als Besizlose durchgreifende Reformen erstreben. Reformen nicht zum Zwecke eines faulen Friedens mit der bürgerlichen Klassenund Geschlechtsherrschaft, vielmehr behufs eines schärferen und energischeren Kampfes für die höhere Stultur der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Dringende Aufgaben.
Die Wahlschlacht ist geschlagen. Wir dürfen mit ihrem Ergebniß zufrieden sein, wenn es auch nicht alle ausschweifendsten Hoffnungen erfüllt hat.
Wie konnte es zu solchen übertriebenen Erwartungen kommen? Oder vielmehr, wie kommt es, daß die Wirklichkeit hinter ihnen zurückblieb? Wir sind stolz darauf, die Partei der Selbstprüfung und Selbstbesonnenheit zu sein. Es ist deshalb eine selbstverständliche Pflicht, die Wahlen unter dem Gesichtspunkt fühlkritischer Erwägung an uns vorüberziehen zu lassen.
Da dürfen wir denn ruhig sagen, daß neben dem Mehr an Stimmen, das uns von selbst aus der natürlichen Bevölkerungszunahme erwächst, es vor allen Dingen die siegende Kraft unserer Sache ist, die allüberall den Boden für uns bereitet und an bestrittenen Punkten die ganze Macht unserer Ideen entfaltet.
Aus welchen Lagern aber haben wir Anhänger gewonnen, und wie weit sind wir in seither noch unzugängliches Gebiet eingedrungen? Daß wir Gefolgsleute aus den uns politisch am nächsten stehenden Kreisen an uns gezogen haben, ist nur natürlich. Für ganze Schichten geht der Weg zur Sozialdemokratie durch den bürgerlichen Liberalismus und Radikalismus. Daß aber unsere Erfolge so vorwiegend auf Kosten der liberalen Parteien errungen wurden, und daß es diesen nicht gelang, sich aus eigener innerer Kraft durch Zuzug von rechts für diese Verluste schadlos zu halten, das giebt zu schweren Bedenken Anlaß. Und das macht deutlicher wie je, daß heute„ ein Hüben, ein Drüben nur gilt!"
Wenn dem aber so ist, wenn der Untergang, die völlige Zerreibung der liberalen Parteien in ihrer jetzigen Gestalt nur noch als eine Frage der Zeit erscheint, dann ist es geboten, jetzt schon die wichtigsten nunmehrigen Gegner ins Auge zu fassen.
Es sind ihrer zwei, sie heißen: Agrarierthum und Zentrum. Wir haben auch hinsichtlich des Kampfes gegen sie keinen Anlaß, unzufrieden zu sein. Wir haben in manchen agrarischen Bezirk Bresche gelegt, und in Oberschlesien haben wir gegen das Zentrum Wahlerfolge zu verzeichnen, die ans Fabelhafte grenzen. Immerhin: Wie ist es möglich, daß die Reaktion die Herrschaft noch in Gebieten behaupten kann, die naturnothwendig heute schon in unserem Besitz sein müßten? Die Antwort ist die alte: Hier fehlt die Landagitation! Die ununterbrochene, unermüdliche Aufklärung in wirthschaftlicher und politischer Beziehung. Jene Arbeit, die immer und immer wieder neu einsetzt, von immer neuen Seiten zu gewinnen und zu überzeugen sucht. Hier fehlt es an Leuten, die diese Arbeit zu leisten im Stande sind. Von und für Industriearbeiter, das ist noch viel zu ausschließlich das Kennzeichnende unserer Bewegung. Will sie nicht verflachen, will sie vor allen Dingen im bisherigen Tempo voranschreiten, dann muß sie umgestaltet werden in eine Bewegung von und für alle Arbeitenden, dann muß sie intensiver als bisher den Landarbeiter und kleinen Bauer in den Kreis ihrer Agitation einbeziehen.
Der Breslauer Parteitag hat den Ausbau des Agrarprogramms in nebelhafte Fernen gerückt:* Der Ausgang der heurigen Wahlen legt die Verpflichtung auf, das Halbvergessene hervorzuholen und
* Sehr im Gegensatz zu unserer geschätzten Mitarbeiterin sind wir der Ansicht, daß die Wahlergebnisse in Bayern und in Ostpreußen beweiskräftig dargethan haben, wie richtig der Breslauer Parteitag handelte, als er die vorgelegten utopistisch- kleinbürgerlichen Agrarforderungen verwarf. Ob die Formulirung eines revolutionären Bauernprogramms zum Zwecke der Gewinnung des kleinen Grundbesitzes möglich ist, ist eine andere Frage, deren Beantwortung die Sozialdemokratie vielleicht eines Tages näher treten muß. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß wir einstweilen auf die Agitation unter den Kleinbauern verzichten sollen. Im Gegentheil, der Ausfall der Wahlen in Württemberg und anderwärts zeigt, daß diese Agitation auch ohne Agrarprogramm möglich ist und erfolgreich sein fann. Die Sozialdemokratie vertritt eben die Interessen des Kleinbauern als Staatsbürger wirksamer und ehrlicher, wie jede andere Partei. Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, dem Kleinbauern nahe zu kommen, sein Interesse zu gewinnen und ihn zum Verständniß des Sozialismus zu erziehen. Das Schwergewicht unserer Landagitation ist aber jedenfalls auf die Aufklärung und Organisation des ländlichen Proletariats zu legen. Das Landproletariat aber gewinnen wir durch Vertretung seiner Klasseninteressen auf Grund eines revolutionären Programms, das auf dem Boden des Klassenkampfes steht. Die Redaktion der„ Gleichheit".
