungen eingeholt werden konnten, wenn der Hauptverband" Spezialgesetze zu befürworten hatte, oder wenn parlamentarische Kommissionen Untersuchungen anstellten. Daneben waren sie den Fabritinspektoren behilflich, Uebertretungen der Fabrikgeseze ans Licht zu ziehen. Nichts­destoweniger haben die Förderer der Gewerkvereine für Frauen allein mit Bitterkeit empfunden, daß diese Organisationen den Hauptzweck einer Gewerkschaft nicht zu erfüllen vermochten: nämlich die Aus­übung eines wirklichen Druckes auf die Arbeitgeber, um die Arbeits­und besonders die Lohnbedingungen zu verbessern.

Einige Ausnahmen existiren allerdings. Dank den energischen und ausdauernden Bemühungen seitens der Miß Marion Tuckwell, Sekretärin des Verbandes der Frauengewerkvereine", wurde unter den Buchdruckerinnen und Falzerinnen ein Verein gegründet, der viel Gutes erreicht hat. Er zählt etwa 300 Mitglieder und hat eine be­stimmte Lohntare gegründet, die anzunehmen er mehrere Werkstätten gezwungen hat. Ob dieser Verein sich als fähig erweisen wird, das Feld zu behaupten, kann man freilich jetzt noch nicht sagen. Eine Mitgliederzahl von 300 Arbeiterinnen ist ein guter Anfang, aber für die Dauer nicht zufriedenstellend, wenn man die große Menge der nichtorganisirten Druckerinnen und Falzerinnen bedenkt.

Vor acht Jahren gelang es Mrs. Annie Besant und Mrs. Burrows, in Folge eines erfolgreichen Streits einen Verein der Streichholz­arbeiterinnen zu gründen, der noch besteht. Mrs. Besant und Mrs. Burrows sind indessen Persönlichkeiten von starker Individualität, großen Fähigkeiten und unermüdlicher Thatkraft. Es ist sehr zweifel­haft, ob die Arbeiterinnen ohne sie den Verein bis jetzt zu halten vermocht hätten.

In Lancashire besteht in der Gegend von Denton ein blühender Gewerkverein der Arbeiterinnen der Filzhutindustrie, der 1400 Mit­glieder zählt und dem die Mitglieder der Branche aller kleineren Orte um Denton angehören. Dieser Verein wurde, wie ich glaube, von Arbeiterinnen ganz allein gegründet und scheint sehr erfolgreich zu sein. Man muß aber bedenken, daß diese Organisation von Lancaster Frauen ins Leben gerufen worden ist, der tüchtigsten aller großbritanni­schen Arbeiterinnen.

Die wahre Schwierigkeit, Frauen zu organisiren, liegt nicht in dem Mangel an verständigem Interesse für die Gewerkschaft, viel­mehr in den besonderen Schwierigkeiten des Arbeiterinnenlebens. Sehr selten wird das Mädchen Arbeiterin mit dem festen Vorsatze, bis an ihr Lebensende in ihrem Berufe zu verbleiben. Sie hofft auf eine gute eheliche Verbindung, auf die Unterstützung der Angehörigen und hat deshalb geringeres Interesse an den Arbeitsbedingungen des Be­triebs, den sie wie ein Zugvogel zu verlassen gedenkt. Andererseits fordert er von ihr keine geringe Selbstverleugnung, von ihrem Wochen­lohn von 6 bis 7 Schillingen einen wöchentlichen Beitrag von 2 Pence zu bezahlen und ebenso große Selbstaufopferung, nach langer harter Tagesarbeit noch einer Versammlung beizuwohnen. Zudem haben eine große Zahl von Arbeiterfrauen häusliche Pflichten, die sie nicht bei Seite schieben können und wollen, und welche die Theilnahme an Versammlungen unmöglich machen. Dazu kommt, daß viele Frauen als Heimarbeiterinnen thätig sind, wenig oder nicht von ihren Ar­beitskameradinnen und deren Arbeitsbedingungen wissen und kaum zu. sammengebracht und mit Solidaritätsgefühl erfüllt werden können So ist es begreiflich, daß die Veranstalter der mit vielen Kosten und großer Mühe zusammengebrachten Versammlungen schließlich, besonders wenn die erste Begeisterung verraucht ist, doch nur ein halbes Dutzend Frauen als Zuhörerinnen haben und vor meistens leeren Bänken reden.... Wenn man völlig aufrichtig ist, so muß man auch sagen, daß man ( gemeint sind die bürglichen Frauen, die in England meist jene Agi­tation für die Nur Frauengewerkvereine betreiben) zu den Arbeite­rinnen nur schwer in jenem Tone sprechen kann, der sie mit genügendem Enthusiasmus erfüllen könnte, zu Hunderten in den Schußbann eines Frauengewerkvereins zu ziehen.

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Nach solchen Erfahrungen über die fast unübersteiglichen Schwie­rigkeiten, Gewerkvereine für Frauen allein zu gründen, widmet der Verband für Frauengewerkvereine" jetzt seine größte Kraft den Ar­beitergewerkschaften, welche Frauen als Mitglieder aufnehmen. Die Frauen werden durch den Einfluß der Männer, mit denen sie in den­selben Fabriken zusammen arbeiten, zu regelmäßigeren Zahlungen veranlaßt, auch haben sie mehr Vertrauen, sich einer Organisation