gerader Linie. In diesem Umstand ist wohl einer der wesentlichsten Gründe dafür zu suchen, daß die Häufigkeit der Ehescheidungen in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung, in Stadt und Land eine verschiedene ist. Die selteneren Ehescheidungen unter der bäuerlichen Bevölkerung sind unserer Ansicht nach keineswegs der Ausdruck einer höheren, gefesteteren Sittlichkeit. Sie fünden nur die Thatsache, daß auf dem Lande die Entwicklung der wirthschaftlichen Verhältnisse und die Entwicklung der modernen Persönlichfeit noch nicht soweit fortgeschritten ist, wie in den Großstädten. Für Glück und Bestand der Ehe sind hier noch in erster Linie wirthschaftliche und nicht moderne menschliche Beziehungen bestimmend. Die Persönlichkeit widerstrebt nicht dem wirthschaft: lichen Charakter der Ehe, sondern paßt sich ihm an. Sitte und religiöses Dogma bewahren deshalb auf dem Lande bezüglich der Auffassung von Ehe und Ehescheidung einen großen Theil ihrer alten Kraft, die moderne Persönlichkeit ist noch nicht groß und start genug, sich ihrem bindenden Einfluß zu widersetzen.
Es scheint für unsere Auffassung zu sprechen, daß nach einer Statistik der Ehescheidungen aus den fünfziger Jahren und für das Königreich Sachsen( in von Oettingers Moralstatistik) der höchste Prozentsaz von Ehescheidungsanträgen auf die Kreise der Künstler und Gelehrten fam. Auf je 100 000 Ghen von Künstlern und Wissenschaftlern entfielen nämlich 445 Anträge auf Scheidung oder je eine Klage auf 206 Ehen; auf je 100 000 Ghen von Dienstboten dagegen nur 289 Scheidungsanträge oder je eine Klage auf 346 Fälle. Wir übersehen nicht, welch mancherlei Umstände gerade in den betreffenden Kreisen dazu beitragen, daß die Zahl der Ehescheidungen verhältnißmäßig so groß ist. Es ist von Einfluß darauf die leichtere, manchmal leichtsinnige Eingehung der Ehe, die häufigere wirthschaftliche Selbständigkeit der Frau; das Leben in größeren Städten, wo die einzelne Persönlichkeit leichter in der Allgemeinheit untertaucht und weniger unter dem Odium leidet, das in fleineren Orten den Geschiedenen anhaftet; die kritische freie Bewerthung und Nichtachtung von Sagungen der Konvention, der landläufigen Moral und der kirchlichen Dogmas. Schon diese freie Bewerthung aber ist ein Kennzeichen des modernen Menschen, der in Sachen der Liebe und Ehe gegenüber dem Herkommen, der Philistermoral und einem vorgeblich göttlichen Gebot das Recht und die Freiheit der Persönlichkeit, ihren Anspruch auf Glück betont und erkämpfen will. Und für die der Ehescheidung selbst vorausgehende innere Zerrüttung der Ehe ist sicher gerade die reich differenzirte, empfindliche, leicht vibrirende Individualität des Gelehrten und Künstlers von wesentlichstem Einfluß. Sie stellt vielseitigere, tiefere, feinere Ansprüche betreffs des geistig- sittlichen Gehalts der Ehe, sie wird leichter in ihrer Eigenart verlegt, und sie leidet schmerzlicher und nachhaltiger unter jedem Mißton, jeder Enttäuschung.
Angesichts der gekennzeichneten Umstände erscheint als ungemein roh und engherzig die Auffassung, welche in der steigenden Zahl der Ehescheidungen nichts sieht, als den Ausdruck wachsender UnSittlichkeit. Die Ehescheidung ist vielmehr der stärkste Ausdruck für die höchst sittliche Rebellion der modernen Persönlichkeit gegen die Unterordnung ihres lebendigen Menschenthums unter todte Sachbeziehungen, gegen ungesunde, zerrüttete und zerrüttende Verhältnisse in der Ehe, gegen ihre Begleiterscheinungen, das Hetären und das Hahnreithum.