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zweckentsprechend auszugestalten, wie auch die, die zu propagandistischer Thätigkeit auf diesem Gebiet geeigneten Leute unter allen Umständen zu finden oder zu erziehen.
Ist der Kampf gegen das reaktionäre Agrarierthum nothwendig, so ist auch ein anderer Vorstoß geradezu unerläßlich. Das Zentrum ist ( mit 104 Mandaten) verstärkt aus den Wahlen hervorgegangen. Es ist die einzige Partei, die im ersten Wahlgange 86 Size glatt ge= nommen hat. Dies selbe Zentrum, das im Lauf einer Legislaturperiode einen Verrath nach dem anderen begeht, dessen Grundsatz es ist, keine Grundsätze zu haben!
Wie kommt das? Erklärt sich dieser Erfolg aus der Fähigkeit des Zentrums, aktuell zu sein, sich auch in sozialen Dingen der Zeitströmung anzupassen? Da werden Gesellen- und Lehrlingsvereine gegründet, da giebt es Heime und materielle Zuwendungen, Klosterschulen, Krippen, Ziehkinderanstalten und was dergleichen mehr ist. Da werden in vielen tausend Exemplaren kleine Schriften verbreitet, in denen zu lesen steht, was das Zentrum für den Bauer", für den ,, Arbeiter" gethan hat.
Wichtig indeß, wie diese agitatorischen Hilfsmittel sind, für sich allein wären sie nicht ausreichend, die heutige Machtstellung des Zentrums zu erklären. Es kommt ein Anderes hinzu. In den meisten ländlichen Gebieten ist das Zentrum identisch mit der Kirche. Der Geistliche ist dort der gegebene Freiwerber des Zentrums, und wer bedenkt, wie sehr es die katholische Kirche versteht, das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft von der Wiege bis zum Grabe in ein Netz religiöser Beziehungen einzuhüllen, der weiß, was das be= deutet. Die Anekdote der Wahlnummer des Simplicissimus: Der Pater auf der Kanzel:„ Beeinflussen will ich euch nicht, aber wer den Bauernbündler wählt, kommt um die ewige Seligkeit!" enthält einen bitteren Kern, aber sie zeigt uns auch den Weg, den wir zu gehen haben.
Die Verquickung von Religion und Politik, die Umwandlung des sozialen: Du sollst! in ein firchliches: Du mußt! die Rückständigkeit und das Dunkel, das sind die Bundesgenossen des Zentrums.
Wie soll man dagegen ankämpfen? Wie die Aufklärung in die Reihen Jener tragen, für die der Pater nicht nur der Stellvertreter Gottes, sondern zugleich die höchste Autorität in politischen und wirthschaftlichen Fragen ist? In öffentlichen Versammlungen dem entgegenzutreten ist allein nicht hinreichend. An die Quellen der Zentrumsmacht, an Schule, Beichtstuhl und Kanzel, kann man nicht heran. Da bleibt nur Eines übrig: Den Zentrumshelden auf Schritt und Tritt in ihrer öffentlichen, insonderheit ihrer parlamentarischen Wirksamkeit nachzugehen, festzunageln, wann und zu welchem Ende immer sie einen ihrer beliebten Kuhhändel inszeniren, und solche Thatsachen, handlich zusammengestellt und genügend erläutert, in das katholische Land hinausgelangen zu lassen. Und unermüdlich und immer und immer wieder muß sich daran die Aufklärung von Mann zu Mann reihen, die Aufklärung darüber, daß die Religion mit dem Wirthschaftsleben nichts zu thun hat und der Stimmzettel nichts mit der ewigen Seligkeit. Im Namen der wahren Religion, die Privatsache, die eigenste Sache eines Jeden ist und sein muß, Kampf gegen den Religionsschacher!
Eine wichtigste Aufgabe in diesem Kampfe ist der Frau vor behalten. An sie, besonders aber an die zielbewußten Genossinnen ergeht deshalb die Aufforderung, auf dem Posten zu sein. Die Frau ist im Allgemeinen konservativ. Von tausend Kleinlichen Rücksichten weltlicher und kirchlicher Art erfüllt, von beschränktem Familienegoismus und der Angst um die soziale und wirthschaftliche Position des Mannes verblendet, hemmt sie leicht die Entwicklung und Kampfesthätigkeit des Mannes und wird zur mächtigsten Stütze der Reaktion. Hier also gilt es anzusetzen. Gelingt es, die Frauen in den bisherigen Bezirken der Zentrumsherrschaft zu gewinnen, sie von der Haltlosigfeit ihrer heutigen Anschauungsweise zu überzeugen und das Licht der Aufklärung in politischen und wirthschaftlichen Dingen unter fie zu tragen, dann ist es vorbei mit der Macht der Dunkelmänner und die Religion ist die private Sache eines Jeden.
Und dann wird die Sozialdemokratie, geboren aus der wirthschaftlichen Nothwendigkeit und aufgeblüht im Lichte der Aufklärung und Wissenschaftlichkeit, siegreich sein im Kampfe gegen jene Mächte, deren Lebensodem das Dunkel und die Rückständigkeit sind. H. F.
Anna Kulischoff.
Fast zur selben Zeit, wo das deutsche Proletariat auf dem Felde des Wahlkampfes seinem Feinde, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, eine entscheidende Schlacht lieferte, ihn mit einem Kugelregen von mehr als zwei Millionen sozialdemokratischer Stimmzettel überschüttete, da fügte sich in der Geschichte des italienischen Prole