Nr. 15.

Die Gleichheit.

8. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2970) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60..

Stuttgart  

Mittwoch, den 20. Juli 1898.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Juhalts- Verzeichniß.

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Was haben die Proletarierinnen von dem neuen Reichstag zu erwarten? Dringende Aufgaben. Von H. F.- Anna Kulischoff. Feuilleton: Frauenleben im Transvaal  . Von O. Kalt- Reuleaux. Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Frauenarbeit auf dem Ge­biete der Industrie, des Handels und Verkehrswesens. Soziale Gesetz­gebung. Sozialistische Frauenbewegung im Auslande. Frauen­bewegung.

Was haben

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara gettin( Eißner), Stuttgart  , Rothebühl­Straße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Nichts weniger als erfreulich sind unter diesem Gesichts­winkel die Aussichten, welche sich dem weiblichen Proletariat be­treffs des gesetzgeberischen Wirkens für die nächsten fünf Jahre eröffnen.

Die Parteien fehren im großen Ganzen in der alten Stärke aus dem Wahlkampf in den Reichstag   zurück. Wohl haben die Kartellparteien eine kleine Schwächung erfahren, aber nicht blos die Linke hat davon profitirt am meisten die Sozialdemokratie sondern auch das reaktionäre Zentrum. Praktisch fällt die un­bedeutende Machtverschiebung zu Gunsten der Opposition so gut wie gar nicht ins Gewicht. Gewiß, daß durch den Ausfall der Wahlen

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die Proletarierinnen von dem der Vorstoß des Kartells, d. h. der unter dem Segen der Staats­neuen Reichstag zu erwarten?

Wollte das weibliche Proletariat die Aussichten auf eine all­seitige Hebung seiner Lage nach den Schlagworten und Verheißungen bewerthen, welche im Wahlkampf gar reichlich von den Lippen der bürgerlichen Politiker geträufelt sind, es müßte wähnen, ihm winke ein goldenes Zeitalter in nächster Zukunft. Nationalmiserable und ochsengräfliche Kandidaten, bürgerliche Demokraten, Antisemiten und ultramontane Schwärmer für Beschränkung der Schulpflicht und des Unterrichtsstoffs und Erhöhung der Getreidezölle, sie alle ver­sicherten um die Wette eins: nicht im Interesse einer beſtimmten Partei und eines kleinen Gesellschaftsklüngels würden sie den gesetz­geberischen Einfluß aufwenden, vielmehr einzig und allein zum Wohle der Allgemeinheit und zur Förderung einer höheren Kultur­entwicklung.

Müßte die thatsächliche Verwirklichung so lieblich tönender Versprechungen nicht auch den Proletarierinnen frommen? Man sollte es meinen! Mag ihnen die heutige Gesellschaftsordnung noch so gebieterisch, erbarmungslos eine Pariaſtellung anweisen: Glieder der Allgemeinheit sind sie ja doch; hervorragend nügliche Glieder der Allgemeinheit, die durch ihr Schaffen und Mühen das Fundament des Gesellschaftsbaues legen helfen und durch die Vor­gänge innerhalb der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden. Und heißt es nicht den Kulturfortschritt machtvoll fördern, wenn den Proletarierinnen, ihnen, den zwiefach Bebürdeten und zwiefach Rechtlosen, der Aufstieg zu einer höheren Stufe der Entwicklung der Persönlichkeit ermöglicht wird durch zeitgemäße Reformen, welche die Geschlechtssklaverei des weiblichen Geschlechts und die Klassensklaverei der besiglosen Masse mindern?

