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werden. Was war das Resultat? Einige wenige Versammlungen tamen zu Stande, dann schlief das Interesse ein und Niemand kümmerte sich mehr darum.
fügung stehen, desto mehr müssen sie in richtiger Weise ausgenützt| stundentag( im Anschluß an die bekannte Reichstagsdebatte) agitirt und vor wirkungsloser Verausgabung behütet werden. Eine kleine Armee, wo jeder einzelne Mann an der richtigen Stelle steht und eiserne Disziplin Alle umfaßt, ist stets einem großen, aber ungeordneten und undisziplinirten Heer überlegen. Darum müssen wir eine Organisation schaffen, welche nicht nur den einzelnen Referentinnen mit Rath und That zur Seite steht, wenn sie eine direkte Aufforderung erhalten, sondern auch Redner und Rednerinnen zur Besprechung bestimmter Themen auffordert, deren Erörterung sich aus bestimmten Gründen als nothwendig erweist. So wären jetzt z. B. Vorträge über die Gesetze der verschiedenen Staaten in Bezug auf die Hausindustrie von großem Nutzen gewesen.
Genossin Baader hat mir nun freilich zwischen den Zeilen ihres Artikels zu verstehen gegeben, daß ich die Bildung" ungebührlich hoch anschlage und selbst in einen gewissen Bildungsdünkel verfallen bin, und doch ist gerade sie für mich eines der ersten lebendigen Beispiele dafür gewesen, wie viel Zeit und wie viel Mühe eine sozial demokratische Agitatorin es sich kosten läßt, um sich für die Agitation vorzubereiten, und wie schwer ihr diese Vorbereitung gemacht wird. Um zu erkennen, daß das„ gerügte lückenhafte Wissen" der Proletarierinnen ihren Lebensverhältnissen entspringt, brauchte ich der Bewegung gar nicht, auch nicht erst ganz kurze Zeit" anzugehören, denn diese einfache Wahrheit sah ich und sieht Jeder vom ersten Augenblick an, da ihm für die sozialen Zustände des arbeitenden Volkes die Augen aufgehen. Auch habe ich den Mangel an Kenntnissen nicht gerügt" als einen Fehler, der die Einzelnen etwa in meinen Augen herabsetzte, sondern ich habe ihn nur als eine Thatsache konstatirt und mich bemüht, einen Weg zu finden, um sie zum Vortheil der einzelnen Genossin wie der gesammten Bewegung abzuändern.
Dank der polizeilichen Verfolgung und der Auflösung unserer Vereine fehlt es seitdem an Ordnung und Disziplin. Wir gehen nicht mehr, das müssen wir Alle ehrlich gestehen, in gleichem Schritt, in fester Schlachtordnung vor, sondern streben, je nach Laune und Gutdünken, nach allen Richtungen auseinander. Genossin Zetkin hat an einer Wendung in meinem ersten Artikel über das„ Vielanfangen und Wenigvollenden" sichtlich Anstoß genommen. Zur Illustration meines Ausspruches erinnere ich jedoch nur an einige Thatsachen. Wir Alle waren übereingekommen, daß wichtige Tagesfragen als Gegenstand der Referate für Versammlungen in ganz Deutschland festgestellt werden müßten: in diesem Winter und Frühjahr sollte für die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren und für den Acht
aufgetragenen Mittagessen eingeladen, das in der großen Küche eingenommen wurde. Noch nie hatte sie sich so unterhalten! Diese bäuerliche Ausschmückung, diese Speisen, die man direkt vom Kochgeschirr auf die Teller legte, der Bauerndialekt, den ihre Verwandten sprachen, bis auf ihre eigene Rolle, die sie spielte, all das schien ihr ein unschäßbares, originelles Erlebniß. Beatrice fehrte wiederholt in die Mühle zurück, ehe sie sich zu erkennen gab. Inzwischen hatte sie Gelegenheit gehabt, ihre Verwandten fennen zu lernen. Sie schäßte ihren Muth bei der Arbeit, sie bewunderte ihre Ausdauer bei der Plage, sie wunderte sich über ihre Gewöhnung an die Armuth. Ihr Herz preßte sich zusammen, wenn sie sie am Abend derart ermattet von dem anstrengenden Tagewerk heimkommen sah, daß sie nicht Kraft zum Sprechen hatten, noch die, ein Buch zu lesen. Sie verglich das Leben der abhezzenden Arbeit ihrer Vettern mit ihrer eigenen Existenz; denn sie beurtheilte sie weit anders als ihre Familie und stellte sie über den Durchschnitt. Im Geheimen war sie von der Feinheit ihres Verstandes wie auch von ihrem moralischen Werth erstaunt. Ihre alterthümliche Sprechweise mit ihren malerischen Wendungen hatte sie tausend interessante und seltsame Dinge gelehrt, die man in der Stadt nicht kennt. Sie kam zu der Schlußfolgerung, daß diese einfachen Menschen aus dem Volke der Wahrheit aller Dinge näher standen, als die künstliche Gesellschaft, der sie in den Londoner Salons begegnete.
