giltigen Hinleben aufzurütteln. Unsere Agitatorinnen haben damit eine ungeheure Arbeit auf ihre Schultern genommen. Gelingt es ihnen, aus niedergetretenen armen Frauen aufgeklärte Genossinnen zu machen, so ist ihr Erfolg höher anzuschlagen, als der mancher männlicher Agitatoren; er wird nur geringer geachtet, weil er sich nicht an der Zahl der Wahlstimmen messen läßt.

Das männliche Proletariat ist mit Riesenschritten vorwärts gegangen; das weibliche hat trotz aller Anstrengungen einzelner, auf­opferungsvoller Frauen nicht gleichen Schritt gehalten, und zwar nicht nur, weil angesichts der weit schwereren Bedingungen die zur Verfügung stehenden Kräfte nicht zahlreich genug waren, sondern auch weil die Unterstützung seitens der Partei und der männlichen Genossen keine ausreichende ist. Sie nehmen die Arbeiterinnenbewe­gung im Allgemeinen nicht ernst genug, theils weil sie nach außen zu kleinlich erscheint, theils weil sich ihr Fortschritt nicht an positiven, für die allgemeine Bewegung wichtigen Resultaten abmessen läßt und die indirekten Wirkungen ihrer Stagnation oder ihrer Entwicklung viel zu gering angeschlagen werden. Für wie viele unter den Ge­nossen steht der Theil des Erfurter Programms, der sich auf die Gleichberechtigung der Geschlechter bezieht, nicht nur auf dem Papier, sondern ist ihnen zu einem lebendigen Theil ihrer sozialdemokratischen Ueberzeugung geworden, die sie im Verhalten und Handeln des täg lichen Lebens bethätigen?

Wohl haben wir allen Grund, stolz zu sein auf unsere Partei, die einzige Deutschlands  , welche den Kampf für die Rechte der Frau auf ihre Fahne geschrieben hat und im Parlament stets unsere Sache führt, aber wir haben keinen Grund, die Unterstüßung, die sie unserer internen sozialdemokratischen Arbeiterinnenbewegung bisher hat an­gedeihen lassen, so hoch anzuschlagen, daß wir aus lauter Bescheiden­heit keine Forderungen an sie zu stellen wagen dürfen. Es ist ja nichts Ungeheures, was wir verlangen, wenn wir die Anstellung einer Sekretärin und die Einrichtung eines Bureaus fordern. Mir scheint die Frage wichtig genug, um, nachdem sie hier in so ausgiebiger Weise erörtert worden ist, dem nächsten Parteitag zur Entscheidung vorgelegt zu werden.

Wir kommen auch nicht wie Bettler mit ganz leeren Händen, wir bringen der Partei uns selbst und unsere Arbeitskraft. Auch die Genossinnen helfen den Parteisäckel füllen, auch sie stehen mit im Bordertreffen der agitatorischen Kämpfe, auch sie werden, bei Gelegen­heit der bevorstehenden Wahlen, der Partei wesentliche Dienste leisten. Angesichts dessen haben wir wohl das Recht, eine Unterstützung von ihr zu verlangen und wir haben die Pflicht, es zu thun, wenn wir den Stand der Arbeiterinnenbewegung vorurtheilslos betrachten und uns ihre große Bedeutung klar zu machen suchen. Es kann bald einmal der Tag kommen, wo das weibliche Proletariat in seiner unaufgeklärten Masse mit Zentnerschwere die Vorwärtsstrebenden zurückhalten wird und sie es bitter bereuen werden, nicht bei Zeiten für die Beflügelung auch ihrer Schritte gesorgt zu haben. Berlin  .

Notizentheil.

( Von Tily Braun und Klara Betkin.)

Lily Braun  .

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Gewerkschaftliche Arbeiterinnen- Organisation. Dem ,, Verband der in Buchbindereien, der Papier  - und Ledergalanteriewaaren Industrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands  " gehörten am Schlusse des Jahres 1896 5433 männliche und 2305 weibliche Mitglieder an. Die Zahl der gewerkschaftlich organisirten Arbeiter des betreffenden Be­rufs hatte am Schlusse des Vorjahres 3904, die der Arbeiterinnen nur 686 betragen. Die männlichen Mitglieder des Verbandes haben mithin um mehr als 39 Prozent, die weiblichen dagegen um etwas über 236 Prozent zugenommen, ihre Zahl hat sich mehr als verdrei­facht. Die meisten weiblichen Mitglieder zählt der Verband in Berlin  : 1129; Leipzig  : 311; Stuttgart  : 262; Altona   195; Hamburg  : 186; München  : 81; Hannover: 59. Jn 17 weiteren Orten gehörten der Organisation von 1 bis 11 Arbeiterinnen an. An Beiträgen wurden 1896 von den männlichen Mitgliedern 49 123 Mt. aufgebracht oder nach dem durchschnittlichen Jahresstand pro Mit­glied 10,52 Mt.= 42 Beitragswochen. Die weiblichen Mitglieder zahlten dagegen an Beiträgen 4723,70 Mt. oder pro Person nach der angegebenen Norm berechnet 3,16 Mt. 31,6 Beitragswochen. An Extrasteuern leisteten die männlichen Mitglieder des Verbandes 9253,20 Mark oder nach der durchschnittlichen Mitgliederzahl des 3. und 4. Quartals berechnet pro Kopf 1,79 Mt.; die von den weib­lichen Mitgliedern gezahlten Extrasteuern beliefen sich auf 1437,75 Mt., d. i. 0,70 Mt. pro Kopf nach dem durchschnittlichen Mitgliederstand des 3. und 4. Quartals berechnet. Die materielle Leistungsfähigkeit

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der Arbeiterinnen steht also bedeutend hinter derjenigen der Arbeiter zurück und muß hinter ihr zurückstehen in Folge der niedrigen Ent­lohnung der Frauenarbeit. Die vorliegenden Zahlen beweisen einen höchst erfreulichen Fortschritt der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen des Buchbindergewerbes.