Aber freilich als Frauen sind es die Proletarierinnen ge­wöhnt, daß die bürgerlichen Politiker sie der Allgemeinheit zuzählen, wenn es sich darum handelt, Lasten aufzubürden; daß dagegen die nämlichen Herren sie aus der Allgemeinheit ausscheiden, wenn es gilt, Rechte zu verleihen und Reformen festzulegen. Und als Be­sizlose, Ausgebeutete wissen sie längst, daß die stürmische Liebe der bürgerlichen Welt für eine höhere Kulturentwicklung vor der Rück­sicht auf die kapitalistische Ausbeutungsfreiheit und die Machtstellung des Geldsacks Kehrt macht und in ein Häufchen Heuchelei zusammen­bricht. Nicht nach den wohlgedrechselten Phrasen der bürgerlichen Hinz und Kunz bemessen deshalb die proletarischen Frauen ihre Aussichten auf Reformen, die im Interesse des weiblichen Geschlechts und im Interesse der Arbeiterklasse liegen. Vielmehr nach der Stärke und dem Machtverhältniß der verschiedenen politischen Parteien, welche die verschiedenen Schichten der Gesellschaft und ihre Interessen vertreten.

gewalten geeinten großen Schlot- und Krautjunker zurückgeworfen worden ist. Denn bedeutsamer als die paar verlorenen Mandate dieses bösartigsten politischen Ausbeuterklüngels ist die erdrückende Zahl der Stimmen, die auf die Kandidaten seiner Gegner entfallen ist, vor Allem aber auf die Kandidaten seiner entschiedensten Gegnerin, der Sozialdemokratie. Das Sinnen und Trachten des Kartells nach ungeheuerlicher Mehrbelastung und Entrechtung der Massen kann sich also nicht einmal mehr mit dem Schein decken, der Ausdruck einer starken nationalen Strömung zu sein.

Aber dürfte demnach auch der schlimmsten Rückwärtserei ge­wehrt sein, so ist doch auch bei dem Stärkeverhältniß der Parteien ein entschiedenes Vorwärts ausgeschlossen. Das Zentrum ist Trumpf im Reichstag, ist die ausschlaggebende, die regierende Partei. Das besagt genug. Bereits im letzten Reichstage hat das Zentrum als Regierungspartei bewiesen, welches Maßes von Verrath an Volts­interessen es fähig ist, mit welcher Nichtachtung, ja Gegnerschaft es den dringendsten Zeitforderungen zum Schuße der Arbeiterklasse gegenüber steht. Was es in diesen beiden Richtungen vor den Wahlen begonnen, unmittelbar vor der Generalabrechnung mit den Massen, das wird es voraussichtlich nach den Wahlen vollenden, wo mit den Mandaten seine äußere Machtstellung für fünf Jahre gesichert ist. Und das Zentrum wäre nicht Zentrum, wenn es diese seine Machtstellung nicht außerdem nüßen würde, um seiner tödt­lichen Feindschaft gegen die kritische Vernunft, die freie Forschung die Zügel schießen zu lassen; um nach Knebelung der Freiheit der Wissenschaft und Kunst zu trachten und jeden Kulturfortschritt zu hemmen, der die Entwicklung der Persönlichkeit und der Gesell­schaft über die Ideale der katholischen Kirche   hinaushebt. Die Vorkämpfer eines entschiedenen, politischen und sozialen Vorwärts­schreitens werden deshalb voraussichtlich in den nächsten Jahren vollauf zu thun haben, die auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens sich breitmachenden reaktionären Gelüfte abzuwehren. Ange­sichts der Schwäche und Feigheit des liberalen Bürgerthums und der Halbheit und Lauheit der demokratischen Parteien dürften Vor­ſtöße für eine energische fortschrittliche Aktion der Reichsgesetzgebung kaum auf Erfolg rechnen.

Es versteht sich am Rande, daß diese Situation so ungünstig wie möglich ist für die Erzielung der einschneidenden Reformen, welche für die Proletarierin die Ketten der Geschlechtssklaverei und die Ketten der Klassensklaverei zu leichtern vermöchten. Zehn gegen eins ist zu wetten, daß der neue Reichstag den nämlichen Faden, nur eine andere Nummer spinnen wird, wie sein Vorgänger, be= treffs all der Forderungen, die im Interesse der Proletarierin als Frau und Angehörige der Arbeiterklasse in brennender Dringlichkeit herauswachsen aus der revolutionirten Thätigkeit und Stellung des