Inzwischen war ihr Vater vom Schlage gerührt worden, er wurde in einen Kurort geschickt, wohin ihn seine Tochter in der Eigenschaft einer Krantenpflegerin, Verwalterin und Sekretärin begleitete. Während sie dort waren, wurde in London eine mächtige Bewegung, die Arbeitslosen betreffend, gefördert. Alle Zeitungen der Hauptstadt nahmen entweder für oder gegen Partei. Beatrice Webb interessirte sich auch lebhaft für die Frage und wollte ihre Ansicht Allen ins Gesicht sagen und schrieb unter einem Pseudonym einen Offenen Brief " an die„ Pall Mall Gazette ",
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Je ernster der Kampf ist, den wir kämpfen, desto nothwendiger bedürfen wir der Ordnung und der Disziplin, und Beides muß durch eine Organisation geschaffen werden, der wir uns freiwillig unterordnen und zu der mein Plan einen Baustein bildet. Zu den allgemeinen Erwägungen, welche gegen diesen geltend ge macht wurden die Genossinnen Zetkin , Baader, Köhler und Eichhorn urtheilen ziemlich übereinstimmend gehört auch die, daß er eine besondere Frauenbewegung anstatt der allgemeinen, Männer und Frauen umfassenden Arbeiterbewegung zur Voraussetzung und zur Folge habe, und daß alle uns zur Verfügung stehenden Kräfte im Dienste des Klassenkampfes wirken, und nicht durch staatswissenschaftliche Studien und Hilfsarbeiten in Anspruch genommen werden sollen.
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Allerdings soll die von mir vorgeschlagene Organisation im Dienste der sozialistischen Frauenbewegung stehen, die zwar eng verbunden ist mit der sozialistischen Arbeiterbewegung, aber doch, vermöge innerer und äußerer Umstände, eine selbständige Existenz beanspruchen muß. Die Agitation unter dem weiblichen Proletariat muß anders eingerichtet werden, als die unter dem männlichen, denn der Gesichtskreis der Arbeiterin ist weit enger, als der des Arbeiters, sie ist weit mehr als er in alten Vorurtheilen befangen, sie wird durch den Kampf ums Dasein körperlich und geistig weit mehr aufgerieben. Dabei steht sie rechtlich mit den Unmündigen auf einer Stufe, und der große Strom des politischen Lebens, der schon den jungen Mann mit sich fortreißt, rauscht an ihr vorbei, als ginge er sie nichts an. Gewiß ist es die Aufgabe der Partei wie Genossin Zettin sagt-, das Proletariat zum Bewußtsein seiner revolutionären Aufgabe zu erziehen und es für ihre Erfüllung zu organisiren. Es handelt sich für mich auch nicht darum, diese Aufgabe durch eine andere ersetzen zu wollen, sondern vielmehr darum, sie in Bezug auf das weibliche Proletariat in praktischer, den inneren und äußeren Verhältnissen Rechnung tragender Weise auszuführen und durch meinen Plan etwas Weniges, aber, wie ich glaube, Werthvolles dazu beizutragen. Gewiß wünsche auch ich, daß alle unsere Kräfte im Dienste des Klassenkampfes wirken sollen, es fragt sich nur, wie sie für diesen Dienst am besten ausgebildet und fähig gemacht werden. Ich bin z. B. der Ansicht, daß eine Agitatorin weit mehr leistet, die sich vor
eine praktische Urkunde, wie die eines Mannes, der gewöhnt ist, Hunderte von Arbeitern zu leiten; dieses Schreiben machte ungemeines Aufsehen, ein Aufsehen, von dem sie entzückt war: Es war die Offenbarung ihrer schriftstellerischen Begabung.
Aber trotz dieses großen Erfolges dachte sie nicht, daß sie schon genutg wisse. Ganz im Gegentheil war sie der Ueberzeugung, daß nun erst ihr eigentliches Studium und ihre Ausbildung beginne. Während 12 Jahren studirte sie mit eisernem Fleiße das Schriftstellerhandwerk. Sie las die Werke der besten eng lischen Schriftsteller und bemühte sich, ihr Verfahren zu ergründen. Sie bedeckte unzählige Seiten Papier , und da sie Niemanden hatte, der ihre Versuche kritisirte, so mußte sie die Strenge gegen sich aufs Höchste steigern. Nach achtzehn Monaten langer Arbeit glaubte sie, der Führung des Handwerkszeugs mächtig zu sein, nun fehlte ihr das Material zum Werke, von dem sie träumte. Es waren gründliche Datenstudien über die Lage der Londoner Arbeiter, die sie veröffentlichen wollte; aber dazu mußte sie in die Hauptstadt zurückkehren. Da der Zustand ihres Vaters sich verschlimmert hatte, kamen die verheiratheten Schwestern zu ihm, und so wurde die Gegenwart der Jüngsten um so weniger nothwendig, als die Krankheit Monate, ja noch Jahre dauern konnte.
Fräulein Potter besaß ein eigenes großes Vermögen, ste verstand es ausgezeichnet, sich selbst zu schüßen, und so kam der Gedanke, sich in London niederzulassen, und das Leben gleich einem jungen Studenten zu führen, ihr ganz natürlich. Das gab ihr den nöthigen Spielraum, dessen sie bedurfte, für die so sehr schwierigen Forschungen, die sie unternehmen wollte.
In der City im Zentrum dieser riesigen Stadt miethete sie in einem sehr einfachen Familienhotel ein möblirtes Zimmer. Niemand wunderte sich, und keiner suchte sich zu erkundigen, wer dieses junge Mädchen sei, denn der Engländer liebt zu sehr seine persönliche Freiheit, um die Anderer durch Neugierde zu stören. Raum in ihrem Heim eingerichtet, machte sich Beatrice mit Be