Auch dem Unbefangenen erschreckt die Statistik der Eheschei dungen, aber feineswegs weil ihm die vorliegenden Zahlen zu hoch, sondern weil sie ihm viel zu niedrig dünken. In der That viel zu niedrig, wenn man des Umfangs, des grauenhaften Charakters und der traurigen Folgen der Ehemisère gedenkt. Der zahlreichen Ehen, die lediglich unter dem Drucke wirthschaftlicher Rücksichten geschlossen und durch den Zwang wirthschaftlicher Rücksichten zusammengehalten werden, und in denen die Beziehungen der Gatten sich in den drei Worten erschöpfen: Prostitution, Brutalität und Heuchelei. Der viel zu vielen beklagenswerthen Männer und Frauen, die in der Langeweile gewohnheitsmäßig nebeneinander und miteinander dahinleben, deren geistig- sittliche Eigenart in Folge der unbefriedigenden ehelichen Verhältnisse verkümmert und weltt, in falsche, enge und niedrige Entwicklungsbahnen gelenkt wird, sich nicht zu der von Beanlagung und Sehnsucht gezeigten
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Höhe zu entfalten vermag. Denn unserer Auffassung nach beginnt die unglückliche Ehe nicht erst dort, wo eine jener groben Verschuldungen vorliegt, welche das Gesetz als Scheidungsgrund zuläßt. Vielmehr schon da, wo die eheliche Gemeinschaft nicht zu einem steten gemeinsamen Vorwärts und Aufwärts der Gatten führt, zu einer Vertiefung und Verfeinerung ihrer Individualitäten, zu einem immer innigeren Miteinanderwachsen und Zusammenwachsen derselben. Wo dies nicht der Fall ist, da gilt ja nur zu allgemein von der Wechselwirkung von Persönlichkeit und Ehe der erschreckend wahre Ausspruch, mit dem der geistvollste Philosoph des Spießbürgerthums das Weib Zarathustra antworten läßt: Wohl brach ich die Ehe, aber erst brach die Ehe mich." Wo dies nicht der Fall ist, da sproßt sie üppig empor jene vom Nazarener trefflich gekennzeichnete ehebrecherische Gedankenfünde des Begehrens nach einem anderen Mann, einer anderen Frau, das unter Umständen vergiftender wirken fann, als die in einer leidenschaftlichen Aufwallung des Bluts begangene grobsinnliche Thatsünde des Ehebruchs.
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Das Recht der modernen Persönlichkeit heischt leichtere Lösbarkeit der Ehe. Daß diese auch im höheren Interesse der Kinder liegt, werden wir gelegentlich nachweisen. Nicht Erschwerung der Ehescheidung muß deshalb die Losung Derer lauten, welche die Beziehungen der Geschlechter in der Ehe und außerhalb der Ehe versittlichen und gesünder gestalten wollen. Vielmehr Erleichterung der Ehescheidung, und dies im Interesse der Sittlichkeit. Durch Beseitigung der gesetzlichen Bestimmungen, welche heutigentags die Ehescheidung nur im Falle groben Verschuldens zulassen, würden sich die Gesetzgeber verdienter um das Emporblühen einer gesunden Sittlichkeit machen, als durch das Ausflügeln und Votiren der meisten Paragraphen der lex Heinze.
Bur Nachricht!
Raummangels halber mußte die Rubrik" Aus der Bewegung" mit Berichten aus Berlin , Hamburg , Dresden , München und Horgen zurückgestellt werden.
Weibliche Fabrikinspektoren.
Der Kursus für die Ausbildung der Fabrikinspektorinnen in München ist eröffnet worden und zwar zunächst mit Vorlesungen über Gewerbehygiene. Denselben werden sich Vorlesungen anschließen über Arbeiterschutzgesetzgebung und eventuell über Nationalökonomie. Nicht weniger als einundzwanzig Damen nehmen an dem Kursus
Die Zahl der Bewerberinnen um die von der Regierung vorgesehenen zwei Assistentinnenstellen ist also eine große.
Die Austellung von zwei Assistentinnen der Fabrik inspektion in Hessen wird demnächst erfolgen. Wie der Regierungsvertreter in der hessischen Kammer neulich erklärte, werden die beiden Stellen in nächster Zeit ausgeschrieben und zwar sollen in erster Linie die Bewerberinnen berücksichtigt werden, welche bereits Stellungen innehatten, die genaue Kenntnisse und praktische Erfahrungen betreffs der einschlägigen Verhältnisse voraussetzen lassen. Seitens der Regierung nimmt man an, daß vielleicht bisherige Aufseherinnen in Fabriken für die Amtsthätigkeit der Assistentinnen besonders geeignet seien. Eine der Assistentinnen soll dem angenommenen sozialdemokratischem Antrage gemäß in dem neu zu schaffenden Inspektionsbezirk Offenbach ihren Sitz haben, weil in der dortigen Industrie zahlreiche Arbeiterinnen beschäftigt sind. Außer dem betreffenden Antrage gelangte noch ein anderer zur Annahme, welcher eine weitere Reorganisation der hessischen Fabrikinspektion bezweckt. Die Fabrikinspektoren, Assistenten und Assistentinnen sollen darnach künftighin einem Chef der Gewerbeaufsicht unterstellt werden. Nicht blos die sozialdemokratische Fraktion des hessischen Landtags hatte eine Reorganisation der Fabrikinspektion gefordert, auch aus dem Lager der Nationalliberalen und des Zentrums waren diesbezügliche Anträge eingebracht worden. Die weitgehendsten Forderungen wurden natürlich von den Sozialdemokraten erhoben, die die Schaffung von vier Inspektionsbezirken verlangten. Anerkannt sei,