Dem ,, Verein graphischer Arbeiter und Arbeiterinnen zu Berlin  " gehörten am Schlusse des letzten Jahres 1142 männliche und 146 weibliche Mitglieder an. Die Einnahmen und Ausgaben der Organisation balanzirten mit 1359,65 Mt.

Soziale Gesetzgebung.

Die Verordnung des Bundesrathes, den Schutz der Kon­fektions- und Wäschearbeiter betreffend, ist am 31. Mai er­schienen. Sie dehnt bekanntlich die Bestimmungen der§§ 135-139 und des§ 139b der Gewerbeordnung auf die Werkstätten der Kleider­und Wäschekonfektion aus und legt im Wesentlichen das Folgende fest: Kinder unter 13 Jahren dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die Be­schäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von 6 Stunden täglich nicht überschreiten. Junge Leute zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden. Beginn, Ende und Pausen der Arbeitszeit sind zu regeln. Arbeiterinnen dürfen nicht in der Nachtzeit von 8½½ Uhr Abends bis 5% Uhr Morgens und am Sonnabend, sowie den Vorabenden von Festtagen nicht nach 5% Uhr Nachmittags beschäftigt werden. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahren darf die Dauer von 11 Stunden täglich, an den Vorabenden der Sonn- und Festtage von 10 Stunden nicht übersteigen. Zwischen den Arbeitsstunden muß den Arbeiterinnen eine mindestens einstündige Mittagspause gewährt werden. Arbeiterinnen über 16 Jahren, welche ein Hauswesen zu besorgen haben, sind auf ihren Antrag eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu entlassen, sofern diese nicht mindestens 11/2 Stunden beträgt. Wöchnerinnen dürfen während 4 Wochen nach ihrer Niederkunft überhaupt nicht und während der folgenden 2 Wochen nur beschäftigt werden, wenn das Zeugniß eines approbirten Arztes dies für zulässig erklärt. Der Verordnung sind so viele Ausnahmebestimmungen angehängt, daß ihre Wirkung zum Schuße der betreffenden Arbeiterschaft eine äußerst geringfügige bleiben muß. Arbeiterinnen über 16 Jahren können an 60 Tagen im Jahre bis zu 13 Stunden beschäftigt werden. Werk­stätten, in welchen der Arbeitgeber" ausschließlich zu seiner Familie gehörende Personen beschäftigt, fallen überhaupt nicht unter die Be­stimmung der Verordnung. Diese gelten auch nicht für Werkstätten, in denen nur gelegentlich nicht zur Familie gehörige Personen" be schäftigt werden. Weiter sind die gesetzlichen Vorschriften nicht auf Werkstätten ausgedehnt, in welchen die Herstellung oder Verarbeitung von Waaren der Kleider- und Wäschekonfektion nur gelegentlich er­folgt". Endlich hat die Verordnung nur für Werkstätten Geltung, in welchen die Herstellung von Konfektionsartikeln im Großen" erfolgt. Drängen diese Ausnahmebestimmungen nicht die Frage auf: wie viele bleiben der Werkstätten, die gesetzlich geschützt werden sollen und wie werden sie geschützt? Das bischen Konfektionsarbeiterschutz ist offenbar mit zarter Berücksichtigung der Unternehmerinteressen nach der Losung zugeschnitten: Wasch mir den Pelz und mach ihn nicht naß.

Das neue Fabrik- und Werkstättengesetz der australischen Kolonie Viktoria bestimmt unter anderen ernsten Sozialreformen auch die Einsetzung von gemischten Kommissionen, die aus Arbeit­gebern und Arbeitern bestehen, welche auf Grund des allgemeinen und geheimen Wahlrechts in ihr Amt gewählt werden. Diese Kom­missionen oder Arbeitsämter für die verschiedenen Industriezweige sollen über alle das Arbeitsverhältniß betreffenden Fragen berathen und beschließen, u. a. auch über die Lohnhöhe. In mehreren Berufen haben die Kommissionen bereits einen Minimallohn festgelegt, so z. B. für Tischler einen solchen von 45 Schilling( Mark) pro Woche.

Frauenarbeit auf dem Gebiete der Industrie, des Handels und Verkehrswesens.

Die Zahl der weiblichen Arbeiter in Hessen   hat sich nach dem Jahresbericht der Fabrikinspektion für 1896 in den letzten acht Jahren bedeutend vermehrt. In Oberhessen   waren im Berichtsjahre in 39 Zigarrenfabriken 596 erwachsene und 86 jugendliche männliche Arbeiter beschäftigt. Die Zahl der hier thätigen erwachsenen weib­lichen Arbeiter betrug dagegen 1661 und die der jugendlichen Arbei­terinnen 233. Seit 1888 ist die Zahl der erwachsenen männlichen Arbeiter in den Zigarrenfabriken nur um 90 gestiegen, die der Ar­beiterinnen aber um 582. Neben der Ausdehnung der Frauen­arbeit fällt besonders der Umstand auf, daß die Fabriken mehr und mehr auf das Land verlegt werden. 1888 befanden sich in Gießen